DIE FURCHE · 496 International/Politik5. Dezember 2024Das Gespräch führte Wolfgang MachreichIn seinem neu bezogenen Büro steckennoch die Nägel für die abgenommenenBilder seiner Vorgängerin, GabrieleKucsko-Stadlmayer. In denkommenden neun Jahren wird AndrásJakab aber genug Zeit und Gelegenheitenfinden, seine eigenen Nägel in den EuropäischenGerichtshof für Menschenrechte(EGMR) einzuschlagen. Dass dies „bei kulturellpolarisierenden Fragen“ mit Maß geschehensoll, betont er im FURCHE-Gespräch.Das Gericht als Raumschiff?Der Kritik am Menschenrechtsgerichtshof, abgehoben von gesellschaftlichenRealitäten zu agieren, widerspricht András Jakab:Der EGMR würde immer auch den sozialen Kontext einbeziehen.DIE FURCHE: Herr Professor Jakab, in einemintensiven Auswahlverfahren (siehe Kasten)wurden Sie zum neuen österreichischenRichter am EGMR bestellt. Die EUhat hierzulande einen äußerst schlechtenRuf. Was aus Brüssel an Gesetzen kommt,wird oft als von außen aufoktroyiert dargestellt.Sehen Sie diese Tendenz auch beimEGMR, dass bei kontroversen Entscheidungender schwarze Peter von den Mitgliedsstaatennach Straßburg geschoben wird?András Jakab: Der EGMR hat einerseitsdie Aufgabe, die Grundrechte der EuropäischenMenschenrechtskonvention aufrechtzuerhalten.Andererseits lebt diesesSystem aber von der Unterstützung derMitgliedstaaten, deshalb ist er in der Auslegungdieser Grundrechte oft ein Stück zurückhaltenderals nationale Verfassungsgerichte.Der Europarat, dessen Organ derEGMR ist, verfügt im Unterschied zur EUauch über weniger Möglichkeiten, Urteiledurchzusetzen. Die EU kann etwa mit finanziellenMaßnahmen mehr Zähne zeigen.Das erlebten wir zum Beispiel bei denVerfahren zur richterlichen Unabhängigkeitin Polen. Da hat der EGMR auf seineWeise entschieden, bekam dann aber auchUnterstützung, also zusätzlichen juristischenBiss in Kombination mit möglichenfinanziellen Sanktionen von der EU. Die EUwiederum hat sich gewissermaßen selbstdurch die Grundrechtecharta dazu verpflichtet,große Teile der Rechtsprechungdes EGMR als EU-Recht durchzusetzen.DIE FURCHE: Weil die Union und der europäischeEinigungsprozess darauf aufbauen?Jakab: Genau, nicht umsonst hat PapstFranziskus den EGMR „das Gewissen Europas“genannt.DIE FURCHE: Im Beitrittsprozess der EU zurEuropäischen Menschenrechtskonventionwird es noch dauern, bis der Vertrag finalisiertund von den EU-Mitgliedsstaaten ratifiziertist. Was wird sich substanziell ändern,wenn auch die Union der Menschenrechtskonventionbeigetreten ist?KLARTEXTFalsches Geld für die WeltElon Musk, einer der erfolgreichsten Unternehmerdes Globus, scheint seit demErwerb der Internet-Plattform Twitter (X)an Bodenhaftung verloren zu haben. Seine geradezude-Muskierend peinliche Anbetung deskünftigen US-Präsidenten machte das zuletztnur allzu deutlich sichtbar.Die polternde Ansage, in dessen Regierungsteamgegen eine überbordende Bürokratie zukämpfen, mag zwar auf den ersten Blick noch einengewissen politischen Sinn ergeben. Sie basiertjedoch auf einer illiberalen Grundhaltung,die er mit anderen Silicon-Valley-Helden wie PeterThiel, dem Mitgründer von PayPal, teilt.Mit der uneingeschränkten Unterstützungvon Trumps Propaganda für Bitcoin und anderePseudo-Geld-Konstrukte biegt Musk erstrecht in die falsche Richtung ab. Es ist nämlichschlicht verantwortungslos, künstlicheGeld-Surrogate als wert-haltige „Währungen“hochzujubeln, nur um mit dem erzeugten Propaganda-Windfür diese Luft-Nummern unermesslichhohe windfall profits einzustreifen.Foto:dpa/Rolf HaidAngesichts der Erosion von Rechtsstaatlichkeit und Demokratierechnet András Jakab, Österreichs Richter in Straßburg, mitschwierigen Zeiten für den Menschenrechtsgerichtshof.„Schutzliniefür liberaleDemokratie“Bedauerlicherweise gebendie über den Finanzmarktwachenden Regulatorenlängst jeden merklichenWiderstand gegenFake-Währungen auf. Trump drängt nun sogardarauf, Gelder der US-Notenbank in Bitcoinzu investieren. In Verbindung mit spekulativenDerivaten und den exponenziell wachsenden,nicht-regulierten „Schattenbanken“ nehmendamit die Risiken im Finanzsystemmassiv zu.Wenn jedoch Volkswirtschaften nicht mehrvon realwirtschaftlicher Wertschöpfung unddarauf basierenden Erwartungen leben, sondernvon den Ausschlägen spekulativer Geld-Surrogate, kann das auf Dauer nicht gut gehen.Noch weniger dann, wenn die Zaubermeisterdieser Täuschungen zu viel politische Einflussmachtbekommen, wie sich das gerade in denUSA abzeichnet.Der Autor ist Ökonom und Publizist.Von Wilfried StadlerJakab: Ich rechne mit keinen radikalenÄnderungen, weil die potenzielle Konventionswidrigkeitder EU-Rechtsakte wegender schon erwähnten Selbstverpflichtungin der Grundrechtecharta größtenteilsauch schon jetzt geprüft wird. Der Unterschiedwäre, dass in der Zukunft nicht nurder Gerichtshof der Europäischen Union,sondern zusätzlich auch der EGMR diesePrüfung durchführen könnte.DIE FURCHE: Letztlich hängt es an der Bereitschaftder Mitgliedstaaten, die Urteile umzusetzen.Diese Bereitschaft nimmt in einigenMitgliedsstaaten aufgrund autoritärerTendenzen ab. Wie sehr gerät das europäischeGewissen unter Druck?Jakab: Der Europarat bleibt seit seiner Gründungnach dem Zweiten Weltkrieg in ersterLinie ein Friedensprojekt. Er beruht auf derEinsicht, dass Frieden in Europa mit liberalenDemokratien wesentlich wahrscheinlicherist. Eine liberale Demokratie wiederumbraucht Menschenrechtsschutz. Wennalso die Mitgliedstaaten den Menschenrechtsschutzvoneinander gegenseitig erwartenund einfordern, dann ist dies letztlichauch eine Garantie des gemeinsamenFriedens. Dieses Verständnis ist meines Erachtensauch weiterhin präsent. Deswegenakzeptieren die Mitgliedstaaten auch, wennvom EGMR eine Konventionsverletzung festgestelltwird und sie verurteilt werden. Natürlichgibt es immer wieder Urteile, die beieinigen Mitgliedstaaten auf keine großeFreude stoßen. Der Gerichtshof bemüht sichauch, zu erklären, warum er so und so entscheidet.Zudem nimmt der EGMR im Sinneder Subsidiarität auf gewisse kulturelle,rechtliche oder politische Sensibilitäten derMitgliedsstaaten Rücksicht und räumt denVertragsstaaten eine sogenannte margin ofappreciation ein.DIE FURCHE: Auf Deutsch gesagt, geht damitein gewisser Wertungs- oder Gestaltungsspielraumeinher. Was wären Beispiele dafür?Jakab: Nehmen wir das Burka-Verbot. Einganz schwieriger Fall, es gibt starke Argumentedafür und dagegen. Letztlich entschiedder Gerichtshof, dass ein solches Verbotnicht konventionswidrig ist, weil dieEinräumung dieses Spielraums für die Mitgliedstaatenim Kontext der spezifischendemokratischen Kultur einiger Länder angemessenist. Oder ein anderer Fall: Vor einigenJahren hat der österreichische Verfassungsgerichtshofdie Anerkennung desdritten Geschlechts als grundrechtlich gebotenanerkannt. Ein paar Jahre später wurdeein ähnlicher Fall aus Frankreich an denEGMR herangetragen. Dieser entschied, indieser Frage gibt es keinen europäischenKonsens. Einige Länder legen das so, andereanders aus, ohne dass dadurch aber dieMenschenrechtskonvention verletzt wäre.DIE FURCHE: Wo zieht der Gerichtshof dieTrennlinie, was unter diese Marge fällt?Jakab: Erstens gibt es absolute Grundrechtewie das Folterverbot, die nicht eingeschränktwerden können. Zweitens ist derGerichtshof die letzte Schutzlinie der liberalenDemokratie, wenn nationaler Grundrechtsschutznicht oder nicht mehr gut funktioniert.So sollen zum Beispiel klassische„ So wie die Rechtsstaatlichkeit Hüterin derDemokratie ist, so ist die Demokratie Hüterinder Rechtsstaatlichkeit.“
DIE FURCHE · 495. Dezember 2024International/Politik7politische Freiheitsrechte wie die Pressefreiheitoder die Versammlungsfreiheitbesonders wachsam geschützt werden, dadiese gezielt die Maschinerie der demokratischenRotation und damit die Selbstkorrekturfähigkeitder liberalen Demokratiegarantieren.DIE FURCHE: Nichtsdestotrotz lösen Urteiledes EGMR immer wieder Jubel und Empörunggleichermaßen aus. Denken wir anUrteile bei Asylfragen gerade im Zusammenhangmit Abschiebungen oder das Klimaurteilim vergangenen Sommer, als derGerichtshof Klimaschutz als durchsetzbaresMenschenrecht festlegte. Als ich vorhinins Gerichtsgebäude hineingegangenbin, hat mich die Architektur an ein Raumschiffdenken lassen. Was antworten Sie denen,die den EGMR als abgehoben ansehen?Jakab: Das ist auch ein Grund dafür, warumdieses Interview stattfindet, damit wirRichterinnen und Richter dem Gerichtshofein Gesicht geben und den Eindruck widerlegen,wir seien abgehoben. Die genanntemargin of appreciation, aber auch die Doktrindes europäischen Konsenses sind ja Ausdruckdavon, dass sich unsere Arbeit nichtbloß auf begriffliche und rechtsdogmatischeAnalysen beschränkt, sondern immerauch den sozialen Kontext einbezieht.DIE FURCHE: Auf den sozialen Kontext beruftsich auch ein Politiker wie der FPÖ-ChefHerbert Kickl, wenn er fordert, das Rechthabe der Politik zu folgen und nicht umgekehrt.Der EGMR und die Europäische Menschenrechtskonventionwaren auch Ausdruckdes politischen Willens nach derKatastrophe des Zweiten Weltkriegs. Was,wenn dieser politische Wille im Gefolge vonParteien mit populistischen und autoritärenAnsichten jetzt ein anderer wird?Jakab: So wie die Rechtsstaatlichkeit eineHüterin der Demokratie ist, so ist auch dieDemokratie eine Hüterin der Rechtsstaatlichkeit.Eine moderne Verfassungsstaatlichkeitbraucht beides. Die zwei funktionierennur zusammen und sie florierennur zusammen. Wenn eine Seite untergeht,wird auch die andere hinuntergezogen. Diegrößte Gefahr, vor der wir heute stehen, istdie langsame, stückchenweise Erosion vonRechtsstaatlichkeit und Demokratie. Wirsehen das leider in vielen Ländern in derWelt und in einigen Mitgliedstaaten desEuroparates. Das lässt sich ganz eindeutigmessen, das belegen die Indexe für Rechtsstaatlichkeitund Demokratie. Und das istdie Wirklichkeit, mit der dieser Gerichtshofarbeiten muss. Der EGMR muss dieGrundwerte, für die der Gerichtshof steht,schützen – aber er muss das vorsichtig undmit Maß tun, im Bewusstsein der Tatsache,dass schwierige Zeiten vor uns stehen.András Jakab, nach universitären Stationen inHeidelberg, Nottingham, Liverpool, Madrid,Salzburg jetzt in Straßburg.Foto: Wolgang MachreichDIE FURCHE: Nicht nur in Europa – da genügtschon ein Blick in die USA, um sichvorstellen zu können, dass auch dort gewisseVerwerfungen drohen.Jakab: In den Zeiten der Erosion muss maneinerseits auf die grundsätzlichen strukturellenGarantien der Verfassungsstaatlichkeitfokussieren und andererseitsdas bisherige Schutzniveau wahren. Eineweitere Erhöhung des jetzigen Schutzniveaus,insbesondere bei kulturell polarisierendenFragen, kann aber gefährlichsein, da so gegen die Institutionen der liberalenDemokratie mobilisiert werdenkann. Da die Erosion teilweise auch durchdie Polarisierung getrieben wird, ist eswichtig, so weit wie möglich die Polarisierunghintanzuhalten. In so einem sozialenKontext müssen Urteile besondersgut erklärt und argumentiert werden.Die sorgfältige Anwendung der Verhältnismäßigkeitsprüfung,die Entscheidun-MENSCHENRECHTSGERICHTSHOFgen sowohl transparenter als auch antipolarisierendermachen kann, ist dabeiein Schlüssel.DIE FURCHE: Ein Schlüssel gegen Polarisierungwäre dringend nötig. Was gibt IhnenMut und Zuversicht, dass er aber sperrt?Jakab: Die Zukunft ist immer offen. Dasgibt einerseits Hoffnung, andererseitswird damit natürlich auch die Verantwortunggrößer, ob man wirklich die richtigenEntscheidungen zum richtigen Zeitpunkttrifft. Das kann man aber oft erst im Nachhineinfeststellen, was die Aufgabe nichtleichter macht.DIE FURCHE: Sie spüren die Last der Verantwortung,die mit Ihrem Amt einhergeht?Jakab: Oh ja. Die spürt hier jede und jeder.Letztlich geht es doch immerhin darum,was für ein Europa wir unseren Kindernübergeben möchten.Ein Ungar für Österreich in Straßburg„70 Jahre Menschenrechtsgerichtshof:ÜbernationaleUrteilskraft“schrieb am30. April 2024VfGH-PräsidentChristophGrabenwarterund mahnteReformen ein;nachzulesenunter furche.at.Österreich hat mit Magnus Brunner heuer nicht nur einen neuen EU-Kommissar auf die europäischeEbene entsandt: Mit András Jakab wurde auch Österreichs neuer Richter am EuropäischenGerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bestellt. Dem Ruf nach Straßburg ging einemehrstufige Auswahl voraus: Nach einer nationalen Ausscheidung schickte Österreich einenDreiervorschlag an den EGMR, wo sich die Kandidaten Hearings vor einem juristischen Expertenpanelund dem Richterausschuss der Parlamentarischen Versammlung stellten; als letzteHürde musste die Mehrheit der Parlamentarischen Versammlung der Ernennung zustimmen.Jakab erhielt bereits in der ersten Abstimmungsrunde eine deutliche Mehrheit, seit 1. Novemberist er für neun Jahre Richter am EGMR, Wiederwahl ausgeschlossen.Vor seiner Bestellung war Jakab Professor für Verfassungs- und Verwaltungsrecht an derUni Salzburg. Kleinstaaten wie Liechtenstein machten bisher vom Recht Gebrauch, keinenStaatsbürger als EGMR-Richter zu entsenden. Mit dem Ungarn Jakab nimmt auch Österreichdieses Recht in Anspruch. „Es ist tatsächlich unüblich“, sagt Jakab im FURCHE-Gespräch,„dass ein Richter nicht die Staatsbürgerschaft des Staates hat, umso größer die Ehre.“ (wm)Bezahlte AnzeigeFür ein Leben ohneAngst! Wir helfendir bei Gewalt.Ruf uns an!24h-Frauennotruf: 01/71 71 9Notruf Wiener Frauenhäuser: 057 722Polizei: 133wien.gv.at/gewaltschutz
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