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DIE FURCHE 05.10.2023

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DIE FURCHE · 40 12 Gesellschaft 5. Oktober 2023 Im Umgang mit den eigenen Müttern und Vätern verfallen viele in ihr Dasein als Kind zurück. Wie dennoch eine gute Verbindung gelingen kann, thematisieren die Therapeuten Sandra Teml und Martin Wall in einem neuen Buch. Sich von den Lesen Sie, wie sich der Diskurs entwickelt hat in „Die Leiden der alleingelassenen Eltern“ von Angela Thierry (2.12.1999) auf furche.at. Illu: iStock / Oleksandra Bezverkha (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Eltern lösen Von Andrea Burchhart Ent-Eltert Sandra Teml und Martin Wall wollen Eltern nicht herabwürdigen, sondern ihnen die Möglichkeit geben, aus der Elternrolle entlassen zu werden. Menschen wie Paul kennt vermutlich jeder. Mitte 50, beruflich sehr erfolgreich, glücklich verheiratet, drei prächtige Kinder, Haus, Garten, Hund. Man könnte meinen, Paul hat sein Leben im Griff. Aber nach jedem Besuch bei seinen Eltern fühlt er sich schlecht und schuldig. Die Vorwürfe sind immer die gleichen. Es sei falsch gewesen, den Familienbetrieb nicht zu übernehmen. Was habe er sich nur dabei gedacht, seine Eltern allein zu lassen und in eine andere Stadt zu ziehen. Was ihn immer öfter zur Frage führt: Müssen Kinder ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie die Erwartungen der Eltern enttäuschen, um ihren eigenen Interessen und Lebensvorstellungen gerecht zu werden? Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind nicht immer einfach. Oftmals sind sie auf beiden Seiten von falschen Erwartungen geprägt. Manche Kinder haben das Gefühl, dass ihre Eltern auch als Erwachsene noch einen großen Einfluss auf ihr Leben haben. Sei es materiell, weil „ Diese emotionale Abnabelung ist ein aktiver Prozess und gehört zu den schwierigsten Aufgaben im Leben. “ sie immer noch finanziell von den Eltern unterstützt werden. Oder moralisch, weil die Eltern bestimmte Dinge von ihnen erwarten: Aufmerksamkeit, einen bestimmten beruflichen Erfolg oder weil sie sich in die Partnerwahl einmischen. Das Therapeuten- und Autorenpaar Sandra Teml und Martin Wall arbeitet seit vielen Jahren intensiv zu diesem Thema. Mit ihrem aktuellen Buch „Ent-Eltert euch! Wie wir die emotionale Abhängigkeit von unseren Eltern überwinden und endlich uns selbst leben“ erzählen sie aus ihrer Beratungspraxis und wollen Menschen dabei helfen, die im Erwachsenenleben hinderlichen Bewältigungsstrategien aus der Kindheit hinter sich zu lassen. „Ent-Elterung“ wollen die beiden aber keinesfalls als Elternbashing verstanden wissen. Es gehe auch nicht darum, den Kontakt zu den Eltern abzubrechen. Vielmehr sei „Ent-Elterung“ als Einladung zu verstehen, die eigenen Eltern aus ihrer Elternrolle zu entlassen und herauszufinden, wer man selbst ist und sich den eigenen Eltern als diese Person zu zeigen. Diese emotionale Abnabelung ist ein aktiver Prozess und gehört zu den schwierigsten Aufgaben im Leben. Das Ende der Kindheit ist dann erreicht, wenn man die vollkommene Verantwortung für sich übernommen hat. Und: Erwachsen sein bedeutet auch, alte Bahnen zu verlassen und neue Wege zu gehen. Erst wenn unangemessene Abhängigkeits- und Schuldgefühle aufgelöst werden, sind glücklichere Beziehungen und ein eigenständiges Leben möglich. Beruhigend zu wissen: Es gibt weder die perfekte Kindheit noch die perfekten Eltern. Die perfekte Welt existiert nicht. „Wir können uns aber aufmachen, mit all dem, was uns begegnet, einen neuen Umgang zu finden. Auch mit unseren Eltern und all den anderen emotional nahen Menschen,

DIE FURCHE · 40 5. Oktober 2023 Gesellschaft 13 „. Viele Menschen erhoffen sich noch im Erwachsenenalter von ihren Eltern das, was ihnen in der Kindheit verwehrt wurde: Liebe, Anerkennung, Respekt. “ die in unserem Leben von Bedeutung sind“, schreiben Teml und Wall. Zu den existenziellen Ablöseschritten gehört, dass man sich von unpassenden elterlichen Erwartungen befreit und auch die eigenen Erwartungen an die Eltern zu hinterfragen. Es sei zwar schmerzhaft, aber es gehöre zum Erwachsenwerden dazu, irgendwann aufzuhören, sich etwas von den Eltern zu wünschen, was sie uns noch nie geben konnten. Viele Menschen erhoffen sich noch im Erwachsenenalter von ihren Eltern das, was ihnen in der Kindheit verwehrt wurde: Liebe, Anerkennung, Respekt. Und werden immer wieder enttäuscht. Dann hilft es zu akzeptieren, dass unsere Eltern nicht so sind, oder uns nicht das geben können, was wir uns wünschen. „Wir können von niemandem, nicht von unserem Partner, unseren Kindern und unseren heutigen Eltern das bekommen, was wir von unseren damaligen Eltern nicht bekommen haben“, heißt es im Ratgeber. Statt in der Rolle des Kindes oder Opfers gegenüber den Eltern zu verharren, sollte man anfangen, für sich selbst zu sorgen, sich selbst ein guter Vater oder eine gute Mutter zu sein. In der Theorie klingt das einfach. In der Praxis ist das aber nicht immer leicht umzusetzen. Vor allem, wenn man als Kind nicht erfahren hat, dass die eigenen Bedürfnisse und Grenzen respektiert wurden. Dennoch ist es möglich, Schritt für Schritt zu lernen, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und zu formulieren. Ein Notizbuch für den Abstand Neben einer Vielzahl von Fallbeispielen bietet das Buch daher auch zahlreiche Handlungsanleitungen. Die Autoren empfehlen ihren Leserinnen und Lesern die Anschaffung eines Notizbuches, um sämtliche Reflexionsfragen schriftlich beantworten zu können und eine effektive und aktive „Ent-Elterung“ in Gang zu setzen. „Was erhoffst du dir oder welchen Effekt willst du erzeugen, wenn du tratscht und lästerst?“ „Wofür tun meine Eltern, was sie tun? Welche Absicht verfolgen sie?“ „Verbringst du Zeit mit deinen Eltern, obwohl du lieber etwas anderes tun würdest?“ „Gibt es Dinge, die du nur aus Angst tust, weil du denkst, sonst würdest du deine Eltern verärgern oder es würde deinen Wert in den Augen deiner Eltern vermindern?“ Tatsache ist: Das Thema ist so komplex und anspruchsvoll, dass es vermutlich für die Wenigsten einfach ist, nach der Lektüre tatsächlich den aktiven Schreib-Prozess zu starten. Hilfreich sind die zahlreichen Dialoge zwischen erwachsenen „ Statt in der Rolle des Kindes oder Opfers gegenüber den Eltern zu verharren, sollte man anfangen, für sich selbst zu sorgen, sich selbst ein guter Vater oder eine gute Mutter zu sein. “ Kindern und Eltern bzw. die Darstellung häufiger Familien-Dynamiken. Man begegnet der Familie, in der jeder (scheinbar) so sein darf, wie er ist. Den ungerechten Eltern, die ein Kind bevorzugen, den Elternpaaren, die sich nie einig sind und die Gefühle vom Tisch wischen. Und man liest vom Aufwachsen mit sich aufopfernden Bezugspersonen, Müttern, die sich ihren Kindern als beste Freundin an den Hals werfen. Teml und Wall zufolge ist der Lebensabschnitt, in dem man selbst Elternteil wird, oft ein Zeitpunkt, an dem man mit Themen aus der eigenen Kindheit konfrontiert wird und beginnt, sich mit der Beziehung zu den eigenen Eltern auseinanderzusetzen. Und sich überlegt, wie man selbst seine Rolle als Mutter bzw. Vater anlegen möchte. „Viele Eltern von heute entscheiden sich für eine bewusste Elternschaft. Dazu gehört, von eigenen elterlichen Prägungen Abstand zu nehmen. Diese modernen Eltern heißen ihre Kinder als anfangs abhängige und später immer unabhängiger werdende Subjekte willkommen.“ Sie sind hochreflektiert, bilden sich weiter, sind an gleichwürdigen Beziehungen zu den Kindern interessiert, trauen sich aber nicht, bei ihren eigenen Eltern sie selbst zu sein, werden zu Ja-Sagern und unfähig, für sich selbst einzustehen. An diesem Punkt heißt es brutal ehrlich: „Du brauchst keine Eltern. Du hast Eltern. Verhalte dich ihnen gegenüber erwachsen.“ Ent-Eltert euch! Wie wir die emotionale Abhängigkeit von unseren Eltern überwinden und endlich uns selbst leben von Sandra Teml u. Martin Wall, Gräfe & Unzer 2023 238 S., kart., € 21,50,– DAS ERWARTET SIE IN DEN NÄCHSTEN WOCHEN. Die FURCHE nimmt in den kommenden Ausgaben folgende Themen* in den Fokus: Versagte Erinnerung Nr. 43 • 25. Oktober 2023 Vor 85 Jahren bildeten die Novemberpogrome 1938 den Auftakt zur Schoa. Heute bricht sich recht(sradikal)es Gedankengut erneut ungeahnte Bahnen. Hat das Erinnern an die Verbrechen der Nationalsozialisten versagt? Schätze der Natur Nr. 45 • 9. November 2023 Ökosysteme erbringen auch aus wirtschaftlicher Sicht gigantische „Leistungen“. Welche Ansätze gibt es gegen den Verlust der biologischen Vielfalt? Ein Fokus zu den „Tagen der Biodiversität“ an der BOKU Wien. Im Wechsel Nr. 47 • 23. November 2023 Sie sind eine oft gefürchtete Phase des Umbruchs, ein neuer Lebensabschnitt, der an kaum einer Frau spurlos vorübergeht: die Wechseljahre. Wir beleuchten ein vielschichtiges Phänomen – auch bei Männern. Die Gabe Nr. 49 • 7. Dezember 2023 Vor Weihnachten greift eine große Frage um sich: Wem was schenken? Was bedeutet diese Gewohnheit heute noch? Und woher kommt sie eigentlich? Ein Streifzug durch Geschichte und Gegenwart. Last Christmas Nr. 51/52 • 21. Dezember Aus der Populärkultur ist Weihnachten nicht wegzudenken – das zeigt sich auch an Songs von „Last Christmas“ bis „Feliz Navidad“. Oft ist es einer der letzten religiösen Ankerpunkte in säkularisiertem und kommerziellem Umfeld. *Änderungen aus Aktualitätsgründen vorbehalten. Häfen-Elegie Nr. 44 • 2. November 2023 Kein Ende der Klagen über den Strafvollzug: zu viel Wegsperren, zu wenig Resozialisierung. Während Radikalisierung, Gewalt- und Drogenprobleme wachsen, schrumpft der Jugend vollzug. Was ist zu tun? Der Osten Nr. 46 • 16. November 2023 Kitsch, Korruption, Kommunismus: Der Osten ist mit unzähligen Narrativen versehen. Noch heute gilt er als Gegenstück zu Kapitalismus und Konsum. Aber was steckt hinter den Klischees? Und was macht den Osten heute aus? Alltägliches Glück Nr. 48 • 30. November 2023 Die meiste Zeit verbringen wir darin: im Alltag. Wie lässt er sich gut gestalten? Ein Fokus frei nach Marcel Proust: „Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern mit neuen Augen zu sehen.“ Der Norden Nr. 50 • 14. Dezember 2023 Bekommt der Norden angesichts der Erderwärmung einen neuen (wirtschaftlichen) Stellenwert? Und: Warum ist in puncto Mode und Mobiliar alles en vogue, was im hohen Norden kreiert wurde? Eine erfrischende Spurensuche. Frankenstein 2.0? Nr. 1 • 4. Jänner 2024 Menschliche Nieren in Schweinembryonen, Embryomodelle aus Stammzellen, Schädeldecken aus dem 3D-Drucker: Die Wissenschaft überwindet laufend Barrieren. Ist das die Neuschaffung des Menschen und wie weit darf sie gehen? ALLES AUCH DIGITAL AUF FURCHE.AT Podcasts, Videos, E-Paper und alle FURCHE-Artikel seit 1945 JETZT 77 Jahre Zeitgeschichte im NAVIGATOR.

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