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DIE FURCHE 05.10.2023

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DIE FURCHE · 40 18 Theater & Literatur 5. Oktober 2023 Höchst amüsant behandeln „Die Nebenwirkungen“ im Burgtheater Kontroversen unserer Zeit und daraus resultierende Verwerfungen. Ein Virus macht Schule bis am Ende nur mehr ein kleiner Sesselkreisteil übrig bleiben wird. Beim eilig einberufenen „Community-offenen Dialogforum“ per Videokonferenz soll eine gemeinsame Vorgehensweise besprochen werden, doch der Eltern-Chat mündet stattdessen in wüsten Beschimpfungen, absurden Argumentationen und offenen Anfeindungen zwischen Impfbefürwortern und Impfgegnern. Eine grandiose Szene, die sich über den Bildschirm und auf der Bühne abspielt. Brüllend-komisch und erschreckend authentisch zugleich gibt diese Revue von Social- Media-Kommentaren einen unrühmlichen Überblick über vergangene Coronajahre. „Das Format hat uns nicht weitergeholfen“, lautet Dons Resümee zum desaströsen Ausgang der digitalen Zusammenkunft. Von Christine Ehardt Impfpflicht, Wissenschaftsskepsis, Verschwörungstheorien: Schlüsselwörter, die wir heute untrennbar mit den letzten dreieinhalb Pandemiejahren verbinden und doch sind es die Zutaten für ein Stück, das bereits 2016 geschrieben und 2018 uraufgeführt wurde. „Die Nebenwirkungen“ (im englischen Original mit „Eureka Day“ betitelt) des amerikanischen Erfolgsdramatikers Jonathan Spector erzählt die Geschichte einer Mumps-Epidemie an der fiktiven Privatschule „Eureka“ in den USA, in deren Verlauf sich schwere Zerwürfnisse innerhalb einer scheinbar funktionierenden Schulgemeinschaft auftun. Bei der deutschsprachigen Erstaufführung am Wiener Burgtheater in der Regie des Nürnberger Schauspieldirektors Jan Philipp Gloger zeigt sich, dass sich diese Wie tun? Im Ringen um einen Konsens liegen die Nerven blank. Am Ende bestimmen die Mehrheit sowie die Macht des Geldes. Exzellent gespielt von Maximilian Pulst, Regina Fritsch, Zeynep Buyraç und Markus Hering. Satire nicht nur in einer prophetischen Vorwegnahme von „Covid-19“ erschöpft. Vielmehr spiegelt die präzise und amüsante Inszenierung Verwerfungen unserer Zeit wider, die unsere Gesellschaft schon sehr viel länger beschäftigen und sich hier im Mikrokosmos einer einzelnen Bildungseinrichtung zum grotesken Kulturkampf verdichten. „Willkommen im Schuljahr 2018/2019“ steht mit Kreideschrift auf der Bühnenwand, Schulleiter Don (Markus Hering), lässig gekleidet und mit ergrautem Pferdeschwanz, eröffnet die „ Bittere Pillen, die diese amüsante Aufarbeitung pandemischer Verhältnisse bereithält und dabei spannende Fragen zu unserem Verständnis von Demokratie und Politik aufwirft. “ Beiratssitzung mit vier Elternvertretern. Die resolute Suzanne (Regina Fritsch) hält als ungekrönte Schulkönigin Dinkelkekse für alle bereit, die Alleinerzieherin May (Lilith Häßle) ist weniger an Standpunkten als an Vollzeitvater und Tech-Millionär Eli (Maximilian Pulst) interessiert, der als beflissener Protokollführer agiert, und Carina (Zeynep Buyraç), die als neues Mitglied mit migrantischem Hintergrund und lernbeeinträchtigtem Sohnemann herablassend aber freundlich mit den progressiven Schulregeln vertraut gemacht wird. Genderneutrale Anrede der Schüler, keine wertenden Begrifflichkeiten zu Herkunft, Religion oder der Ernährungsweise, Entscheidungen sind nur im Konsens zu treffen, auch wenn das viel Sitzfleisch erfordert. Hier ist alles auf das Wohl der Kinder ausgerichtet. Achtsamkeit, Diversität und Respekt werden großgeschrieben und man ist stolz darauf, dass die „Eureka-Kids“ beim Fußballspielen jubeln, wenn die andere Mannschaft ein Tor schießt. Die Risse in dieser schönen neuen Schulwelt sind kaum zu erkennen, nur ein bissiger Seitenhieb von Suzanne über den Unterschied zwischen Vollzahlern und geförderten Mitgliedern lässt bereits erste Konfliktlinien erahnen. Und tatsächlich macht ein Brief der Gesundheitsbehörde der zur Schau gestellten Harmonie ein rasches Ende. Nach einem Mumpsausbruch dürfen nur mehr geimpfte oder genesene Schüler am Unterricht teilnehmen. Ein erbitterter Interessenskampf beginnt zu toben, der sich auch auf das ausgeklügelte Bühnenarrangement (Bühne: Marie Roth) auswirkt. Dutzende Sessel bilden zu Beginn noch einen einträchtigen Kreis, im Laufe der Handlung formieren sich daraus immer chaotischere Zusammenstellungen Foto: © Matthias Horn Keine Frage des Konsens Es verhärten sich die Fronten, die Schule bleibt geschlossen, die Nerven liegen blank. Zunehmend entwickelt sich das Gesellschaftsdrama zum psychologisierten Kammerspiel zwischen den kontroversiellen Positionen von Suzanne, deren Impfskepsis auf einem tragischen Familienschicksal fußt, und Carina, die das Gemeinwohl den Einzelinteressen vorzieht. Toll gespielt von Fritsch als passiv-aggressive Matrone und Buyraç, die unaufgeregt aber nachdrücklich beginnt, ihr das Heft aus der Hand zu nehmen. Am Ende bestimmen die Mehrheit sowie die Macht des Geldes, der vielbeschworene Konsens ist nur durch den Ausschluss von Gegenmeinungen zu haben. Bittere Pillen, die diese amüsante Aufarbeitung pandemischer Verhältnisse bereithält und dabei spannende Fragen zu unserem Verständnis von Demokratie und Politik aufwirft. Anhaltender Applaus für einen so klugen wie kurzweiligen Premierenabend. Die Nebenwirkungen Burgtheater, 5., 7., 20., 31.10., 4.11. GANZ DICHT VON SEMIER INSAYIF Poetische Meditationen & über die Dualität hinweg teilen unser Ungleichgewicht“, so lautet der Titel des neuen Gedichtbandes von Kirstin „Wir Schwab. Ein Versuch, in 82 Gedichten mit poetischen Mitteln auszuloten, wie menschliche Existenz ganz grundsätzlich, in einer Art Augenblicklichkeitsverdichtung in fünf Kapiteln begreifbar zu machen ist. Und dass dies nur multiperspektivisch funktioniert, und zwar auch bezogen auf die eigene Identitätskonstruktion, wird im Gedicht mit dem Titel „damaged good“ hörbar, da heißt es: „…/vielleicht gibt es keine/Reparatur der Bruchstellen/nur Winkel/der Betrachtung/ heilende Perspektiven/dass du mich/siehst/drehst/ suchst/ fragst//setzt mich zusammen“. Die Gedichte sind beinahe alle ungereimt, ohne erkennbares Metrum, dadurch vielleicht aber unmittelbarer und stärker am Augenblick orientiert als würden sie sich einer strengen Form hingeben. Zentrales Motiv ist dabei das Überwinden von Dichotomien und dualem Denken. Was heißt es gleichzeitig getrennt, verbunden, Teil von etwas, ganz für sich, vergangen, gegenwärtig und zukünftig zu sein? All diese Unvereinbarkeiten werden versucht in Schwebe zu halten. Dieses „Findespiel“, diese sehnende Erkenntnissucht scheint Motor und Antriebskraft für die poetische Arbeit zu sein. Jedes Gedicht, jede Verszeile, jedes Wort, jeder Buchstabe vielleicht – sind gleichzeitig „Linien zum Trennen und Verbinden“. „wie beides?“, so der Titel eines Gedichtes, in dem es weiter heißt: „/gewesen und sein/gesagt und sagend/aufgeschnitten und ganz/“. „poetische meditationen“, so lautet der Titel des Manuskriptes von Manon Bauer. Und tatsächlich ist eine wesentliche Aufmerksamkeitsfokussierung auf verschiedensten Ebenen erfahrbar. Jedes Gedicht hat ein sorgfältig ausgewähltes Zitat oder Zitatfragment, das in einem Suchprozess der Dichterin zugefallen und mit dem sie in intensive Resonanz geraten ist, als konkreten Ausgangspunkt. „vor dem Leermond habe ich nie/unter die farne geschaut die/sich über buchstaben beugen/als wären sie götter/ …“. Diese Ausgangspunkte oder -worte sind streng und konsequent immer kursiv an den Anfang jedes Gedichtes gesetzt und dadurch klar identifizierbar. Zusätzlich gibt es am Ende jedes Gedichtes genaue Informationen über die Herkunft der sowohl deutschsprachigen als auch übersetzten Zitate, die u. a. von Paul Celan, Ilse Aichinger, Nora Iuga, Petra Ganglbauer, Sophie Reyer, Raphael Urweider, Julia Costa, Timo Brandt stammen. Dadurch bekommt man nicht nur wertvolle Hinweise und Leseanregungen, sondern auch die Möglichkeit eines intertextuellen oder Hypertextlesens. Es sind meist kürzere Gedichte ohne Endreim, klanglich jedoch oft mit Wiederholungen, Assonanzen und Anlautreimen, die als meditative Fortschreibungen den poetischen Atem der Ausgangsfragmente als ein Einatmen fokussieren. Das Ausatmen wäre dann folgerichtig jedes einzelne entstandene Gedicht selbst. „was atmen bedeutet/in einem solchen wort/jenseits der lautgrenze/blähen die kiemen/und warten/auf wasser/ …“. „ganz dicht“ stellt jeweils vor einem Dicht-Fest in der Alten Schmiede (nächstes: 12.10.2023) Lyrik vor. Wir teilen unser Ungleichgewicht Gedichte von Kirstin Schwab Löcker Verlag 2023 108 S., kart, € 19,80,–

DIE FURCHE · 40 5. Oktober 2023 Literatur 19 In seinem neuen Roman „0 1 2“ schenkt Daniel Wisser seinem Protagonisten nach 30 Jahren ein zweites Leben. Trotz Fortschritt hat sich die Gesellschaft in elementaren Fragen nicht weiterentwickelt. Am Prüfstand Von Anton Thuswaldner Das ist schon einmal ein Vorteil, dass nicht schon wieder ein Autor in die Empathie-Falle tappt. Was muss man nicht alles schlucken, wenn sich jemand die Identität einer Figur anpasst, die mit dem eigenen Leben gar nichts zu tun hat, aber meint, mit etwas Einfühlung komme man ihr schon nahe. Nein, damit ist gar nichts getan! Daraus entstehen literarische Gestalten, die ticken wie die Verfasserin oder der Verfasser, nur ausgestattet mit einer eigenen Biografie. Literatur ist ohne Reflexion nicht zu haben. Sie muss nicht immer ausgestellt sein, damit jeder sieht, wie ernsthaft vorgegangen wird, es ist nicht die schlechteste Methode, sie im Erzählen aufgehen zu lassen. Daniel Wisser gehört zu jener Art von Autoren, die das Denken hochhalten und einen kritischen Umgang mit den Figuren, die im Text aufscheinen, für selbstverständlich nehmen. Das ist gar nicht so einfach, immerhin schreibt er in seinem neuen Roman aus der Ich-Perspektive eines Mannes, der allen Grund hat, mit seiner Welt zu hadern. Also führt Wisser eine Kontrollinstanz ein. Der Mann aus dem Eis Erik, so heißt der Mann mit einzigartiger Geschichte, darf sich nicht gehen lassen. Er zeichnet nämlich die brennenden Ereignisse seines Lebens auf – harter, emotionaler Stoff, keine Frage – und leitet den Text an eine Journalistin weiter. Die soll den Text bearbeiten. Jeder Tagesration Geschriebenem steht ein aktueller Kommentar voran, in dem der Gegenwarts-Erik zu Wort kommt. Vergangenheit und Gegenwart in stetem Wechsel, dazu Kommentare, die das gerade erledigte Handwerk des Schreibens in Frage stellen: Die Journalistin „findet meine Erzählung wirr, meinen Stil plump, die Dialoge zu lang, und sie schreibt: Die indirekte Rede ist komplett falsch.“ So ist klargestellt, dass es sich um bearbeitetes Leben handelt. Ohne Abstriche sind Erfahrungen, kaum werden sie in Sprache gebracht, nicht zu haben. Nie unternimmt Erik Anstrengungen, Sympathie oder auch nur Anteilnahme zu wecken. Er ist ein Heros der Gleichgültigkeit, die Nachrede schert ihn nicht. Gut steigen die anderen Charaktere aber auch nicht aus. Das ist leicht zu verstehen in einer Welt, in der der eigene Vorteil so hoch im Kurs steht. Aber um wen, um alles in der Welt, handelt es sich bei Erik Montelius, um den ein derartiger Wirbel veranstaltet wird, dass alle aus dem Häuschen sind? Er war einmal ein Computerpionier, bevor er an Krebs starb und in einer Kryostase-Prozedur in flüssigem Stickstoff quasi auf Eis gelegt wurde. Dreißig Jahre später wird er aufgetaut, operiert, und am 9. November 2021 erlangt er das Bewusstsein. Eine medizinische Sensation ist zu vermelden, denn er ist der erste Mensch, dem ein zweites Leben vergönnt ist. Was folgt daraus? Lauter Komplikationen, die Wisser konsequent durchspielt. Die Welt hat sich verändert, Neuorientierung ist dringend notwendig. Ihm vertraute Menschen sind älter geworden, seine zur Witwe gewordene Frau hat seinen Freund geheiratet, jenen, mit dem er gemeinsam an einem Computer, der nicht nach binärem, sondern ternärem Prinzip funktioniert, entwickelt hat. Eine Pandemie überzieht den Globus. Nicht viel hat sich verändert. Erik selbst ist abgemagert, älter Daniel Wisser „ Ein Mann, dem dreißig Jahre eigener Entwicklung fehlen, trifft unverhofft auf eine Gesellschaft, die alle Neuerungen mitgemacht hat und dabei abgeklärter, härter, perfider geworden ist. “ Foto: Martin Rauchenwald Der Kampf um Identität steht im Zentrum seines neuen Buches. 2018 erhielt der in Klagenfurt geborene Autor (*1971) für seinen vielseits beachteten Roman „Königin der Berge“ den Österreichischen Buchpreis. geworden ist er nicht. Als er starb, führten die USA und ihre Verbündeten einen Krieg gegen den Irak, bald nachdem Erik erwachte, griff Russland die Ukraine an, und noch immer fahren Autos mit Benzin und Diesel. Überhaupt nichts hat sich verändert im Menschlichen, das Prinzip Gier regiert nach wie vor die Welt, im Großen und im Kleinen sowieso. Eriks früherer Geschäftspartner hat sich auf Kosten Eriks bereichert, spielt ihm schon wieder übel mit. Er hat ernsthaftes Interesse daran, Erik unter den Toten zu sehen. Eigentlich darf es ihn ja gar nicht geben. Auferstehung ist nicht vorgesehen, also hat er keine Identität. Er wird kurzfristig zum Medienstar, was aber für die Bürokratie nicht von Bedeutung ist, für die ein Mann ohne Dokumente ein Asylant sein muss. Ein bisschen Kafka muss sein, wenn Wisser den Kampf des unvermutet zum Staatenlosen Gewordenen in all seiner Aberwitzigkeit nachzeichnet. Er kommt ins Flüchtlingsheim, wo er an einem Wertekurs teilnimmt. Wisser hält Nachschau beim Galgenhumor, der der aufmüpfige Bruder des Todernstes ist. Spiel der Egoismen und Lebenslügen Der Kampf um Identität, eines der großen Themen der Literatur, steht im Zentrum des Romans. Elemente des Spannungsromans fließen ein, wenn herauskommt, wie Erik nach dem Leben getrachtet wird und sich eine Verschwörungsgesellschaft gegen ihn stellt. Das wird eher beiläufig abgehandelt, was heißt, dass es Wisser um etwas anderes geht, was wichtiger ist. Ein Mann, dem dreißig Jahre eigener Entwicklung fehlen, trifft unverhofft auf eine Gesellschaft, die alle Neuerungen mitgemacht hat und dabei abgeklärter, härter, perfider geworden ist. Die ehemals Vertrautesten sind zu Fremdlingen geworden, denen schwer ein Platz im Leben einzuräumen ist. Umgekehrt verhält es sich genauso. So tritt Erik wie ein Rächer aus der Tiefe der Geschichte auf. Mit seiner Haltung von gestern erschreckt er alle und macht sie kopfscheu. Er sieht, was aus den Ansprüchen von ehemals geworden ist und trifft auf erbärmliche Kleinbürger. Nun kommt er wie eine Heimsuchung über sie. Er ist nicht nur dreißig Jahre jünger geblieben, auch naiver, weniger verkorkst, unangepasst. Er nimmt sich heraus, was ihm nicht zugestanden wird. Er geht ein Verhältnis mit der Tochter seines früheren Kompagnons ein, bekommt ein Kind mit ihr. Damit macht er sich gesellschaftlich unmöglich. Kein Wunder, dass es jetzt, da Verhältnisse neu überprüft werden, zu Konflikten und Trennungen kommt. Seine Gegenwart verunsichert seine Angehörigen derart, dass ihr bisheriges Leben als ein unter dem Zeichen der Scheinharmonie stehendes decouvriert wird. Der Schrecken fährt in die Charakterschweine, und nichts geht mehr weiter, wie es einmal war. Der neue Daniel Wisser, ein politisches Buch? Gewiss! Unsere Gesellschaft steht auf dem Prüfstand. Sie gibt keine gute Figur ab in diesem Spiel der Egoismen und Fest der Lebenslügen. 0 1 2 (Null Eins Zwei) Roman von Daniel Wisser Luchterhand 2023 448 S., geb., € 25,70,– LEKTORIX DES MONATS Teenage-Girl im Skatepark Buchpreis von FURCHE, Stube und Institut für Jugendliteratur Kurz vor dem Rand Von Eva Rottmann Jacoby & Stuart 2023 204 S., geb., € 16,50,– Von Alexandra Hofer Skateboarden. Eine Subkultur, einst sehr negativ behaftet, ist aus dem Stadtbild kaum wegzudenken: Ob als über Hindernisse fliegende Bretter oder das typische Geräusch, das erklingt, wenn Wheels über Asphalt und Pflastersteine rattern. Das Geräusch, das auch das Herz von Protagonistin Ari schneller schlagen lässt. Mit der namensgebenden Prinzessin Arielle, die ihre lange Zeit von der Bildfläche verschwundene Mutter liebte, hat sie hingegen nicht viel gemein. Nicht nur, dass sie nicht versteht, wie frau für einen Prinzen ihre Stimme aufgeben kann, ganz grundsätzlich hat sie mit den patriarchalen Strukturen des Films – und der Gesellschaft – nichts am Hut. Stattdessen wird sie von der Autorin Eva Rottmann, die selbst leidenschaftlich ihre Füße aufs Deck stellt, als eine Figur gezeichnet, die an vielen Genderstereotypen vorbeischrammt, diese kritisch aufgreift und dekonstruiert. Ganz der Atmosphäre des Skateparks – auch auf der sprachlichen Ebene – gleichermaßen wie einer jugendlichen Lebensrealität verhaftet, nimmt auch das Verliebtsein einen zentralen Stellenwert ein; das gelingt aber erfreulicherweise abseits von Kitsch. Vielmehr reflektiert Ari in 14 Tagen, entlang derer der Roman retrospektiv erzählt wird, wie es dazu kommen konnte, dass sie sich überhaupt in Tom verliebt, der meint: Man braucht einen gewissen Basishass, um zu skaten. Er ist rücksichtslos, neu in der Stadt, hat Ecken, Kanten und irgendetwas Geheimnisvolles, das sich erst am Ende offenbart. Die besondere Tagebuchform ermöglicht eine Innenperspektive, die in zynischem Ton keinen Hehl daraus macht, dass es Ari gleichgültig ist, was ihr Umfeld von ihr hält. Zumindest dachte sie das. Zunehmend beginnt sie damit zu hadern, dass ihre Skaterkumpels sie nicht als Foto: iStock / aluxum Mädchen, als potenzielle Freundin oder attraktiv sehen. Umstände, die sie selbst mit Gerüchten und queerem Ausprobieren genährt hat. Als Tochter, Freundin, Verliebte und Skaterin sieht sich Ari mit Fragen der Selbstidentität konfrontiert, die durch das hilflose Gefühl des Verliebtseins noch intensiviert werden. Zwischen all dem finden familiäre Dynamiken, gesellschaftspolitische Themen wie Armut sowie psychische Krankheiten ihren Raum und charakterisieren Aris heterogenes Umfeld. Die romantische Liebesgeschichte wird dabei nicht auserzählt. Vielmehr gelingt es Rottmann, durch gemeinsame Mutproben und stille Momente abseits des Skateparklärms, die (Nicht-)Beziehung der beiden zu beschreiben, in der sich Ari auch ein Stück weit selbst besser kennenlernt.

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