DIE FURCHE · 40 10 Gesellschaft 5. Oktober 2023 Unter dem Radar In Erstaufnahmezentren gibt es für unbegleitete Minderjährige derzeit keine Obsorge. Sie können die Zentren ungefragt verlassen. Was mit ihnen geschieht, weiß in der Folge aber niemand. Das Gespräch führte Johannes Greß Niemand weiß, was mit den tausenden minderjährigen Flüchtlingen passiert, die jährlich in Österreich aus den offiziellen Statistiken des Bundes verschwinden. Im Interview spricht Fluchtwaisen-Expertin Lisa Wolfsegger darüber, wieso es ausgerechnet in Österreich so viele Asylwaisen gibt und woran notwendige Reformen scheitern. DIE FURCHE: Im Vorjahr sind in Österreich 11.613 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge verschwunden. Was ist mit diesen Kindern und Jugendlichen passiert? Lisa Wolfsegger: Man weiß es nicht, weil dieser Frage niemand genauer nachgeht. Der Grund des Verschwindens hat mehrere Ursachen. Einerseits haben die Kinder und Jugendlichen vielleicht Verwandte in anderen EU-Ländern und wollen weiterziehen. Diese Kinder wird man auch nicht aufhalten können – aber man könnte sie unterstützen, legal zu Verwandten zu kommen. Andere verschwinden, weil sehr viele Gerüchte in Umlauf sind, etwa dass Österreich keine Afghan(inn)en aufnehme. Was nicht stimmt, weil jede Person aus Afghanistan, die einen Asylantrag in Österreich stellt, zu nahezu 100 Prozent einen Asyl- oder Schutzstatus erhält. Genauso gibt es das Gerücht, dass du als Minderjähriger generell keinen Status bekommst – was auch nicht stimmt. Und die andere Gruppe verschwindet, weil die Betreuung in den Erstaufnahmezentren so schlecht ist. DIE FURCHE: Das müssen Sie erklären: Was passiert, wenn ein unbegleiteter Minderjähriger in Österreich Asyl beantragt? Wolfsegger: Das Prozedere ist dasselbe wie bei allen anderen Asylwerber(inne) n. Die meisten der Jugendlichen kommen – wie auch die Erwachsenen – in Erstaufnahmezentren wie Traiskirchen. Dort fängt das Asylverfahren an. Solange sie dort sind, sind sie ohne Aufsicht, es übernimmt niemand die rechtliche Obsorge. Und erst wenn in einem Quartier der Bundesländer ein Platz frei wird, können sie das Erstaufnahmezentrum verlassen. Die Einrichtungen in den Bundesländern werden von NGOs betrieben, dort ist die Betreuung deutlich besser und die Minderjährigen bekommen einen Obsorgeberechtigten. DIE FURCHE: Wie lange dauert es im Schnitt, bis minderjährige Flüchtlinge die Erstaufnahmezentren verlassen können? Lesen Sie ausgewählte Texte zum aktuellen Diskurs über das Thema „Flucht ohne Ende“ im gleichnamigen Dossier furche.at. In Österreich sind tausende unbegleitete Minderjährige ohne Obsorge. Welche Folgen das für die Betroffenen hat, erklärt Sozialanthropologin Lisa Wolfsegger im Gespräch. Wenn Kinder verschwinden Wolfsegger: Es gibt keine bestimmte Zeit und es ist bei jedem Jugendlichen anders, sobald ein Platz frei wird, kann in den Bundesländern nachbesetzt werden. Laut einer parlamentarischen Anfrage dauert es im Schnitt 131 Tage, aber das ist ein Durchschnittswert, es kann auch sehr viel länger dauern, bis zu einem Jahr oder länger. Das heißt, Fluchtwaisen sind oft über Monate hinweg in einer Einrichtung, in der es keine ausreichende Betreuung gibt. Es gibt keine ausreichende Schule, es gibt wenig Tagesstruktur, da sind mehrere hundert Jugendliche untergebracht, es fehlt ihnen die Perspektive. Es gibt vor allem niemanden, der Verantwortung für die Kinder übernimmt, die Kinder bekommen keine rechtliche Obsorge – was es sonst in keinem EU-Land gibt. „ Die meisten werden in andere Länder weiterziehen, aber ich meine, wenn nur eines dieser 11.000 Kinder Opfer von Menschenhandel wurde, ist das eines zu viel. “ Das heißt, viele verschwinden, weil sie frustriert sind. Die Erstaufnahmezentren sind keine Gefängnisse, die können einfach rausspazieren. Dort steht vielleicht ein Auto, ob das tatsächlich der Onkel, ein Schlepper oder ein Krimineller ist – da fragt keiner nach. Die meisten werden in andere Länder weiterziehen, aber ich meine, wenn nur eines dieser 11.000 Kinder Opfer von Menschenhandel wurde, ist das schon eines zu viel. Außerdem sind das Kinder, wir können die nicht einfach selbstständig in andere Länder weiterziehen lassen. Wenn es Familie in anderen Ländern gibt, müssen die Kinder sicher unter Obhut zu den Familien gebracht werden. DIE FURCHE: Wie funktioniert das in anderen europäischen Staaten? Wolfsegger: In Deutschland übernimmt beispielsweise das Jugendamt dort, wo das Kind aufgegriffen wird, die vorläufige Obsorge. Innerhalb von zwei Wochen wird das Kind in der Regel in eines der Bundesländer verteilt und die Obsorge geht dann an das dort zuständige Jugendamt. Auch in den Niederlanden ist sofort eine Einrichtung für minderjährige Flüchtlinge zuständig. Jedes Land hat hier individuelle Lösungen gefunden und klar ist, dass Österreich hier das Schlusslicht ist und es in keinem Land der EU so lange dauert, bis ein Kind eine Obsorge bekommt. DIE FURCHE: Das Problem ist seit Jahren bekannt und auch andere europäische Länder scheinen Lösungen gefunden zu haben. Woran scheitert es hierzulande? Wolfsegger: Kinder unterzubringen, kostet auch Geld, die Kinder- und Jugendhilfen in Österreich sind chronisch unterfinanziert. Denen fehlt schon das Geld für die Betreuung der österreichischen Kinder, gleichzeitig ist das natürlich kein Grund, warum man nicht in Österreich geborene Kinder schlechter behandeln kann. Denn Kind ist Kind. Das Problem ist, dass alle Einrichtungen vom Staat bezahlt werden. Während bei österreichischen Kindern zählt, was Kinder brauchen, gibt es bei Fluchtwaisen einen so genannten Tagsatz, den eine Foto: asylkoordination österreich Foto: APA / Herbert Neubauer Lisa Wolfsegger ist Kultur- und Sozialanthropologin sowie Politikwissenschafterin und seit 2013 als Expertin für Fluchtwaisen bei „asylkoordination österreich“ tätig. Einrichtung bekommt für die Unterbringung. Dieser Tagsatz ist seit 2016 nicht mehr erhöht worden, es gibt keine Inflationsanpassung und er beträgt nur rund ein Drittel des Betrages, der sonst für die Unterbringung von österreichischen Kindern bezahlt wird. Dadurch werden in den Bundesländern kaum Plätze frei, weil die NGOs nicht die Mittel haben – selbst, wenn sie mehr Menschen aufnehmen möchten, könnten sie nicht, weil ihnen teilweise die Insolvenz droht. Somit gibt es keine Plätze in den Ländern, weil der Staat nicht die finanziellen Ressourcen zur Betreuung der Jugendlichen bereitstellt. Das hat zur Folge, dass die Betroffenen, obwohl sie schon längst im Asylverfahren sind, in den Großquartieren ausharren. Würden sie in die Bundesländer kommen, würde die jeweilig zuständige Kinder- und Jugendhilfe die Obsorge beantragen. Mit einem Obsorgeberechtigten könnte man verhindern, dass Kinder einfach verschwinden. Man könnte sie über die falschen Gerüchte aufklären, ihnen Perspektiven bieten, es gäbe klare Verantwortlichkeiten. In anderen Ländern funktioniert das auch deswegen besser, weil dort kein Unterschied gemacht wird zwischen einheimischen und geflüchteten Kindern. In Österreich werden zwei verschiedene Schienen gefahren: Wenn ein österreichisches Kind nicht mehr bei den Eltern leben kann, kommt es in die Kinder- und Jugendhilfe, geflüchtete Minderjährige kommen in die Grundversorgung. Aber Grundversorgung heißt „Dach über dem Kopf, essen und was zum Anziehen“. Kinder brauchen mehr als nur das, Kinder brauchen auch mal eine Schulter, wo man sich ausweinen kann, sie brauchen psychische und soziale Betreuung. DIE FURCHE: Laut Regierungsprogramm von ÖVP und Grünen sollen eine „schnelle Obsorge für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge durch die Kinder- und Jugendhilfe und die Berücksichtigung des Kindeswohls im Asylverfahren“ sichergestellt werden … Wolfsegger: Für die Aufnahmezentren ist das BMI zuständig, aber das Thema der Obsorge ist ein Thema des Justizministeriums (BMJ). Das BMJ hat bereits ein Gesetzesvorschlag gemacht. Der Entwurf sieht vor, sobald ein Kind in Österreich einen Asylantrag stellt, übergeht die Obsorge sofort an die jeweilige Jugendhilfe des Bezirks, wo das Kind aufgegriffen wird. Das könnte unkompliziert ohne Gerichtsbeschluss passieren. Der Entwurf aus dem BMJ wäre wirklich sehr gut, aber das Problem ist, Kinder- und Jugendhilfe ist in Österreich reine Ländersache. Das BMJ kann das Gesetz nicht durchbringen, wenn die Bundesländer nicht zustimmen. DIE FURCHE: Der Entwurf liegt nun seit knapp zwei Jahren in der Schublade, bis zu den nächsten Nationalratswahlen ist es voraussichtlich noch ein Jahr. Geht da noch was? Wolfsegger: Ich habe keine Ahnung, aber ich hoffe es wirklich sehr! Es bleibt uns nichts anders übrig, als immer wieder gebetsmühlenartig aufzeigen, dass in Österreich verdammt viele Kinder verschwinden und keiner hinschaut!
DIE FURCHE · 40 5. Oktober 2023 Religion 11 Lässt sich Künstliche Intelligenz auch in Gottesdiensten einsetzen – etwa zur Vorbereitung auf Predigten? Gewiss. Als Zeugen persönlichen Glaubens und des göttlichen Wortes können Menschen aber durch keine KI und keinen Avatar ersetzt werden. Eine Einordnung. Glauben zwischen Null und Eins Von Ulrich H.J. Körtner Chancen und Gefahren von Künstlicher Intelligenz (KI) sind derzeit allgegenwärtig. Die Diskussionen kreisen meist um ethische und politische Fragen zur Kontrolle und Regulierung digitaler Technik. Debattiert wird aber auch über die Auswirkungen von KI auf Religion und religiöse Kommunikation. Auf dem Evangelischen Kirchentag im Nürnberg, der im Juni dieses Jahres stattfand, wurde erstmals ein von ChatGTP verfasster Gottesdienst durchgeführt. Das Urteil über dieses Experiment fiel geteilt aus. Neben praktischen und ethischen Fragen stellt sich die Grundsatzfrage, was überhaupt unter Glauben und Glaubenskommunikation im digitalen Zeitalter zu verstehen ist. Anders gefragt: Was hat das alles mit Gott zu tun? Die theoretischen Grundlagen des digitalen Zeitalters reichen in die frühe Aufklärung zurück. Es war der Universalgelehrte, Philosoph und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), der das duale oder binäre Zahlensystem entwickelte, mit dessen Hilfe sich Arithmetik und Logik verknüpfen lassen. Der duale Code von 0 und 1 ist die Basis aller Computertechnik und der digitalen Welt des World Wide Web. Bei Leibniz hat der Zahlencode eine religiöse Dimension. Die Eins steht für Gott, die Null für das Nichts. Wie die Eins mit Hilfe der Null in fortlaufenden Kombinationen (10 = 2, 11 = 3, 100 = 4 usw.) die Welt der Zahlen und der mathematischen Operationen generiert, so erschafft Gott die Welt aus dem Nichts. Die Gedanken Gottes sind mathematisch, und das duale Zahlensystem liefert den Schlüssel zu Gottes Schöpfungsgedanken. Wenn Gott und Mensch verschwinden Im digitalen Zeitalter scheint Gott allerdings aus der Welt der Algorithmen ins Nichts verschwunden zu sein, wie der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs notiert. Das Zeitalter der Digitalisierung ist ein Epoche etsi Deus non daretur; es sei denn, man überträgt die Macht, die einst Gott und seit der Aufklärung dem Menschen zugesprochen wurde, nun auf die allgegenwärtigen und scheinbar allmächtigen Algorithmen, wie es der israelische Historiker Yuval Noah Harari tut. Zusammen mit Gott scheint auch das menschliche Subjekt aus der digitalisierten Welt zu verschwinden. Einerseits wird darüber diskutiert, ob KI-Systemen, wenn sie eine hinreichende Komplexität erreicht haben, die sogar Emotionen und Empathiefähigkeit hervorbringen könnte, der Status von Subjekten oder Personen zuerkannt werden müsste. Andererseits führt die Deutung des Menschen nach dem Muster informationsverarbeitender Maschinen dazu, dass sich ein gehaltvoller Begriff von Person- und Subjektsein auflöst, weil die Bedeutung der Leiblichkeit für das Menschsein völlig verkannt wird. Unsere Vernunft oder Intelligenz ist inkarnierte, verkörperte Vernunft, wie der französischen Philosoph Maurice Merleau-Ponty gesagt hat. Sie ist von unserem Körper gar nicht ablösbar. Der Mensch ist keine Maschine und sein Gehirn kein Computer. Programme von künstlicher Intelligenz sind keine denkenden Personen – und Personen keine Programme der Informationsverarbeitung. Computer stellen und beantworten keine Sinnfragen. Sie verstehen sie gar nicht, mag ChatGPT auch auf clevere Fragen verblüffende Antworten geben. Insofern liegt schon dem Begriff „Künstliche Intelligenz“ ein Missverständnis dessen, was Intelligenz ihrem Wesen nach ist, zugrunde. „Im Umgang mit digitalen Medien kommt es darauf an, einer neuen Platonisierung des Christentums gegenzusteuern. Darum gehört zum Glauben die Hoffnung auf die leibliche Auferstehung.“ (Das Bild zeigt ein KI-generiertes Kirchenfenster.) Bezogen auf unsere Körperlichkeit ist unsere Zeit von einer eigentümlichen Paradoxie gekennzeichnet. Einerseits erleben wir in allen Lebensbereichen einen ungeahnten Körperkult, bei dem die eigene Identität ganz auf die Körperlichkeit, das äußere Erscheinungsbild wie das körperliche Wohlbefinden, reduziert wird. Andererseits aber sind wir, wenn es um Künstliche Intelligenz und virtuelle Welten geht, „Zeugen einer erstaunlichen Entmaterialisierung“ (Thomas Fuchs). Weder sind wir körperlose Intelligenz noch auf unsere Körperlichkeit beschränkt. Das eine wie das andere ist eine Gestalt der Entfremdung. Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) und andere Philosophen aus der Tradition der Phänomenologie sprechen von inkarnierter Vernunft. Sie scheuen sich dabei nicht, einen dezidiert theologischen Topos zu gebrauchen, nämlich den christlichen Gedanken der Inkarnation aus dem Prolog des Johannesevangeliums. Schon Johann Georg Hamann (1730– 1788) wandte gegen den Purismus eines abstrakten Vernunftbegriffs ein, man erkenne in ihm „einen gnostischen Hass gegen Materie und eine mystische Liebe zur Form“ und zugleich eine „gewalttätige, unbefugte eigensinnige Scheidung desjenigen, was die Natur zusammengefügt hat“. „ Entscheidend ist letztlich die Frage, ob Glauben und das Evangelium als Grund des Glaubens authentisch bezeugt oder nur simuliert werden. “ Hier müssen wir ansetzen, wenn wir uns den Herausforderungen der Digitalisierung und der sogenannten Künstlichen Intelligenz für Theologie und Kirche theologisch stellen wollen. Gewiss lassen sich digitale Kommunikationsformen auch für die Kommunikation des Evangeliums einsetzen. Weshalb sollte man nicht auf ein Medium wir ChatGPT bei der Predigtvorbereitung zurückgreifen, solange der Prediger oder die Predigerin noch die Verantwortung für den Inhalt trägt, der auf der Kanzel vorgetragen wird? Entscheidend ist aber die Frage, ob Glauben und das Evangelium als Grund des Glaubens authentisch bezeugt oder nur simuliert werden. Es gehört zu den paradoxen Signaturen der Gegenwart, dass die Simulation von Subjektivität die Hochschätzung von Authentizität (Charles Taylor) und Singularitäten (Andreas Reckwitz) unterläuft. Glaube, so lautet eine gelungene Formulierung Eberhard Jüngels, die auch Gerhard Ebeling verwendet hat, ist Erfahrung mit der Erfahrung. Rechenprogramme machen keine Erfahrungen und schon gar nicht Erfahrungen mit Erfahrungen. Sie können sie bestenfalls simulieren. Genügt am Ende die perfekte Simulation, um einen Gottesdienst feiern zu können, wie auf dem Kirchentag in Nürnberg geschehen? Lässt sich der Prediger, die GLAUBENSFRAGE Foto: KI Bild: Rainer Messerklinger / DALL·E / Prompt: HD photo of stained church windows with female symbols Lesen Sie zu diesem Thema auf furche.at auch den Text „Künstliche Intelligenz: Spiegel der Menschheit“ (1.2.2023) von Martin Tauss. Eine Art des Stolzes Die Texte Ingeborg Bachmanns, der Lyrikerin und lesenswerten Mystikerin, bewegen sich nicht flink auf der glatten Oberfläche der Dinge. Vielmehr machen sie sich jenem Geheimnis des Lebens auf die Spur, das so schwer fassbar ist, aber dem Leben Tiefe und Intensität verleiht. In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort – welch großartiger Satz. Ihre Dankesrede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden im Jahr 1959 hat es mir besonders angetan. Bachmann steht vor Menschen, die im Krieg barbarische Gewalt erlitten haben und dadurch ihr Augenlicht verloren – und spricht über die Redewendung Mir sind die Augen aufgegangen. Grandios. So etwas muss man können. Dann sagt sie jenen vielzitierten Satz: Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar. So einfach der Satz erscheint, so provozierend ist er noch heute in Kirche und Gesellschaft. Ihren Höhepunkt findet die Rede, als Bachmann die Verletzten, die vor ihr sitzen, direkt anspricht. Wer, wenn nicht diejenigen unter Predigerin als Zeuge des Glaubens und des Evangeliums durch einen Avatar ersetzen, der nicht als Person aus Fleisch und Blut für das einsteht, was er sagt? Macht es einen Unterschied, ob man einem Rundfunk-oder Fernsehgottesdienst anschaut, der möglicherweise zeitversetzt gesendet wird, ob man einen digitalen Gottesdienst im Internet mitfeiert oder ob man in Präsenz einem Gottesdienst beiwohnt, der von einem Avatar geleitet wird? Vom Wert der Leiblichkeit Die reformatorische Tradition rechnet mit der Selbstmächtigkeit des göttlichen Wortes, die nicht an die Würdigkeit der Person dessen gebunden ist, der es bezeugt und verkündigt. Das Verstehen als Akt der Rezeption und somit der Glaube, der aus solchem Hören oder Lesen und Verstehen hervorgeht, kann durch unterschiedliche Medien geweckt werden. Es ist letztlich ein geistliches Geschehen, das auf das Wirken des Heiligen Geistes zurückgeführt wird. Der vernehmende Glaube selbst aber lässt sich nicht simulieren, wie auch niemand im Glauben, nämlich darin, Gott über alle Dinge zu fürchten, zu lieben und zu vertrauen, durch einen anderen ersetzt werden kann. Als Zeugen persönlichen Glaubens und des göttlichen Wortes, die Rede und Antwort stehen, können Personen durch keine KI und keinen Avatar ersetzt werden. Letztlich ist Glaube ein ganzheitlicher Lebensakt, der sich wie unser endliches, leibliches Leben nicht simulieren lässt. Im kritischen Umgang mit digitalen Medien und Künstlicher Intelligenz kommt es darauf an, einer neuen Platonisierung des Christentums gegenzusteuern. Eben darum gehört zum Glauben die Hoffnung auf die leibliche Auferstehung, mag auch wie bei Paulus an einen nicht näher beschriebenen geistlichen Auferstehungsleib gedacht sein. Der Digitalisierung zum Trotz bleibt die Einsicht Friedrich Christoph Oetingers (1702–1782) gültig, dass Leiblichkeit das Ende der Werke Gottes ist. Der Autor ist Ordinarius für Systematische Theologie (Reformierte Theologie) an der Evang.-Theol. Fakultät der Uni Wien. Von Hildegund Keul Ihnen, die ein schweres Los getroffen hat, könnte besser bezeugen, daß unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück, daß man, um vieles beraubt, sich zu erheben weiß, daß man enttäuscht, und das heißt, ohne Täuschung, zu leben vermag. Ich glaube, daß dem Menschen eine Art des Stolzes erlaubt ist – der Stolz dessen, der in der Dunkelhaft der Welt nicht aufgibt und nicht aufhört, nach dem Rechten zu sehen. Der Respekt, den Bachmann hier den Kriegsblinden zollt, gilt auch heutigen Menschen. Menschen, die in der Lokalpolitik trotz Anfeindung dem Rechtspopulismus widerstehen; die sich entgegen der scheinbaren Vergeblichkeit gegen den Hunger in der Welt engagieren; und vielleicht sogar jenen, die sich in der Weltsynode in Rom wider alle Hoffnung für notwendige Reformen einsetzen. (Vgl. auch S. 17 dieser FURCHE.) Die Autorin ist katholische Vulnerabilitätsforscherin an der Universität Würzburg.
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