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DIE FURCHE 05.12.2024

DIE FURCHE · 494 Das

DIE FURCHE · 494 Das Thema der Woche Jahrhundert Dichterin5. Dezember 2024HermesBabyOhne dieseSchreibmaschinewar MayröckersSchreiben nicht zudenken. Die Autorinhatte sich aucheinen Vorrat davonangelegt.Am 20.12.1979erschien FriederikeMayröckersText „Deinzendorf“in derFURCHE. Zulesen auffurche.atVon Brigitte Schwens-HarrantHerr Einbrecher, bittezerstören Sie nicht meineSchreib-Werkstatt. Bin Dichterinund habe nur meine eigenenBücher und NOTIZEN„Lieberfür neue Werke – danke“. Friederike MayröckersNachricht an potenzielle Eindringlingezeigt ihre Selbstironie ebenso wiedie mit Kreide beschriebene Tafel: „hierALLES TABU“.Was hier alles tabu war, das war das legendäreZetteluniversum. Die Fotos, dieMayröcker an ihrem Schreibtisch inmittenvon hunderten Materialien zeigen, sindlängst ikonisch und aus der österreichischenLiteraturgeschichte nicht mehr wegzudenken.Als wäre die Arbeitsweise derSchriftstellerin, in deren Texten Korrespondenzenund andere Literaturen zusammenlaufen,Bild geworden.Wie Archäologen, erzählt Bernhard Fetz,Leiter des Literaturmuseums der ÖsterreichischenNationalbibliothek, hätten die ArchivareSchicht um Schicht den Inhalt der Mayröcker’schenRäume abgetragen, teils schon zuihren Lebzeiten. 450 Umzugskartons mit Notizen,Briefen und Fotos stehen nun im Archivund werden gesichtet bzw. warten darauf,während sich ein Teil des Vorlasses ohnehinbereits in der Wien-Bibliothek befand.„Kindheit’s Traum“: Filzstiftzeichnung von Friederike Mayröcker vom17. Februar 1994.Foto: © Österreichische NationalbibliothekIhre Zettelberge sind legendär, die konkreten Schätzeweniger bekannt. Einblicke in Friederike Mayröckers Lebenund Werk bietet das Literaturmuseum in Wien.„Und meinSchreiben istja auch einWahnwitz“Für die Ausstellung, die das Literaturmuseumanlässlich des 100. Geburtstags der2021 verstorbenen Dichterin gestaltet hat,hat man – glücklicherweise – keine Zettelbergeaufgetürmt und ihr Arbeitszimmer„nachgestellt“, sondern man präsentiert inhohen Holzregalen ausgewählte Texte undDinge. Thematisch beginntes – wie könntees anders sein, Mayröckerhat die Bedeutungin dem netten Bild „ichknattere zur Maschine“festgehalten – zunächstmit Schreibmaschinen,denn auch„ Als Augen menschverstand sichFriederike Mayröcker.Davon zeugennicht nur die vielenZeichnungen, diesich im Nachlassfanden ... “Mayröckers HermesBabys sind legendär.Und dann mit dem niederösterreichischenOrt Deinzendorf, wosie in der Natur wunderbare Kindheitstageverbracht hat, auf die sie 1979 in einemText in der FURCHE mit einem „Gefühl derheiteren Geborgenheit, der liebevollen Abgeschiedenheit“zurückblickte. Fotoalbenund Briefe erinnern an das Paradies ihrerKindheit, das sie zeitlebens prägte, unddem später eine Jugend in Zeiten des Kriegesfolgte.Friederike Mayröcker hat sich immer alsunpolitisch bezeichnet, meint BernhardFetz, doch wenn man das Politische weiterfasse,dann sei sie gar nicht so unpolitisch,weil sie FormenFoto: © Claudia Larcherdes Zusammenlebensexperimentell, in ihrenFigurenkonstellationendurchspiele, die die konventionellebürgerlicheGesellschaft teilweiseauch in Frage stellen.Als selbstbestimmteAutorin ist Mayröcker ihrenWeg gegangen. Sieheiratete nicht, wohntenicht zusammen mit ihremLebensmenschen,dem Dichter und PerformancekünstlerErnst Jandl, sondern allein – und sie machteauch in Bezug auf ihre Literatur keineZugeständnisse an von wem auch immergeforderte Geschmäcker. Sie ging ihrenganz eigenen literarischen Weg bis ins hoheAlter, feierte als über 70-Jährige großeErfolge und begeisterte mit über Neunzigein auffallend junges Publikum. Siewar und blieb wach und neugierig. Einensolchen Lebensweg musste sich eine 1924geborene Frau erst erkämpfen und diesendann auch durchhalten.Der enorme briefliche Austausch mit anderenKünstlerinnen und Künstlern, mitFreunden und Bekannten wird exemplarischsichtbar, vieles floss in ihre Literaturein, verfremdet, als Fragmente. Zu sehensind auch Bücher von Jacques Derrida, dieihr Schreiben ebenfalls prägten. Es gingihr um den Schriftsteller, um seine Sätzeund Bilder. Sie „reagierte auf diese Sätzeund Bilder mit eigenen Sätzen und eigenenBildern“, so Bernhard Fetz.AugenmenschAls Augenmensch verstand sich FriederikeMayröcker. Davon zeugen nicht nurdie vielen Zeichnungen, die sich im Nachlassfanden und die teils noch aus der frühenKindheit stammen. Sie erinnern andas Kind, das in Erwachsenen noch tätigist. Drei ihrer „Schutzgeister“ kann mansich als Karten mitnehmen. Der Einflussvon bildender Kunst ist aber auch in ihremliterarischen Werk unübersehbar. „Wiewürden Sie malen?“, wurde sie einmal gefragt.Sie antwortete: „Wie Francis Bacon.Er hat zwar keine starken Farben verwendet,aber Wahnwitziges gemacht. Und meinSchreiben ist ja auch ein Wahnwitz.“Von Regal zu Regal lässt sich die Mayröcker’scheSchreibwerkstatt und ihreSprachwelt begehen, lesen und anhören,die fokussierte Auswahl von Texten undDingen tut gut. Wer dennoch eintauchenwill in das unvorstellbare Zetteluniversum,kann sich VR-Brillen aufsetzen. DieFoto- und Medienkünstlerin Claudia Larcherhat mit Mayröckers Zustimmung derenRäume dokumentiert, bevor die Materialienins Archiv transportiert wurden. Mitder Brille sitzt man mittendrin, in unendlichenText- und Papierwelten. Schwindelfreiheitist von Vorteil.„ich denke in langsamen Blitzen“Friederike Mayröcker. JahrhundertdichterinLiteraturmuseum der ÖsterreichischenNationalbibliothek, Johannesgasse 6, 1010 WienBis 16. Februar 2025. Di-So: 10.00–18.00 Uhr,Do: 10.00–21.00 Uhr, Montag geschlossen(Im Zsolnay Verlag erschien unter diesem Titelein ausführlicher Begleitband.)Veranstaltungen:Goldberg und Mayröcker11. Dezember 2024, 19.00 Uhr, KostenfreiMit Johanna Orsini (Sprecherin), Gregor Reinberg(Violine), Martina Reiter (Viola),Marie Orsini-Rosenberg (Violoncello)Führung durch die Sonderausstellung„ich denke in langsamen Blitzen“20. Dezember 2024, 13.00 Uhr, KostenfreiNächste Wocheim Fokus:Vaterschaft verändertMänner, auch biologisch.Doch lange stand der mächtigeMuttermythos der Väter-Forschung im Weg. Auch inder Bibel steht Maria imZentrum. Welche Rolle spielteigentlich Josef? Über dasElternteil, das mehr als die„schlechtere“ Mama ist.

DIE FURCHE · 495. Dezember 2024Politik5Von Clara HolzingerSätze wie „36 Prozentwollen keine Muslimeals Nachbarn“ wurdenjüngst nach Veröffentlichungdes Rechtsextremismus-BarometersvomDokumentationsarchiv des ÖsterreichischenWiderstandes vonvielen Medien publiziert. In denEnde November dargestelltenZahlen zeigt sich, dass ein großerTeil der Befragten Abneigungengegenüber Personengruppen hat,die in der Studie anhand eineseinzigen Merkmals (wie Religionszugehörigkeit)bestimmt wurden.Die größte Ablehnung wurdegegenüber Roma und Sinti deutlich,neben denen 38 Prozent derBefragten nicht wohnen wollen –wofür es allerdings weniger medialeAufmerksamkeit gab. Kannman hier aus sozialwissenschaftlicherSicht von „Rassismus“ sprechen,der in großen Teilen der Bevölkerungverbreitet ist?In der sozialwissenschaftlichenForschung wird Rassismus nichtvorrangig als individuelles Phänomenverstanden, das charakteristischfür bestimmte Personenoder Gruppen ist, sondern alsStrukturprinzip von Gesellschaften.Es ist durchaus sinnvoll undwichtig, rassistische Einstellungenzu messen, weil vor allem inder Langzeitperspektive Veränderungenerkannt werden können.Wichtig ist aber auch, eine breiterePerspektive einzunehmen undRassismus nicht auf individuelleRessentiments zu reduzieren,sondern als System zu begreifen.Die Sozialwissenschaftlerin PhilomenaEssed prägte den Begriffdes „Alltagsrassismus“, um daraufhinzuweisen, dass Rassismusdas ganze soziale System durchdringt,Zugang zu Ressourcen reguliertund in alltägliche Routinenintegriert ist.Im Namen der EmanzipationRassismus ist also keine Ausnahmeerscheinung,genauso wenigwie Neuheit. Er lässt sichweder mit der Höhe von Zuwanderungszahlennoch mit vermeintlichfalschen Migrations- oderIntegrationspolitiken erklären.Was unterschiedliche Spielartendes Rassismus vereint, ist, dassMenschen anhand bestimmterMerkmale in scheinbar natürlicheGruppe eingeteilt werden,die als homogen dargestellt undzugleich in ein Verhältnis zur eigenenGruppe gesetzt werden. Dabeiwird heute seltener von biologischenMerkmalen, sondern ehervon Kulturen gesprochen, die einanderunvereinbar gegenüberstünden.Bereits vor über dreißigJahren analysierte der PhilosophÉtienne Balibar das, was er als„Neorassismus“ bezeichnete: Stattvon „Rasse“ spreche dieser vonKulturen, deren Vermischung infolgevon Migrationsbewegungenzwangsläufig zu vermeintlich„natürlichen“ rassistischen Reaktionenund gewaltsamen Konfliktenführen müsse. Diese Konfliktekönnten, in neorassistischerLogik, nur durch Abwehr von ökonomisch„nutzloser“ Immigrationverhindert oder gelöst werden.Dass im deutschsprachigenRaum lange wenig über Rassismusgesprochen wurde, hat verschiedeneGründe. Unter anderemwurde Rassismus auf dennationalsozialistischen Antise-Foto: iStock/monkeybusinessimagesDie jüngst vorgestellten Ergebnisse des DÖW-Rechtsextremismus-Barometers schlagen hohe Wellen.Wie tief ist Fremdenfeindlichkeit tatsächlich in der Bevölkerung verankert? Ein Gastkommentar.Über die Vorstellung,dass Muslime dasErrungene bedrohenmitismus, Rechtsextremismusoder den kolonialen Rassismusreduziert, wodurch andere Formenaus dem Blickfeld gerieten.Rassismus ist jedoch historischwandelbar. Es gibt unterschiedlicheRassismen gegenüber unterschiedlichenGruppen, die inEntstehungsgeschichte, Struktur,Ausprägung und Auswirkungenvariieren. Antisemitismusebenso wie Rassismus gegenüberSchwarzen, Muslimen oder Romaund Sinti haben in Österreich einelange und zugleich je eigeneGeschichte. Auch andere Formenexistieren, die weniger im öffentlichenBewusstsein präsent sind,wie beispielsweise Rassismus gegenüberPersonen aus Osteuropa.Antimuslimischer Rassismuswurde in Österreich vor allem inden letzten Jahrzehnten explizitpolitisch instrumentalisiert. Oftwird dabei abgestritten, dass essich um Rassismus handelt, dascheinbar eine Religion oder Kulturkritisiert wird. Abwertungenwerden hier auch im Namen liberaleroder emanzipatorischerWerte artikuliert. Der PolitikwissenschafterBenjamin Opratko erklärtdies mit wahrgenommenenUnsicherheiten in Bezug auf dieVerwirklichung von emanzipatorischen,meritokratischen und demokratischenIdealen nach 1968in Österreich. Diesen Unsicherheitenwird mit der Vorstellungbegegnet, dass Muslime das Errungenebedrohen – wobei diesesehr heterogene Gruppe als homogenwahrgenommen wird undeine überwunden geglaubte Vergangenheitrepräsentiert.Ideologien bieten ZusammenhaltAuch Rassismus gegenüber Romaund Sinti hat eine lange Geschichtein Europa, die aber nochungenügend aufgearbeitet wurde.Hunderttausende wurden imNationlsozialismus ermordet,aber lange nicht als Opfer rassistischerVerfolgung anerkannt.Nach wie vor gibt es Ressentiments,Diskriminierung und materielleBenachteiligung, die sichetwa in der EU in einer deutlichgeringeren Lebenserwartungniederschlägt. Zugleich ist essymptomatisch, dass Ressentimentsgegenüber Roma und Sinti,wie oben erwähnt, kaum eineSchlagzeile wert scheinen.Rassismus kann nicht durch Eigenschaftender jeweiligen Gruppe,die rassistische Zuschreibungenerfährt, erklärt werden. DieGruppen, die betroffen sind, könnensich verändern, aber rassistischeDiskurse bleiben oft überraschendgleich – die Angst vor dervermeintlichen Überfremdungwurde auch im Wien des 19. Jahrhundertsgegenüber Tschechenpolemisch artikuliert. Folglichmuss nach der gesellschaftlichenFunktion von Rassismus gefragtwerden. Viele Rassismustheorienbetonen die Rolle von Rassismusbei der Legitimation von strukturellensozialen Ungleichheitenin kapitalistischen Machtverhältnissen.Rassistische Logikentragen demnach zu gesellschaftlichenSpaltungen bei, rechtfertigenSegregation, Ausbeutungund Ausschlüsse. Menschen, dieRassismus erfahren, sind etwaüberproportional oft in prekären,schlechtbezahlten und oft gesund-Lesen Sie zumThema auchden Text: „Wasfür und gegen‚Weiße Fragilität’spricht“ vonMargit Ehrenhöfer(19.2.2020)auf furche.at.„ Oft wird abgestritten,dass es sich umRassismus handelt,da scheinbar eineReligion oder eineKultur kritisiert wird.“ExplosiveSymbolik?Der PhilosophÉtienne Balibarprägte den Begriff„Neorassismus“:Statt von„Rasse“ sprechedieser von Kulturen,deren Vermischunginfolgevon Migrationsbewegungenzwangsläufigzu Konfliktenführe.heitsschädlichen Arbeitsverhältnissen.Zugleich sind rassistischeIdeologien identitätsstiftend, begründenÜberlegenheitsansprücheund bieten Zusammenhalt –besonders im Kontext gesellschaftlicherVerteilungskämpfe.Die Autoren des Rechtsextremismus-Barometersstellten klar,dass ihre „Forschung nicht daraufabzielt, eine Anleitung zur genauenIdentifikation von Rechtsextremenbereitzustellen“. Siesprechen bewusst von „Einstellungen“,statt von „Personen“ oder„Weltbild“. Die Betonung diesesUnterschieds mag unwichtig erscheinen,ist aber folgenreich fürdie Dateninterpretation und dieDiskussion über politische Konsequenzen.Dasselbe gilt in Bezugauf Rassismus: Statt um die Identifikationvon Rassisten, sollte esdarum gehen, kritisch strukturelleProbleme zu benennen undRassismus als existierendes sozialesPhänomen zu thematisieren.Die Autorin forscht am Institutfür Soziologie an der UniversitätWien und ist Mitglied der Sektion„Migrations- und Rassismusforschung“der ÖsterreichischenGesellschaft für Soziologie (ÖGS).

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