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DIE FURCHE 05.12.2024

DIE FURCHE · 4918

DIE FURCHE · 4918 Literatur5. Dezember 2024Von Philipp AxmannEs ist Anfang der 1960er Jahrein San Francisco. Hippies belagerndie Uni, hunderttausendJugendliche feiern im GoldenGate Park den Sommer der Liebe,und in der Mitte steht eine zarte FrauAnfang 30 und schreibt auf, was sie sieht.Die Revolution findet statt, und Joan Didionschreibt auf, was sie sieht. Und damitsind wir schon beim wichtigsten Merkmalihres Schreibstils angekommen: Joan Didionschreibt nicht, „was ist“, sondern sieschreibt, was sie sieht. Sie selbst, die teilnehmendeBeobachterin der 68er-Bewegung,die Mitbegründerin des New Journalism,einer Textgattung die sich durcheinen radikal subjektiven Zugang zumGenre Reportage auszeichnet. Die Angstvor der Verwendung des „Ich“ in journalistischenTexten hat Didion abgelegt. Stattden eigenen Standpunkt, die eigene Perspektivezu leugnen, schreibt Didion ehrlich„Ich“. Schreiben, was ist, das alte Motto desSpiegels, hätte Didion für unehrlich gehalten.In einem Interview erklärte sie: „DieIdee von Objektivität kam mir nie real vor.“Einem Reporter kann man nur vertrauen,wenn man weiß, wo er steht. Das war DidionsZugang. Bei Didion ist alles persönlich,sogar Essays über die abstraktesten Themen.Eine Abhandlung mit dem Titel „ÜberMoralität“ beginnt so: „Wie es der Zufallwill, befinde ich mich im Death Valley, ineinem Zimmer im Enterprise Motel, und esist Juli, und es ist heiß. In der Tat hat es 119Grad Fahrenheit.“Anarchie bricht hereinDer österreichische Schriftsteller undJournalist Joseph Roth beschrieb sein eigenesliterarisches Schaffen mit dem Satz:„Ich zeichne das Gesicht der Zeit.“ Didionkönnte man als späte Erbin Roths verstehen.Sie zeichnete das Gesicht ihrer Zeit,sie schrieb, was sie sah. Und was sie sah,war: Eine Gesellschaft, die auseinanderflog.„Dinge fallen auseinander; die Mittehält nicht mehr / Anarchie bricht über dieWelt herein.“ So lauten einige Verszeilendes Gedichts „The Second Coming“ („DieWiederkunft“) des irischen Dichters WilliamButler Yeats. Didion stellte das Gedichtihrem Essay- und Reportagenband„Slouching Towards Bethlehem“ („NachBethlehem kriechen“) voran und entnahmden Titel eben dieser letzten Verszeile.Alles fliegt auseinander, die Mitte hältnicht mehr – was sich wie eine Diagnosedes Jahres 2024 liest, erkannte Didion inden 1960ern. Sie veröffentlichte ihre Reportagenund Essays in den 60ern in Magazinenwie Vogue und dem New York TimesMagazine. 1968 sind sie im Band „SlouchingTowards Bethlehem“ erstmals alsBuch erschienen. Und die Texte lesen sichwie Prophetie. Die titelgebende Geschichteaus „Slouching Towards Bethlehem“ beginntmit der bildhaften Schilderung: „Die„Wie es war,ich zu sein“Sich daran erinnernzu können, istder Grund, Notizbücherzu führen,meint Joan Didion(1934 – 2021). Werseine alten Ichsverdrängt, an dessenTür klopfen siezum ungünstigstenZeitpunkt.Am 5. Dezember wäre Joan Didion 90 geworden.Die Chronistin der 68er-Bewegung in Kaliforniendokumentierte den Zerfall der Gesellschaft.„Die Mittehält nichtmehr“Mitte hat nicht gehalten. Es war ein Landder Konkursanzeigen und der Ankündigungenöffentlicher Versteigerungen undder alltäglichen Berichte über fahrlässigeTötungen und verlegte Kinder und verlasseneHäuser und Vandalen, die selbst dieWörter mit vier Buchstaben, die sie gekritzelthatten, nicht richtig schrieben.“Didion war eine Prophetin im vollenWortsinn. Prophetie, biblisch verstanden,umfasst nicht nur Zukunftsvorhersage,sondern auch politische Kritik der Gegenwart.Auch diese Rolle übernahm Didion.Nicht anfreunden konnte sie sich etwamit dem Moralisieren im (politischen) Diskurs:„Der verstörendste Aspekt der ‚Moral‘ist, wie oft das Wort heute vorkommt;in der Presse, im Fernsehen, im Gespräch.[...] Fragen aller Art wird eine moralischeLast umgehängt.“ Sie zitiert den amerikanischenLiteraturkritiker Lionel Trilling:„Uns müssen die Gefahren bewusstsein, die in unseren großzügigsten Wünschenliegen.“ Didion kommt aus einer republikanischenFamilie, näherte sich späterden Demokraten an, jedoch ohne je ihreGrundüberzeugungenganz zu teilen, wie siein einem Interview erklärte.Sich ganz einerPartei zu verschreibenhätte ihrem Wesen widersprochen.Der VerlockunguniformenDenkens konnte sie widerstehen.Denn: „Literaturist ideologiefeindlich.“Wie hätteFoto: IMAGO / ZUMA Press Wiresich die Literatin da einer einzigen Ideologiehingeben können?Didions Sätze wirken mühelos. DerRhythmus ihrer Sprache erinnert an ErnestHemingway. Kein Zufall, Didion tippteseine Kurzgeschichten ab, als sie lernte,auf der Schreibmaschine zu schreiben. DieMelodie blieb ihr im Ohr, als sie begann ihreeigenen Geschichten zu tippen. Müheloswar die Arbeit dabei nie. „Bei jedem Stück,das ich schreibe, kommt der Zeitpunkt, andem ich kein Wort mehr an das andere reihenkann.“„Wer wird dafür büßen?“„ Was sich wie eineDiagnose des Jahres2024 liest, erkannteDidion in den 1960ern.Sie schrieb wie eineProphetin und wurdezur Kritikerin ihrerGegenwart. “Didions Essays und ihre Gesellschaftsanalysewaren stets gründlich und grundsätzlich.So ging sie etwa der Frage auf denGrund, warum jemand überhaupt schreibenoder lesen sollte. „Wir erzählen einanderGeschichten, um zu leben“, war dieAntwort, mit der sie ihr Buch „The WhiteAlbum“ eröffnet. In den 60ern, so Didion,seien die Narrative abhanden gekommen,sie hätten ihre Bedeutung verloren.Die Menschen erzählen sich Geschichten,um zu leben. Joan Didion schrieb auchnoch aus anderen Gründen. Höchst persönlichwar die Motivation, Notizbücherzu schreiben. „Der Sinn, ein Notizbuchzu führen, bestand nie darin, eine genaueAufzeichnung dessen zu haben, was ich getanoder gedacht habe.“ Stattdessen gibt Didionzu: „Mein Anteil liegt natürlich immerbei dem nicht erwähnten Mädchen im kariertenSeidenkleid. Sich erinnern, wie eswar, ich zu sein: Das ist immer der Sinn.“Alte Notizen zu lesen erlaubt einem, mitfrüheren „Ichs“ in Kontakt zu bleiben. Wernicht immer wieder dem alten Ich zunickt –ob man es sympathisch findet oder nicht –den überrascht es unangekündigt „undklopft an die Tür der Seele um 4 Uhr in derFrüh in einer schlechten Nacht und fragt:Wer hat mich im Stich gelassen und verraten?Und wer wird dafür büßen?“Wie es war, Joan Didion zu sein, das lässtsie uns in einem lakonischen Satz wissen,mit dem sie erklärt, warum sie dem NewYorker Party-Leben mit 30 Jahren den Rückenkehrte: „Es ist möglich, zu lange aufder Messe zu bleiben.“ New York als immerneue, immer sensationelle Messehalle, dieirgendwann doch nicht mehr neu war. Dieim langweiligen Sacramento (Kalifornien)geborene Didion zog nach acht Jahren inNew York City wieder gen Westen. Wohntein Los Angeles und verbrachte viel Zeit inSan Francisco.Wäre sie nicht gegangen,die Literaturweltwäre ärmer umeine Geschichte, diewir uns erzählen: DieGeschichte davon, wieim Kalifornien der1960er Jahre die Dingeauseinanderflogenund die Mitte nichtmehr hielt.LEKTORIXDES MONATSGute Nachrichten vor den VorhangBuchpreis von FURCHE,Stube und Institut für JugendliteraturGute Nachrichtenaus aller WeltVon Minitta &MelanieKandlbauerund Yani HamdyLeykam 2024128 S., geb.,€ 24,50Von Alexandra HoferWeltschmerz. Einst von Jean Paulals Gefühl der Trauer ob der Weltund ihrer Unzulänglichkeit geprägt,wird er heute womöglich ausgelöst,wenn man auf all die Themen blickt, diedie Nachrichten- und Medienlandschaftdieser Tage dominieren. Damit einher gehenmedial aufgeladene Bilder, die die Vorstellungvon einzelnen Ländern prägenund mitunter Nährboden für die Entstehungvon Vorurteilen bieten.Genau hier setzt dieses Sachbuch an:Negativpresse und schlechte Nachrichtenwerden außen vor gelassen, stattdessenwird Gutes fokussiert. Gute Nachrichtenwerden nicht überlagert oder gar überdeckt,sondern bekommen Raum in Formvon counternarratives. Pointierte Überschriftenwie „Kein Land heißt Afrika“oder „Asien ist nicht nur China“ laden ein,einen ausschnitthaften und doch genauerenBlick auf die Kontinente zu werfen.Die eurozentrische Sichtweise wird dabeiinsofern aufgebrochen, als dass Own-Voice-Reisebegleiterund Begleiterinnen überdie Kontinente und durch einzelne Länderführen. In einem Zusammenspiel ausFakten über Länder und der Skizzierungvon Einzelbiografien ergibt sich eine Füllean Geschichten, Fun-Facts und Hard-Facts aus vielen Ecken dieser Welt, ohneAnspruch auf Vollständigkeit zu erheben.Unter dem Slogan „Was nicht in Schulbüchernsteht“ versammeln die vielgereistenSchwestern, die für die Inhalteverantwortlich zeichnen und auch federführendbeim ebenfalls im Leykam-Verlagerschienenen Sachbuch „War das jetztrassistisch?“ waren, Nachrichten, die eswert sind, gehört zu werden: So erfährtman, dass in Kabul das Drachensteigenein Symbol für Freiheit ist, dass NeuseelandVorreiter in puncto FrauenwahlrechtIllustration: Yani Hamdyist, in Serbien der einzige Kirchturm steht,der die Mondzeit anzeigt oder es „den Orient“so nicht gibt. In farbenfrohen, flächigenIllustrationen wird das Geschriebeneästhetisch ansprechend in Szenen gesetztund dieserart architektonische Besonderheiten,Farben oder landesspezifischeMuster aufs Papier gebannt.Im Anschluss an die Geschichten ausaller Welt stehen interaktive Seiten, diedazu einladen, selbst aktiv zu sein undauch die Frage „Wo kommst du her?“ Erfreulicherweiseohne pädagogischen Zeigefinger,sondern mit Impulsfragen, klugeingesetzter Ironie, die Stereotype unterwandert,Vorurteile dekonstruiert undstattdessen neugierig auf andere Länderund Kulturen macht. Und somit dem Weltschmerzgekonnt Paroli bietet.

DIE FURCHE · 495. Dezember 2024Ausstellung19„Weniger ist mehr!“ lautet das berühmte Credo von Ludwig Mies van der Rohe. Die Ausstellung „Best of Europe“ im ArchitekturzentrumWien zeigt, was das heute bedeutet: weniger CO2, weniger Kosten, dafür mehr Umweltbewusstsein und sozialer Mehrwert.Wenig Budget, viel QualitätVon Isabella MarboeDie Ausstellung „Best of Europe“ist ein Publikumsmagnet. Allezwei Jahre macht sie auchim Architekturzentrum WienStation. Sie zeigt die Preisträgerund Finalisten des Mies van der RoheAward und damit einen repräsentativenQuerschnitt durch das Beste, was Architekturder EU derzeit zu bieten hat. Der biennaleAward ist ein verlässlicher Indikatordafür, was die Profession bewegt undwelchen Problemen sie sich zu stellen hat.Der achtsame Umgang mit Ressourcennimmt immer größeren Raum ein, seit einigerZeit ist eine Hinwendung zu sozialenBauaufgaben mit kleineren Budgets zubemerken. Wie wichtig die Rücksichtnahmeauf das Klima geworden ist, zeigt sichauch am Katalog: Erstmals sind die Projektenach Breitengraden geordnet.Der Mies van der Rohe Award wurde 1988zum ersten Mal vergeben. Er ist mit 60.000Euro dotiert und ging heuer nach Braunschweig.Dort planten Gustav Düsing undMax Hacke einen Studienpavillon, der sichin puncto Konsequenz und der reduziertenSchönheit des Details durchaus mit Bautenvon Mies van der Rohe messen kann.Wegweisend minimiertIhr Pavillon beruht auf einem quadratischenRastersystem aus Stahl, dessenQuerschnitte so minimiert sind, dassselbst der weiße Brandschutzanstrich seineEleganz nicht beeinträchtigt. Die modularenStahlstäbe sind raumbildend,komplett demontabel und überall wiederauf-, ab- und umzubauen. Ihre Hohlräumedienen der Leitungsführung, rundumlaufende, raumhohe Glasfassaden lassendas Gebäude fast durchsichtig erscheinen,der Innenraum erweitert sich unterdem vorstehenden Dach zum witterungsgeschütztenUmgang im Freien. Ein invielerlei Hinsicht wegweisender Bau, derleichtfüßig wie ein Pavillon zwischen denalten Bäumen des Campus der TU Braunschweigsteht.Für junge Architekturschaffende gibt esin der Kategorie „Emerging Architects“ eineAuszeichnung, die 30.000 Euro wert ist.Sie ging heuer an das junge Büro SUMA Arquitectura(Elena Orte und Guillermo Sevillano)aus Madrid. Sie planten die GabrielGarcía Márquez Bibliothek in Barcelonaund schenkten damit einer bis dato grobvernachlässigten Nachbarschaft einenLesen Sie auch„‚Europas besteBauten‘: EinFest für dieArchitektur“ vonIsabella Marboe(21.12.2022)auf furche.at.großzügigen Ort, der Gemeinschaft stiftetund allen zugänglich ist.Das Gebäude liegt inmitten von Blockrandbebauungenauf einem undankbaren,kleinen Restgrundstück. Die Architektenkappten dem rechteckigen Grundriss einEck. Dadurch ergibt sich vor dem Haupteingangein leicht erhöhter, kleiner, trapezförmigerPlatz, der über eine lange Rampebarrierefrei zugänglich ist. Er schafft jedem,der die Bibliothek betritt, mehr Überblick.Die Treppen, die hinaufführen, nobilitierenden Aufgang, sie lassen sich auchals Agora im Freien lesen.Die Bibliothek ist vor allem aus Holz, außenliegendeLamellen sorgen für genugSchatten, auch im Inneren queren eindrucksvolleTreppenkaskaden den hohen,großzügigen Luftraum in der Mitte, der„ Der achtsame Umgang mitRessourcen nimmt immer größerenRaum ein, seit einiger Zeit ist eineHinwendung zu sozialen Bauaufgabenmit kleineren Budgets zu bemerken. “Foto: Thibaut DiniBehutsam neuBei der Revitalisierung des Klostersvon Saint-François in Frankreichwurden die Ruinen erhaltenund der abgerissene Teil durch einBauwerk aus Kupfer ersetzt.von Sheddächern in helles Licht getauchtwird. Reihum gruppieren sich verschiedeneEbenen um diesen transluziden, zentralenFreiraum, der quer durch das ganzeHaus Blickverbindungen ermöglicht. Sieschaffen unterschiedliche Lesesituationenvom Geschichtenerzählen für die Kleinstenbis hin zu Nischen, in denen man sichkonzentrieren kann.„Bibliotheken sind Orte, die unseren Alltagwirklich verbessern“, erklärt Anna Ramos,die Direktorin der Fundació Mies vander Rohe, die gemeinsam mit der Jury alleBauten der Shortlist besucht hat. „Diese Bibliothekschafft einen Raum, den man teilenkann. Hier treffen sich junge Leute undkommen Pensionistinnen und Pensionistenjeden Tag, um Zeitungen zu lesen.“Strenges AuswahlverfahrenDas Auswahlverfahren ist sehr streng:15 europäische Architekturhäuser, knapphundert unabhängige Experten, Architekturschaffendeund Institutionen nominierendie Projekte, die siebenköpfigeJury wechselt alle zwei Jahre. „Wir bemühenuns jedes Mal um eine Ausgewogenheitzwischen den Altern, Geschlechternund Nationen“, sagt Ramos. Juryvorsitzenderwar diesmal der französische ArchitektFrédéric Druot, selbst Preisträger des Jahres2019. Ingesamt wurden 362 Projekteaus 38 Ländern eingereicht, unter den vierzigProjekten der Shortlist waren immerhinzwei aus Österreich: Das sehr smarteStadthaus Neubaugasse von PSLA Architektenund der Ikea Wien-Westbahnhofvon Querkraft Architekten. Alle Projektewerden in kurzen Texten, Fotos und Plänenpräsentiert, die Preisträger zusätzlichmit Modellen und Filmen gewürdigt. Unbedingtanschauen!Europas beste BautenPreis der Europäischen Union fürzeitgenössische ArchitekturMies van der Rohe Awards 2024Bis 20.01.2025Architekturzentrum WienGANZ DICHTVON SEMIER INSAYIFPoesie des „Davor“ & Faszination der Natur„da ist ein Maul an der Wand mit Korb und Kind,Glasfische am Fensterbrett, / daneben die Tapetevon Schweigen bedeckt.“ So lautet der Anfangdes ersten Gedichtes in Renate Silberers neuem Gedichtband„Reste einer Sprengung“. Ihre Gedichte sind aufden Spuren des Nichtoffensichtlichen, des Unzugänglichen.Erinnerte Reste von Träumen, Märchen, Geschichten,erzählte wie vielleicht auch erlebte, phantasierteund vielleicht auch erfundene Begebenheiten gehen ineinanderüber und ergeben ein Amalgam von Tages- undNachtresten. Als würden sich verschiedenartige Substanzen,Energien und Schwingungen auf allen möglichenSchichten und Ebenen vermischen und zusammen etwaspoetisch überzeugend Undurchdringliches, aber auchVertrautes ergeben.„Höhlen beginnen sich in dir auszuschälen, langsamund immer aufs Neue“, solche Worte fokussieren Spannungenvon einem Innen und einem Außen. Und im Gedichtmit dem Titel „bevor du schläfst“ kann man dieFrage lesen „suchst du die Übereinstimmung oder die Lücke?“,die sich unbeantwortet in die Leserinnen und Lesereinzunisten versteht.Es sind 39 in freien Versen notierte Gedichte ohne Endreime,allerdings mit Binnenreimen, Alliterationen undAssonanzen. Silberers Poesie scheint auf der Suche nachdem Stadium des „Davor“ zu sein, sich Wandelndes wirdhör- und sichtbar und das in feinen sprachlichen Nuancen.Wundersame GemischeIn den Gedichten seines bisher unveröffentlichten Manuskripts„Totholz“ deutet Erich Alois Richter eine Reisean. Und so heißt das erste Gedicht folgerichtig auch „Abreise“,ein Gedicht, das sich in Distichen entwickelt. „Zusehen, was sich // hinter dem leeren Rahmen verbirgt,wenn dieses / rekonstruiert real auftaucht. Auch hinterschwarze // Vorhänge geblickt, einen Vorhang heruntergerissen.“Ein Unterwegssein als beinahe detektivischesForschen und Entdecken. Es sind Gedichte in freien Versen,ungereimt, jedoch häufig mit Alliterationen wie imGedicht „Alleen, Nüsse“, da heißt es gleich zu Beginn: „Allergie?Atemnot? Anwenderdiagnose? Allee? / Weil ichdie Wahl habe, entscheide ich mich für Allee.“ Dieser Metaebeneeiner Wortauswahl folgen Erinnerungsphantasienund -empfindungen einer Kindheit.Die Gedichte folgen, bezogen auf die Titel, einer alphabetischenOrdnung. Es sind wundersame Gemische vonerfundenen, erträumten und realen Erfahrungen, Beobachtungenund Gedanken, die in den Gedichten ihre Naturentwickeln. Ein Ich, das bereit ist durch unterschiedlichsteRäume und Zeiten zu streifen, und so gibt es auchnarrativ anmutende Sequenzen. Die Verbindungen vonrealen und imaginierten poetischen Bildern, besondersvon kahler Natur, sind in der Lage ins Innere einzudringenund zu berühren.„ganz dicht“ stellt jeweils vor einem Dicht-Fest in derAlten Schmiede (nächstes: 12.12.2024) Lyrik vor.Reste einerSprengungGedichtevon RenateSilbererEdition Melos202484 S., geb.,€ 26,–

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