DIE FURCHE · 36 24 5. September 2024 Foto: privat Vedran Džihić (letzte Reihe, dritter von rechts) mit seiner Familie vor dem Bosnienkrieg. Von Vedran Džihić Lesen Sie auch den Text „Das ist der Krieg“ von Vedran Džihić vom 6. Juni 2022 unter furche.at. Illu: RM Von Manuela Tomic MOZAIK Sprachgauner In meiner Kindheit verbrachten wir die Sommer in Bosnien. Beim Spielen im Wald lehrten mich die anderen Kinder Šatrovaèki zu sprechen. Diese Geheimsprache, so sagt man, haben einst Gauner im Gefängnis erfunden. Heute ist sie unter Kindern und Jugendlichen beliebt. Ich hatte dieses Kauderwelsch aus Makedonisch, Serbokroatisch, Osmanisch und Romani fast vergessen. Die grundlegende Regel dieser Spielsprache ist die Vertauschung von Silben. Diesel, „dizel“, wird zu „zeldi“, Psycho, „psiho“, zu „hopsi“ oder Bier, „pivo“, zu „vopi“. Vor kurzem rief mir mein guter Freund Vedran diese Sprache wieder in Erinnerung. Er unterbrach unser Telefonat, um, wie er sagte, sein „hepek“ am Computer anzuschließen. „Hepek“ ist ein altes türkisches Wort, das durch Šatrovaèki wiederbelebt wurde und bedeutet „Ding“. Vedran meinte damit sein Handy. Für Ding kannte ich bislang nur das Wort „stvar“, von dem sich die Wirklichkeit, „stvarnost“, ableitet. Šatrovaèki wird von Generation zu Generation weitergegeben und neu geformt. Vielleicht habe ich meine Liebe zu Sprachspielen den balkanischen Gaunern zu verdanken, die Worte stibitzten, um aus dem Gefängnis der Wirklichkeit auszubrechen. Wenn ich mich im Deutschen oder Serbokroatischen unwohl fühle, flüchte auch ich in meine eigene Keitlichwirk. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Die Kolumnen gibt es jetzt als Buch! Foto: Stephan Ozsváth Ich erinnere mich noch sehr gut, als ich im Juni 1993 als 16-jähriger junger Mann eines Morgens die Badnerbahn in Traiskirchen nahm und mich auf gut Glück ins Badener Gymnasium aufmachte, um dort beim Direktor vorzusprechen. Ich war damals überzeugt, dass von diesem Gang nach Baden mein ganzes Schicksal abhängt. In den Tagen davor hatte ich bei einsamen Spaziergängen im weitläufigen Areal des Flüchtlingslagers Traiskirchen versucht, die paar auf Deutsch einstudierten Sätze hunderte Male zu wiederholen, damit ich sie dann im Gymnasium auch richtig herausbringen würde. Nachdem ich an diesem Tag schwitzend und mit Herzklopfen mehrere Runden um die Schule gedreht hatte und endlich den Mut fand, das Gebäude zu betreten, klopfte ich an der Tür des Sekretariats an. In meinem gebrochenen Deutsch und zitternd vor Aufregung rezitierte ich der Schulsekretärin die auswendig einstudierten Sätze und überreichte ihr die Zeugnisse aus Bosnien und Herzegowina, ausgestellt auf Serbokroatisch und mit dem Stempel eines Landes versehen, das in den Kriegen gerade unterging. Die Sekretärin war sehr freundlich und sprach ein paar Sätze, die ich in meiner Aufregung nicht richtig verstand. Sie fragte nach meiner Adresse. Als ich ihr sagte, dass ich als Flüchtling im Lager in Traiskirchen lebe, versprach sie, sich zu melden. Ich rannte hinaus und war mir sicher, dass es nicht klappen würde. Dem Vater erzählte ich aber, dass sie in der Schule freundlich zu mir waren und sich melden würden – ich machte ihm Hoffnung. Bildungsodyssee begann im Burgenland Aus Baden kam in den darauffolgenden Wochen keine Antwort. Der Vater gab aber nicht auf. Über einen Bekannten, der bereits am Beginn des Krieges geflüchtet war und nun im Burgenland, in Wulkaprodersdorf, lebte, stellte er den Kontakt zu einem Professor an der HAK in Eisenstadt her, der mit dem Direktor des Eisenstädter Gymnasiums gut befreundet war. Wenige Tage danach saßen wir bereits mit diesem Bekannten im Auto und fuhren nach Eisenstadt, um den Direktor zu treffen. Ein freundlicher älterer Mann saß uns gegenüber und sagte unumwunden meinem Bruder und mir einen fixen Platz im neuen Schuljahr zu. Übrigens wurde meine Mutter später von der Gattin des Direktors mit einem Arbeitsangebot angesprochen und fing bald als Putzfrau bei ihr an. Unsere Bildungsodyssee in Österreich begann damit ausgerechnet im Burgenland und am Eisenstädter Gymnasium, was sich später als jenes Glücksmoment erweisen sollte, das Vedran Džihić ist Senior Researcher am oiip und Lektor an der Universität Wien. Der Politologe Vedran Džihić ist 1993 vor dem Bosnienkrieg nach Österreich geflüchtet. In seinem Buch „Ankommen“ erzählt er, wie es ist, zwei Heimaten zu haben. Ein Auszug. „Ich spürte die Wärme“ man am Beginn der Suche nach einem neuen Zuhause so dringend braucht. Während Mutter und Vater noch in Traiskirchen blieben, schlugen mein Bruder und ich uns von einem Zimmer in einem Gasthaus in Wulkaprodersdorf zu einem Schülerheim in Eisenstadt durch. Es dauerte nicht lang und Mutter und Vater fanden eine Mietwohnung in Eisenstadt, die unser neues vorläufiges Zuhause wurde. Eisenstadt wurde schrittweise zu meiner Stadt. In langen Spaziergängen erkundete ich Haus für Haus, Ecke für Ecke. In Träumen verschmolzen manchmal die Straßen meiner Heimatstadt Prijedor mit jenen meiner neuen Stadt. Ein Amalgam aus Altem und Neuem entstand. In Eisenstadt las ich meine ersten Bücher auf Deutsch, lernte für die Schularbeiten, büffelte Englisch und träumte von einer „ In meinem gebrochenen Deutsch und zitternd vor Aufregung rezitierte ich der Schulsekretärin die auswendig einstudierten Sätze und überreichte ihr die Zeugnisse aus Bosnien und Herzegowina. “ großen Basketballkarriere. Mein Glück wurde meine neue Klasse, die 7b, und mein Basketballverein, der UBC Eisenstadt. Am ersten Tag in der Schule saß ich noch verschreckt in der Schulbank und beobachtete meine zukünftigen Schulkollegen und Freundinnen. Alles war neu für mich – die Sprache, die Gesichter, das Schulsystem. In einer der ersten Stunden hatten wir Physik. Der Physiklehrer legte mit seiner offensichtlich üblichen Einleitung los und wollte bereits auf den Stoff des Semesters eingehen, als ihn Pauli, mein neuer Sitznachbar, erinnerte, dass es einen neuen Schüler in der Klasse gab, der aus Bosnien und Herzegowina kam und vor dem dortigen Krieg geflüchtet war. Der Physiklehrer blickte sich neugierig um, ich zeigte auf und er fragte mich sofort, wie ich denn heiße. „Vedran“, sagte ich schüchtern. „Ach so, Ferdinand“, setzte er lächelnd fort. Vielleicht hatte er meinen Namen nicht richtig verstanden, vielleicht wollte er als echter Burgenländer einen guten Witz machen, der mir helfen sollte, meine Nervosität zumindest kurzfristig abzulegen. Ich blickte ihn mit großen Augen an und wusste nicht, ob ich diesen unangenehmen Moment als Ignoranz oder eine wohlwollende Geste eines zum Scherzen aufgelegten Lehrers deuten sollte. Wie dem auch sei, ich wurde Ferdinand getauft. „Ich fühlte mich von Tag zu Tag besser“ Meine 7b war mein Glück in diesen ersten Wochen und Monaten in Eisenstadt. Sie war die wärmste und beste Klasse, die ich mir vorstellen konnte. All meine Schulfreunde und -freundinnen kümmerten sich vom ersten Tag an um mich, halfen mir im Schulalltag, sammelten Geld für die Klassenkassa. Die Lehrenden am Eisenstädter Gymnasium waren ebenso aufmerksam. Meine Deutschlehrerin kaufte mir zwei Wörterbücher und war sichtlich enorm stolz, als ich eineinhalb Jahre später ein „Gut“ auf die Deutschmatura schaffte. Meine Kroatischlehrerin wurde zur guten Fee, die mir Platz für die Auseinandersetzung mit dem Krieg in Ex-Jugoslawien schuf und mir das Gefühl gab, dass ich den anderen Schülern so viel geben konnte. Ich wurde gesehen, ich wurde anerkannt, ich wuchs und fühlte mich von Tag zu Tag besser. Es half enorm, dass mich mein Sportlehrer und begeisterter Basketballer, Stephan, für den lokalen Basketballverein engagierte, in dem ich innerhalb von zwei Jahren zum kleinen lokalen Basketballstar heranwachsen konnte und den Weg in die erste österreichische Bundesliga im Basketball schaffte. Als am Ende der Schulzeit meine Klasse Geld für die Maturareise nach Korfu sammelte und ich zum ersten Mal in meinen Leben fliegen durfte, wuchsen meine Flügel ins Unermessliche. Vielleicht war dies der erste Schritt zur Versöhnung mit meinem Schicksal. Vielleicht die Vorahnung dessen, dass man als Heimatloser zumindest für einen Augenblick – ankommen kann. Ankommen Von Vedran Džihić Kremayr & Scheriau 2024 112 S., geb., € 20,–
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