Aufrufe
vor 2 Monaten

DIE FURCHE 05.12.2024

DIE FURCHE · 4912

DIE FURCHE · 4912 Religion5. Dezember 2024fen können. Der Kardinal hat sich damitals Vertreter der Institution angreifbargemacht. Er übernimmt dann ja nicht nurpersönlich, sondern auch für die InstitutionVerantwortung. Betroffenen zu glauben,hat eben sofort erhebliche Konsequenzeninnerhalb des Systems. Der Kardinalhat sich hier klar positioniert, ohne sich zurücknehmenzu können.Lesen Sie dazu„Das Kreuzder Kirchenmit der FPÖ“(11.6.2024) vonTill Schönwälderauf furche.at.Das Gespräch führte Till SchönwälderDer deutsche Jesuit Klaus Mertesdeckte im Jahr 2010 denMissbrauchsskandal am katholischenCanisius-Kolleg inBerlin auf. Seither gilt er inunserem Nachbarland als kirchlicher Expertefür Missbrauch im katholischen Kontext.Bei einem Wien-Besuch dieser Tagereferierte der ehemalige Lehrer in einemVortrag außerdem über das Verhältnis derdeutschen katholischen Kirche zur rechtsextremenAfD. Im FURCHE-Interviewsprach er über beide Themen.DIE FURCHE: Sie haben mit den Aufdeckungendes Missbrauchs-Skandals im Jahr2010 eine Lawine in Bewegung gesetzt.Was hat sich in den vergangenen 15 Jahrenin Sachen Missbrauch in der Kirche inDeutschland getan?Klaus Mertes SJ: Grundsätzlich hat sichbei Aufklärung und Prävention in den vergangenenJahren in der katholischen Kircheauch in Deutschland viel getan. Aberdas heißt nicht, dass es reicht, zumal sichweiterhin Opfer melden werden. Um aufdas Canisius-Kolleg im Jahre 2010 zurückzukommen:Es war erstaunlich, wie unvorbereitetdie deutschen Bischöfe von derThematik erwischt wurden, sie waren wiein der Schockstarre. Das ist für mich nachträglicheigentlich die verblüffendste Erfahrung,wie wenig die Bischöfe auch intellektuellauf das Problem vorbereitet waren. Siesind aus allen Wolken gefallen, lagen dannauf dem Boden und waren handlungsunfähig.In dieser Hinsicht hat die österreichischeKirche nach den Erfahrungen mit derGroër-Krise viel schneller gehandelt.DIE FURCHE: „Die Institution hat versagt“,haben Sie 2010 in einem Brief als damaligerRektor des Canisius-Kollegs an 600 Schülergeschrieben, nachdem Sie erfahren haben,dass ein ehemaliger Jesuitenpater und Lehrerin den 1970er und 80er Jahren HunderteSchüler sexuell missbrauchte. Der Brief gelangtedann an die Presse…Mertes: Genau. Die Presse war nicht meinprimärer Adressat. Ich wollte in erster Liniemit den Betroffenen in Kontakt kommen.Ich bin bewusst nicht über die Mediengegangen, weil ich bei den Angeschriebe-Der deutsche Experte Klaus Mertes plädiert für eine Öffnungdiözesaner Archive. Dass die Kirche beim Thema Missbrauchso im Fokus steht, sieht er als Chance.„Schönborn hatsich angreifbargemacht“DIE FURCHE: In den letzten Jahren kam mitdem geistlichen Missbrauch eine weitereDimension hinzu. Berühmt wurde der Satz‚Ich glaube Ihnen‘, den Kardinal Schönbornim Fernsehen 2019 an die Autorinund ehemalige Ordensfrau Doris Reisingerrichtete, als diese von ihren Missbrauchserfahrungenerzählte.Mertes: Das war schon ein mutiger Schritt,denn so ein Satz impliziert ja, dass sichBetroffene dann öffentlich darauf berunennicht den Eindruck erwecken wollte,mein Brief an sie sei Teil einer Strategie derÖffentlichkeitsarbeit. Das Schreiben wurdedann geleakt. Aber schon in dem Briefhatte ich die institutionelle Verantwortungfür Aufarbeitung und auch die systemischeFrage angesprochen, nämlich die Fragedanach, inwieweit das System der katholischenKirche Missbrauch und vor allemauch Vertuschung fördert bzw. ermöglicht.„ Missbrauch geht immer durchalle Ritzen und es gibt ihn nie ohnesystemische Faktoren. Zu glauben,Missbrauch endet, wenn das Systemgeändert wird, ist aber eine Illusion. “DIE FURCHE: Kirchenkritiker sagen, die Kirchean sich bedingt missbräuchliche Handlungen,solange sich an ihrer Verfasstheitnichts ändert. Würden Sie dem zustimmen?Mertes: Das würde ich nicht unterschreiben,weil es die Illusion nährt, dass sobald das Systemgeändert wird, nichts mehr geschehenwird. Damit würde man es sich zu einfach machen.Missbrauch geht immer durch alle Ritzendurch. Es gibt niemals Missbrauch ohnebegünstigende systemische Faktoren.AufdeckerIn Berlin machte der JesuitKlaus Mertes 2010 denhundertfachen Missbrauchan Schülern im katholischenCanisius-Kolleg publik.DIE FURCHE: Missbrauch ist ja auch keinerein kirchliche Thematik…Mertes: Ja, der Kirche wird eine gewisseStellvertreterrolle für ein gesamtgesellschaftlichesProblem zugewiesen. Ich habeimmer dafür plädiert, das als Chance zusehen, dass wir so sehr im Mittelpunkt stehen:machen wir es besonders gut und zeigenwir, wie man Missbrauch effektiv aufarbeitet.Ich habe mich diesbezüglich auchimmer dafür ausgesprochen, die kirchlichenArchive für eine unabhängige Aufarbeitungzu öffnen, vergleichbar der Arbeitder royal commissions im angelsächsischenSprachraum. Hier hatte ich aber manchmaldas Gefühl, dass die Politik selbst bei dieserSache zurückhaltend ist, denn wenndie Kirche das täte, müssten die staatlichenBehörden in dieser Hinsicht bei sich selbstwohl nachziehen.Foto: IMAGO / snapshotDIE FURCHE: Bei zwei weiteren prominentenFällen, jenen von Marko Rupnik undAbbé Pierre, hat Papst Franziskus öffentlichsehr scharfe Worte gefunden. Letzterennannte er einen „schweren Sünder“.Gleichzeitig wusste der Vatikan bei Abbé Pierrewohl schon Ende der 1950er Jahre vonÜbergriffen. Wirken die Worte des Papstesin diesem Kontext nicht scheinheilig?Mertes: Ich sehe es kritisch, wenn Bischöfeoder der Papst öffentlich ein Urteil fällen,statt zu fragen: Wie konnten wir das überJahrzehnte übersehen? Täter-Bashing ändertnichts an der Mitverantwortung fürdas Geschehene und kann sogar von der eigenenVerantwortung ablenken.DIE FURCHE: Sie haben in Wien dieser Tageüber das Verhältnis der deutschen Kirchenzur AfD referiert. Warum?Mertes: Es ging mir darum, klarzumachen,dass man sich das Christentum und überhauptdie gesamte biblische Tradition nichtohne ein universalistisches Ethos vorstellenkann. Dieses wird vom völkisch-nationalistischenFlügel in der AfD, der inzwischentonangebend ist, negiert. Von daherfand ich es sehr bemerkenswert, dass sichdie deutsche Bischofskonferenz in dieserSache so stark positioniert hat.DIE FURCHE: Die AfD hat bei den vergangenenWahlen in Ostdeutschland stark zugenommen,trotz bischöflicher Warnungen.Hierzulande wird dieser Umstand gerneals Argument genommen, um sich als Kirchenicht so stark von der FPÖ abgrenzenzu müssen. Sehen Sie dieses Argument?Mertes: Nein, das sehe ich nicht, dennhier geht es ja nicht um eine taktische Frage,sondern um eine grundsätzliche Positionierung.Es wählen auch viele ChristenRechtsextremisten. Da muss man auch innerkatholischStellung beziehen.DIE FURCHE: Die FPÖ hat im Wahlkampf mitchristlichen Anspielungen gearbeitet („EuerWille geschehe“) – Wäre so etwas in derBundesrepublik möglich?Mertes: In Deutschland hat die AfD ja auchprovokative Sujets publiziert, etwa mitPlakaten wie „Sophie Scholl würde heuteAfD wählen“. Ich finde aber sowieso, dasses eine Gefahr ist, biblische Sprache politischzu instrumentalisieren. In der Corona-Zeittraten kirchliche Stimmen mit demSlogan auf: „Impfe deinen Nächsten, wiedich selbst.“ Das war auch ein Spiel mitdem Feuer.DIE FURCHE: Dürfen Christen die FPÖ bzw.die AfD wählen?Mertes: Ich halte es für kontraproduktiv,aus einer Autoritätsposition heraus zu sagen,was die Menschen zu wählen habenund was nicht. Insofern finde ich es gut,dass die deutschen Bischöfe klipp und klargesagt haben, der völkische Nationalismuswiderspricht dem Christentum. Was jederund jede Einzelne dann daraus macht,muss vor dem eigenen Gewissen verantwortetwerden. Eine Grenze sehe ich allerdingsda, wo Katholiken selbst Ämter in einersolchen Partei übernehmen. Da habensich die Bischöfe bei uns auch positioniert,nämlich dass das mit einem Amt in der Kirchenicht vereinbar ist.

DIE FURCHE · 495. Dezember 2024Religion13Vor fünf Jahren starb der große katholische Theologe Johann Baptist Metz. Angesichts des Rechtsrucks, der Klimakrise und anti-universalistischerTendenzen fehlen sein scharfer Blick und seine theologische Grundhaltung mehr denn je. Ein Gastkommentar.Wider die EinkapselungVon Henning Klingen„Er fehlt. Schmerzlich.“Mit diesenWorten habe ichmeinen Nachrufauf Johann BaptistMetz (1928-2019) vor fünf Jahrenhier in der FURCHE begonnen.Und es wäre ein Leichtes, dieseWorte erneut an den Beginn zustellen. Schließlich hat sich derBedarf an prononcierter theologischerWiderrede in verschiedenen,damals noch nicht in dieserForm bzw. Dramatik abzeichnendenBereichen und Graden weiterverschärft. Ein politischer Rechtsruckin Europa geht mit einem vorfünf Jahren noch nicht in dem Maßedeutlichen anti-universalistischenReflex und einer Kulturder Abschottung einher; der Gaza-Krieg hat einen Antisemitismuserneut aufbrechen lassen, in demselbst die Linke beängstigend geschichtsvergessenirrlichtert; imKampf gegen die Klimakatastrophebleiben christliche Stimmenin Form einer rein individualistischenAppellativ-Moral hinter ihrenMöglichkeiten zurück; unddie katholische Kirche selbst drohtden Synodal-Tod zu sterben: Vorlauter Selbstbefassung übersiehtsie die eigentliche Dramatik derGotteskrise und übt sich stattdessenbis in das Laienengagementhinein in ekklesiologischer Verschlüsselungihrer Krise.Theologie mit HaltungBaustellen gibt es also genug.Doch warum sollte der Rekursauf einen verstorbenen, schon inseinen letzten Lebensjahren zusehendsverstummten deutschenTheologen da weiterhelfen? „Weilheute eine Theologie mit Haltungfehlt“, antwortet der Metz-Schülerund Leiter des ForschungsinstitutsPhilosophie Hannover (fiph),Jürgen Manemann, auf diese Frage.Was ist damit gemeint? Dazueine kurze Erinnerung: In den1960er Jahren hat Metz – in produktiverAuseinandersetzung mitseinem eigenen Lehrer, Karl Rahner,sowie den Vordenkern derFrankfurter Schule wie TheodorW. Adorno, Walter Benjamin undJürgen Habermas – eine „Theologieder Welt“ entwickelt. Gemeintwar eine Theologie, die sich umdie Welt sorgt, in der die Welt nichtals zunehmend säkulare Konkursmasseverstanden wird, sondern„als gesellschaftliche Mitweltund Geschichtswelt“, in derwiederum „Geschichte primär alsEndgeschichte, Glaube primär alsHoffnung, Theologie primär alseschatologisch-gesellschaftskritischeTheologie sichtbar“ wird,wie Metz damals schrieb. Wer Gottsagt, muss auch Mensch, mussauch Geschichte sagen und erkennen,dass sich Geschichte nur alsLeidensgeschichte begreifen lässt,als Wartesaal der Hoffnung, in derMenschen berufen sind zu lebenetsi deus non daretur – als wenn eskeinen Gott gäbe.Kirche für andereDas war die Geburtsstunde der„Neuen Politischen Theologie“, unterder dieses Denken künftig firmierte– und in deren Kielwassersich eine ganze Reihe von öffentlich-theologischenDebatten entspann– sei es die Zeitdiagnoseeiner weit über die bekannte Kirchenkrisehinausgehenden Gotteskrise,die Debatte um einechristliche „Mystik der offenenAugen“ als prägnanter Gegenpolgegen jede moderne spirituell-inwändigeSeelenschau, oder aberdie Rede von der „Option für die Armen“,die vor allem von der lateinamerikanischenBefreiungstheologieentfaltet wurde. Das biblischfundierte Eingedenken fremdenLeids (Memoria passionis) und diesich darin artikulierende „Autoritätder Leidenden“ führte Metzgegen jede Form klerikal-anmaßender,letztlich hohler Institutionen-Autoritätins Feld. Und in seinemfrühen, bereits in die 1960erzurückdatierenden Eintreten füreine revolutionäre „Initiativ-Kirche“,kritisierte er jedes Geredevon der angeblich heilsnotwendigenFortexistenz eines bürgerlicheingehegten Christentums. Kirchefür andere – oder keine Kirche.Doch es ginge am Anliegen desTheologen vorbei, würde mandiese Stichworte in eine Art „Schule“überführen und somit zu einemLehrgebäude gerinnenlassen. Und so zeigt sich der Metz-Schüler Manemann, der selbst zuletztBücher über „Rettende Umweltphilosophie“oder über das„Revolutionäre Christentum“ geschriebenhat, überzeugt, dassMetz heute Anstöße auch in aktuellenDebatten geben würde bzw.könnte. Scharf wären vermutlichMetz‘ Einwürfe im Blick auf denFoto: picturedesk.com / Ullstein Bild / B. FriedrichPrägnanterGegenpolKirche muss rausgehenin die Welt,anstatt ihr Heil inder Fortexistenzeines bürgerlichenChristentums zusuchen, so Metz.Lesen Sie„Gottesrede ineiner scheinbargottlosen Zeit“(6.8.1998)über Metz‘Theologie vonGerhard Ruisauf furche.at.wiedererstarkten Antisemitismus– „gerade auch jenen Antisemitismusin der Linken“. Da hätteMetz den heutigen Vertreternetwa der Kritischen Theorie „ihrSchweigen um die Ohren gehauen“,so Manemann. Das Bekenntniszum Staat Israel sei bei Metzzugleich stets mit dem Blick aufdie Leidenden auf beiden Seiten ‒also auch aufseiten der Palästinenser‒ einhergegangen. Friedenund Versöhnung sind laut Metzerst möglich, wenn man die Kraftaufbringt, nicht nur der eigenenOpfer, sondern auch der Opfer unddes Leidens der anderen zu gedenken.Unter dem Stichwort der„Compassion“ fasste Metz etwa denhistorischen Handschlag von JassirArafat und Shimon Peres 1993in Camp David zusammen, mitdem das Osloer Abkommen besiegeltwurde. Damals hatten beideSeiten zugesagt, künftig nichtmehr allein auf die eigenen Leidenzu blicken, sondern auch die Leidender anderen zu betrauern.Aber auch in der innerkirchlichenDebatte um Synodalität fehltMetz: „Wir leben in einer Zeit derGotteskrise ‒ und was machen wir?Wir reden nur noch von der Kircheund nicht mehr von Gott“, so Manemann.Hier hätte Metz eine institutionelleEinkapselung kritisiert,ist sich der Theologe sicher ‒ undstattdessen auf den „revolutionärenCharakter“ einer „Projekt-Kirche“verwiesen, die „rausgeht undnach neuen Allianzen sucht“. Vielleichtist genau dies die Botschaftder sich leerenden Kirchen: Gehthinaus in die Welt.Prophetische KorrekturFür vorrangig für eine theologischeBefassung erachtet Manemannheute die Klimakatastrophe,auf die Metz schon als Autordes Synodendokuments „UnsereHoffnung“ 1975 hingewiesen hatte.Metz selbst hatte in einem kleinen,erst in seinen GesammeltenSchriften veröffentlichten Fragmentkurz vor seinem Tod eine einschneidende,gleichwohl prophetischeKurskorrektur in einem derZentralbegriffe seines Denkensangedeutet. So plädierte er angesichtsder ökologischen Multi-Krisefür eine Art nachholende, zweiteanthropologische Wende. Dieerste Wende, d.h. die Hinwendungzum Menschen und seiner Rolle inder Schöpfung, für die der Nameseines Lehrers Karl Rahner stand– sie könne heute nicht mehr ohnedie nicht-menschliche Mitwelt,nicht mehr ohne die Mitgeschöpfegedacht werden. Einen „konvivialenAnthropozentrismus“ nenntdies Manemann. Eine Korrektur,die Metz selbst nicht mehr ausführenkonnte, die er aber gleichsamals Nachlass der heutigen Theologieins Stammbuch schrieb.Der Autor ist katholischer Theologeund Journalist bei Kathpress.SINNVOLLES SCHENKENEin Geschenk, das lange Freude macht:Laden Sie Ihre Liebsten ein zu einer Entdeckungsreise. Gemeinsam mit altenund neuen Wegbegleiter:innen – digital zurück bis 1945!Beleuchten Sie mit uns die großen Fragen des Lebens: Was gibt Sinn?Wonach suchen Menschen? Mit einem FURCHE-Abo schenken Sie Zeit für neuePerspektiven, für Zugänge, die zum Weiterdenken und Diskutieren anregen.Und: Sie unterstützen tiefgründigen Journalismus.unter denChristbaumlegen –Zeit fürWesentlichesschenken!JETZT GESCHENKABO BESTELLEN:www.furche.at/abo/schenkenaboservice@furche.at+43 1 512 52 61 52

DIE FURCHE 2024

DIE FURCHE 2023