DIE FURCHE · 40 22 Wissen 5. Oktober 2023 Von Manuela Tomic Kič MOZAIK In der Nacht trällert Vater schmalzige Schnulzen, während Mutter kuschelige Kochsendungen schaut. „Wer hat dich mir weggenommen, Tamara?“, singt er vom Balkon in den Sternenhimmel über dem Kreisverkehr. In unserem Wohnzimmer, der Familienbühne, hängt ein Abklatsch von Monets Mohnwiese, ein Moulin-Rouge-Aquarell und ein Acrylregenbogen, den ich in einer dunklen Stunde malte. Auf den Servietten prangen Küken und Elefanten, die Kuh auf der Milka-Tasse muht. Die Porzellanengel auf der Kommode wachen über die Familienfotos und gähnen genüsslich. Keine Frage, meine Eltern sind dem Kitsch verfallen. Das ist kein Wunder, denn schließlich haben wir den Kitsch erfunden. Vermutlich kommt das Wort „Kitsch“ 1878 zum ersten Mal in einem Gedicht vor, in dem Max Bernstein ein Gemälde des Pferdemalers Franz Adam verspottete. Das Gemälde hieß „Bosnische berittene Insurgenten“ und die Verse lauteten: „Bosnisch Getümmel! Bosnische Schimmel! / Bosnische Männer auf ‚itsch‘ und ‚ritsch‘! / Bosnische Berge! Bosnischer Himmel! / alles echt bosnischer ‚Kitsch!‘“ Wenn ich schreibe, versuche ich schneller als die Insurgenten zu reiten, die auf ihren Schimmeln unter dem Regenbogen Vaters Liebeslied zu Ende singen: „Du hast deine Tränen anderen verkauft / in der Nacht träume ich von deinen Fährten / dort, wo verlorene Mädchen hingehen.“ Doch es hilft nichts. Als Tomić bleibe ich ein verlorenes Mädchen und Opfer des Kič’. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Illu: Rainer Messerklinger Von Bernhard Baumgartner Wer heute den Sternenhimmel beobachtet, weiß, dass das Weltall riesig ist. Dass es aus Milliarden von Galaxien besteht und sich immer weiter ausdehnt. Dass jemand annimmt, dass unsere Milchstraße die einzige Galaxie im Universum sein könnte, dass wir also die einzige Insel in der Dunkelheit des Kosmos sein könnten, mag aus heutiger Sicht engstirnig, ja fast kleinkariert klingen. Aber vor mehr als 100 Jahren war dies gängige Meinung. Doch dann kam die Nacht zum 5. Oktober 1923, also vor exakt hundert Jahren. Der US-Astronom Edwin Hubble (1889-1953) bereitete gerade seine Beobachtungen am Mount Wilson-Teleskop vor, das damals mit einem Durchmesser von 2,5 Meter das größte Teleskop seiner Zeit war. Hubble war einem guten, alten Bekannten auf der Spur: dem „Andromeda-Nebel“, wie man damals noch sagte. Heute wissen wir: Es ist die Andromeda-Galaxie (M31) – quasi unser Nachbar. Hubble, auf Bildern von damals adrett gekleidet und mit kecker Pfeife im Mund abgebildet, hatte schon damals den Verdacht, dass das Unfug ist, wie er auch in seiner Dissertation von 1919 anklingen ließ. Also versuchte er, alles aus dem Teleskop herauszuholen, was ging. Er wollte möglichst gute Bilder von Andromeda machen. 45 Minuten belichtetet er die Fotoplatte. Und in dieser Nacht hatte Hubble Glück, denn ihm gelang ein verhältnismäßig scharfes Bild. Das Resultat begeisterte ihn: Die Ränder des „Nebels“ lösten sich in strukturierte Flächen auf. Sollten es gar einzelne Sterne sein, die man da sah? Sterne einer anderen Galaxie als unserer eigenen? Das Rätsel hinter dem „Nebel“ Um diese Annahme zu beweisen, suchte Hubble ein mysteriöses Objekt, eine ganz bestimmte Supernova (ein helles Aufleuchten eines massereichen Sterns durch Explosion), genannt Cepheide. Erst wenige Jahre zuvor hatte die Wissenschaft etabliert, dass man mit diesen Objekten und ihrer Helligkeit Distanzmessungen durchführen kann. Für Hubble war es genau das, worauf er gewartet hatte. Gelänge es ihm, eine Cepheide in M31 zu identifizieren und so die Distanz zu messen, so könnte man beweisen, dass Andromeda nicht Teil der Milchstraße ist, sondern eine eigene Galaxie. Hubble, in jungen Jahren erfolgreicher Athlet und Hobby-Boxer, muss eine Gänsehaut bekommen haben, als er die Bilder analysierte, die ihm da mitten in der Nacht gelungen waren. Er hatte tatsächlich drei Sterne gefunden. Zwei davon waren Reste einer Nova und einer davon ein veränderlicher Typ namens Delta Cephei. Als er die Leuchtkraft bestimmte, war der Fall klar: Die Distanz betrug 980.000 Lichtjahre und damit ein Zigfaches der geschätzten Größe der Milchstraße. Hubble muss klar gewesen sein, was das bedeutet: nämlich das Ende einer Debatte, ja eines wahren Glaubenskriegs. Es gab andere Galaxien und somit stand zu vermuten, dass ganz viele der anderen „Nebel“, die etwa der Astronom Charles Messier schon mehr als 100 Jahre zuvor in seinem Katalog auflistete, wohl auch Galaxien waren. Vermutlich gab es davon tausende, wenn nicht sogar viele mehr. Die Dimension des bekannten Kosmos war soeben sprunghaft angewachsen. „ Hubble, in jungen Jahren ein erfolgreicher Hobby-Boxer, muss eine Gänsehaut bekommen haben, als er die Aufnahmen analysierte, die ihm da gelungen waren. “ Foto: Getty Images / Bettmann Edwin Hubble Der US-Astronom (1889–1953) bei seiner Arbeit in Kalifornien. Später wurde er zum Namensgeber des von der NASA und ESA entwickelten Hubble-Teleskops. Vor genau 100 Jahren änderte sich unser Bild vom Universum sprunghaft. Der Astronom Edwin Hubble entdeckte, dass es andere Galaxien außerhalb der Milchstraße gibt. Die Nacht der Erkenntnis Hubble war eine Sensation gelungen. Er hatte ein Fenster der Erkenntnis aufgestoßen, das den Blick freilegte auf epische Weiten da draußen. So groß, dass wir sie gar nicht fassen können. Der amerikanische Astronom, der im Ersten Weltkrieg als Offizier gedient hatte, war zunächst von der Tragweite seiner eigenen Entdeckung so überwältigt, dass er sie für sich behielt. Erst Anfang 1924 weihte er Kollegen ein. In einem Vortrag zum Jahreswechsel 1924/25 ging Hubble an die Öffentlichkeit und beendete damit alle Spekulationen über die Natur der „Nebel“. Selbst der Philosoph Immanuel Kant hatte sich anno 1755 daran beteiligt und spekuliert, ob es sich um „Welteninseln“ handeln könnte. Er sollte Recht behalten. Hubbles Entdeckung ist einer jener raren Momente, in dem einem Forscher allein in seinem Labor oder Observatorium eine Beobachtung gelingt, die die Menschheit weiterbringt. Eine Erkenntnis so voller Sprengkraft, dass sie in der Lage ist, unser Bild des Universums radikal zu verändern. Ein Ergebnis, dass in der anschließenden Reflexion auch auf uns selbst abfärbt und auf unseren Platz in diesem großen Ganzen. Wenn alles andere da draußen so unermesslich groß ist – was heißt das für den Homo sapiens? Sind wir jetzt noch kleiner geworden, als wir vorher schon waren? Expandierendes Weltall Doch Hubble forschte nach seinem „Lucky Punch“ beharrlich weiter am Wesen des Universums. Schon 1929 legte er ein zweites Mal nach. Und dies nicht weniger sensationell. 1927 hatte ein belgischer Priester, Georges Lemaître, postuliert, dass das Weltall expandieren würde. Hubble gelang der Nachweis, dass es einen Zusammenhang zwischen der Rotverschiebung des Sternenlichts und der Verteilung der Galaxien gibt. Ihre Spektren waren nämlich nicht zu gleichen Teilen ins Rote oder Blaue verschoben. Der Anteil jener, die ins Rote verschoben waren, war erheblich größer. Aber warum? Hubble interpretierte diese Frequenzverschiebung als Dopplereffekt, jener Effekt, der etwa bei herannahendem bzw. sich entfernenden Rettungswagen zu hören ist. Die Sirene klingt durch Frequenzverschiebung anders, wenn sie sich dem Beobachter nähert, als wenn sie sich entfernt. Legt man das auf Galaxien um, bedeutet das, dass sich fast alle beobachteten Galaxien von uns entfernen. Das Weltall muss also expandieren. Am 28. September 1953 starb Hubble – viel zu früh – im Alter von 63 Jahren an einem Schlaganfall, während er die Vorbereitungen für weitere Beobachtungsnächte traf. Er hinterließ der Astronomie die bis heute nicht geklärte Frage, warum das Universum expandiert. Die Größe, die diese Expansion beschreibt, wird auch heute Hubble-Konstante genannt. Die Entscheidung, ein gemeinsam von NASA und ESA entwickeltes Teleskop nach ihm zu benennen, hat der Forscher nicht mehr erlebt. Nach dem Start 1990 zeigte dieses moderne Gerät jahrzehntelang Bilder von Millionen von Galaxien, die wir vorher nicht kannten. Es liegt eine gewisse poetische Schönheit darin, dass das nach ihm benannte Instrument in gewissem Sinne fortsetzte, was mit Hubbles „Nacht der Erkenntnis“ 1923 begann. Uns zu zeigen, wie groß und unermesslich das Universum doch ist. Und dass es unbekannte Galaxien gibt, wohin man auch schaut. Wo das endet? Endet es überhaupt irgendwo? Wir wissen es nicht. Noch nicht. So viel jedenfalls lässt sich nach genau 100 Jahren sagen.
DIE FURCHE · 40 5. Oktober 2023 Wissen 23 Im Haushalt der Universitäten klafft für 2024 noch eine gewaltige Lücke. Während die Budgetverhandlungen in die heikle Phase gehen, leiden gerade die Studienanfänger(innen) unter der aktuellen Teuerung. Ein Ausblick zum Semesterstart. Studieren mit der Rekordinflation Von Martin Tauss Raus aus dem Elternhaus, hinein ins neue Leben, vielleicht sogar in einer neuen Stadt: Das ist das Lebensgefühl vieler Studienanfänger(innen). Doch gestiegene Wohnkosten, Kautionen und die weiter galoppierenden Preise für Lebensmittel machen das Studieren heute oft zu einer prekären Angelegenheit – stärker als früher. „Gerade der Studienstart ist der teuerste Zeitpunkt, da wird es jetzt für viele kritisch“, sagt Martin Unger, Hochschulforscher am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien. Letztes Jahr hatte das IHS im Auftrag des Wissenschaftsministeriums eine repräsentative Befragung unter Maturierenden der AHS und BHS durchgeführt, wonach 72 Prozent der Befragten binnen zwei Jahren nach dem Schulabschluss ein Studium aufnehmen wollten. Wie aber würde das heuer, angesichts der Rekordinflation, aussehen? „Wahrscheinlich sind es nicht sehr viele, die es sich nicht mehr leisten können“, vermutet der Forschungsgruppen-Leiter. „Aber das Ergebnis wäre höchst spannend – es tut mir weh, dass wir hierzu keine Daten haben.“ Foto: APA / Helmut Fohringer Drehen am Betreuungsschlüssel Auch die Universitäten selbst haben mit der Teuerung zu kämpfen. Die Gespräche über das kommende Dreijahresbudget gestalten sich angesichts dieser Entwicklung „äußerst schwierig“, heißt es vonseiten der Universitätenkonferenz (Uniko): „Universitäten sind personalintensiv, haben keinen Spielraum für Preisanpassungen und können Kostensteigerungen daher nur durch Kürzungen bei Lehre und Forschung kompensieren.“ Bei ausbleibenden Mitteln werde das unweigerlich zu Jobverlusten führen, warnte die scheidende Uniko-Präsidentin Sabine Seidler, die ihr Amt mit Oktober niedergelegt hat. Bereits das geltende Dreijahresbudget war aufgrund der Inflation nicht zu halten. Mithilfe von Reserven und Zuschüssen musste heuer eine Unterdotierung behoben werden. Für 2024 fehlen den Universitäten mehr als 500 Millionen Euro. Bis Ende des Monats müssen sich Finanzminister Magnus Brunner und Wissenschaftsminister Martin Polaschek (beide ÖVP) nun einigen. In dieser heiklen Phase übernimmt Psychologie-Professor Oliver Vitouch von der Uni Klagenfurt, bisher Uniko-Vizepräsident, bis zur Neuwahl im Dezember den Vorsitz der Universitätenkonferenz. Technische Hochschulen sind aufgrund des höheren Gerätebedarfs durch die Teuerung besonders belastet. Umso mehr machen sich die Vorkehrungen für eine effizientere Nutzung dieser Geräte bezahlt, bemerkt IHS-Forscher Unger: „Im Wissenschaftsministerium wurde eine Datenbank über große Forschungsgeräte eingerichtet, sodass die Unis bestimmte Apparaturen auch teilen können.“ An den 22 öffentlichen Unis wurden im Studienjahr 2022/23 rund 280.000 Studierende betreut. „Um die Probleme einer ‚Massenuniversität‘ zu überwinden, versucht man die Zahl der Studierenden zu reduzieren und jene der Professoren zu erhöhen“, berichtet Martin Unger. „Da wurden in den letzten zehn Jahren langsame, aber kontinuierliche Verbesserungen erzielt.“ So schlagen sich die Aufnahmeverfahren in attraktiven Fächern wie Medizin, Vet- Med, Psychologie oder Publizistik bereits in einem verringerten Zulauf der Studierenden nieder. An der Uni Wien etwa lag Zurück in den Hörsaal Durch Aufnahmeverfahren wurde der Zulauf zu besonders attraktiven Studien wie Medizin, Psychologie oder Publizistik gedrosselt. „ Um die Probleme der ‚Massenuni‘ zu überwinden, wurden in den letzten zehn Jahren langsame, aber kontinuierliche Verbesserungen erzielt. “ Hochschulforscher Martin Unger das Betreuungsverhältnis im Studienjahr 2021/22 bei rund 66 Studierenden pro Professor (und Äquivalenten), am Mozarteum Salzburg bei rund 1:12. „Der optimale Betreuungsschlüssel ist stark vom Fach abhängig. An den Musik-Unis ist die Betreuung sehr persönlich, bei einem Studium wie BWL hingegen ist es prinzipiell kein Problem, wenn zahlreiche Studierende im Hörsaal sitzen oder auch online an der Lehrveranstaltung teilnehmen“, sagt der IHS-Forscher. „In den technischen Fächern freilich sind oft kleinere Gruppen angesagt, sonst fliegt das Labor womöglich in die Luft.“ Im Durchschnitt der MINT-Fächer wird laut gesamtösterreichischem Entwicklungsplan (2025-2030) eine Verbesserung der Betreuungsrelation in Richtung 1:35 angestrebt. Die Betreuungsverhältnisse waren auch ein Faktor beim aktuellen „Times Higher Education Ranking“, das mehr als 1900 Universitäten aus 108 Ländern und Regionen umfasste. Und da gebe es in Österreich weiterhin viel „Luft nach oben“, sagte Elmar Pichl, Hochschul-Sektionschef im Bildungsministerium, bei einem Pressegespräch. Andererseits würden die meisten Forschungsindikatoren in der aktuellen Bewertung schon recht gut aussehen. Im Bann der Rankings Neben der Lehre wurden in der Rangliste auch Forschungsumfeld und -qualität sowie Internationalisierung und Kooperationen mit der Wirtschaft erfasst. Die Uni Wien verbesserte sich heuer um fünf Plätze auf Rang 119; deutlich zurück fielen hingegen die drei heimischen Medizin-Unis. „Jedoch sollte man diese Ergebnisse mit Vorsicht genießen“, bemerkt Unger. „Es zählt etwa die absolute Zahl der Publikationen, d. h. wenn man die Med-Uni Wien wieder mit der Uni Wien fusionieren würde, wäre die Bewertung viel besser ausgefallen. In Frankreich hat Präsident Macron so einen Schachzug gemacht, um wieder eine französische Uni unter die Top 20 zu bringen.“ Aber zurück zu den Studierenden: Dass sie einen neuen Zeitgeist zum Ausdruck bringen und ihr Studium schneller absolvieren wollen als frühere Generationen, ist eine häufige Beobachtung, die auch Unger gut nachvollziehen kann: „Die ÖH, aber auch viele Freiwilligenorganisationen jammern, dass die Studierenden kein Interesse mehr für anderweitiges Engagement haben. Die jungen Leute wollen nur rasch die Punkte für ihr Fach sammeln und schauen dabei weder links noch rechts.“ Doch deren Einstellung korreliert auch mit den Verhältnissen am Arbeitsmarkt, und der ist derzeit stark an der Nachfrage orientiert. „Was passiert, wenn die Jungen realisieren, dass die Unternehmen ohnehin händeringend nach Personal suchen?“, fragt sich der IHS-Experte. „Zudem haben die multiplen Krisen viel verändert: Wie sich Corona und die Klimafrage langfristig auswirken, bleibt abzuwarten. Eine extreme Position sah man kürzlich auf einem Transparent bei den ‚Fridays for Future‘ in Berlin: ‚Wofür sollen wir noch lernen, wenn es für uns keine Zukunft mehr gibt?‘“ Weiter denken DER FURCHE PODCAST Der überschätzte Mensch Sie gilt als eine der öffentlichkeitswirksamsten Denkerinnen Österreichs: Lisz Hirn. „Der überschätzte Mensch“ heißt ihr neues Buch. Im Podcast mit FURCHE- Chefredakteurin Doris Helmberger spricht sie über eine neue „Anthropologie der Verletzlichkeit“. furche.at/podcast
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