DIE FURCHE · 36 20 Medien 5. September 2024 Von Bernhard Baumgartner Seit 21. Juni dieses Jahres ist nun auch Österreich in der digitalen Radiozukunft angekommen. Denn seit diesem Tag sendet die heimische Radiolandschaft im digitalen Vollbetrieb. Für die Hörerinnen und Hörer bedeutet das eine noch nie dagewesene Vielfalt auf den Radiowellen: 58 Stationen (davon 30 bundesweit) senden nun via Antenne auf DAB+ und können somit in nahezu 80 Prozent des Landes empfangen werden. Sofern man über ein Radiogerät verfügt, dass den digitalen DAB+ Standard empfangen kann, der etwa bei vielen Neuwagen im Autoradio bereits zwingend enthalten sein muss. Und genau das ist auch der Haken an der Sache mit DAB+: Ältere UKW-Geräte sind zumeist noch nicht digital empfangsfähig. Sie können lediglich UKW empfangen. Und das bleibt vorerst auch so, denn in Österreich ist bis auf Weiteres ein Parallelbetrieb von UKW und DAB+ vorgesehen. Allerdings ist das Programmangebot auf UKW nach wie vor aufgrund der herrschenden Frequenzknappheit auf wenige Programme beschränkt. Wer also von der neuen Radio-Vielfalt profitieren möchte, sollte die Anschaffung eines günstigen DAB+- Gerätes in Erwägung ziehen. Der ORF macht bei DAB+ übrigens (aus protektionistischen Überlegungen) noch immer nicht mit. Die Programme des ORF sind daher nur auf UKW zu empfangen. Auch religiöse Sender vertreten Was bieten also die vielen neuen Radioprogramme, die seit Juni zusätzlich zu empfangen sind? Da wäre einmal das Paket von „Kronehit“, das gleich mit vier neuen Programmen mit an Bord ist: „Radio Rot Weiß Rot“ und „Super 80s“ österreichweit sowie „Eurodance X-Press“ und „Pirate Radio“ auf den Osten des Landes beschränkt. „Eurodance“ ist ein auf tanzbare moderne Beats fokussierter Musiksender, während „Pirate Radio“ auf ein Rockmusik-Spezialangebot setzt. „Radio Rot Weiß Rot“ spielt ausschließlich (schlagerlastige) Musik aus Österreich. Auch „Antenne“-Angebote finden sich unter den Neustarts, darunter „Antenne Steiermark“, „Antenne Kärnten“ und „Hit-Antenne“ aus Salzburg. Musik im Fokus Zahlt sich der Umstieg auf DAB+ für den Normalhörer aus? Das kommt darauf an, was man sucht. Die Mehrzahl der neuen Musiksender sind unmoderierte Abspielstationen für Popmusik. Seit Sommerbeginn können 58 Radioprogramme in Österreich mit dem digitalen Radiostandard DAB+ empfangen werden. Es war die größte Liberalisierung seit dem Start von Privatradio in den 90ern. Radiovielfalt im Schattendasein Zu den ungewöhnlicheren Angeboten zählen der Oldie-Musiksender „Nostalgie“ sowie „Radio GÖD“, ein Musiksender der immerhin von der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst betrieben wird. Der Sender will nach Eigendefinition „einfach nur gute Musik spielen“ und verzichtet kostenschonend auf jede Moderation. Allerdings: „Wenn es die gewerkschaftliche Situation erfordert, berichten wir live aus dem Studio zu Themen rund um den Öffentlichen Dienst“, heißt es da eher kryptisch auf der Website. Das ruhigere Musiksegment bedienen hingegen „Lounge FM“ und „Superfly“, die bereits auch UKW-Frequenzen bespielen. Auch ein für seine markante Werbelinie bekanntes Möbelhaus leistet sich mit „XXXLutz - Das Radio“ einen eigenen Sender. Der gesellt sich nahtlos zum Shopping-Radio „jö.live“, das schon seit Jahren als „Radio Max“ in den Billa-Filialen zu hören war. Radio „OÖNow“, das Popmusik-Radio der „OÖNachrichten“ ist nun auch in Niederösterreich zu empfangen. Gleich mehrere Sender mit (zumindest zum Teil) religiösen Inhalten wollen ihre Bot- „ Vollprogramme, wie man sie bisher von UKW gewohnt ist, darf man sich eher nicht erwarten. Diese können vom Markt nicht refinanziert werden. “ schaft auf den DAB+-Wellen verbreiten. Dazu zählt „Radio Klassik Stephansdom“ und „Radio Maria“, beide auch mit lokalen UKW-Frequenzen ausgestattet. Christlich-Freikirchliche Inhalte findet man auf dem deutschen „Evangeliums Rundfunk“, der mit „ERF Süd“ vertreten ist. Die beiden letzteren Sender gehören zu einigen wenigen, die einen angenehm hohen Wortanteil haben und sich nicht nur dem bloßen Abspielen von Musik widmen. Ein „Inforadio“ ist ebenso auf DAB+ zu finden. Es will „hörbare Nachrichten rund um die Uhr“ in Zusammenarbeit mit der Austria Presse Agentur (APA) bieten. Der redaktionelle Fokus liegt auf Themen in Politik, Welt, Business, Kultur, Klima, Science und Medien. Foto: OTS/Verein Digitalradio Österreich/Verein Digitalradio Österreich Aber zahlt sich der Umstieg auf DAB+ für den Normalhörer aus? Die Antwort ist: Das kommt darauf an, was man sucht. Die Mehrzahl der neuen Musiksender sind mehr oder weniger unmoderierte Abspielstationen für Popmusik in verschiedenen Schattierungen und Geschmacksrichtungen. Der Neuheitswert ist also grosso modo eher bescheiden, wenigstens sind die Musiksender im Gegensatz zum Streaming kostenlos. Allerdings finden sich mitunter Nischensender, die interessante Ergänzungen und Neues bieten. Vollprogramme, wie man sie bisher von UKW gewohnt ist, darf man sich eher nicht erwarten. Diese können vom Markt nicht refinanziert werden. Denn Radio ist immer davon abhängig, wieviel Menschen dazu etwas beitragen. Und die erwarten sich – im Unterschied zu einem einmal angeschafften Abwicklungscomputer – monatlich Geld. Langsame Akzeptanz bei Hörern Und dennoch: Die nun komplette Einführung von DAB+ in Österreich markiert einen Wendepunkt in der Radiogeschichte des Landes. Nachdem digitale Rundfunktechnologien in Europa schon ein gutes Jahrzehnt früher Fuß fassten, begann Österreich vergleichsweise spät mit der Implementierung von DAB+. Erste Testläufe fanden bereits in den 1990er Jahren statt, doch erst 2015 nahm der Ausbau ernsthaft Fahrt auf. Die zögerliche Haltung lag auch am Widerstand des ORF und anderen etablierten Anbietern. Diese befürchten durch die Ausweitung des Angebots ein geradezu sicheres Sinken ihrer eigenen Reichweiten. Trotzdem wurde 2019 der nationale DAB+-Multiplex gestartet. Ein Ausbau, der nun im Vollausbau im Juni endete. Diese vielfältigere Programmlandschaft ist übrigens technisch bedingt. Kann mit UKW nur ein Programm pro Frequenz übertragen werden, schafft DAB+ bis zu zehn Programme pro Frequenz. Damit wird eine Vielzahl an mehr Programmen möglich – bei auf ein Zehntel gesunkenen Kosten für die Übertragung. Das kommt besonders kleineren und spezialisierten Anbietern zugute. Trotz anfänglicher Herausforderungen und der langsamen Akzeptanz bei den Hörern und Hörerinnen kann Österreich heute auf 1,2 Millionen DAB+-Empfänger verweisen. Es gibt also noch Luft nach oben. MEDIENWELTEN Vom mehr oder weniger Heiligen Die Autorin ist Professorin für Medienethik an der Hochschule für Philosophie München. Von Claudia Paganini Dass die Wahlwerbung der FPÖ auch heuer wieder ein Lehrstück für manipulative Strategien der politischen Kommunikation liefern würde, war zu erwarten. Neu ist aber der Einsatz von religiöser Rhetorik. Hatten die Betonung des christlichen Abendlandes und Parolen wie „Pummerin statt Muezzin“ (Wien 2005) in der Vergangenheit nämlich vor allem den Zweck erfüllt, Ängste zu schüren und das – vermeintlich – „heile“ Innen vom – vermeintlich – „unheilvollen“ Außen abzugrenzen, ist mit dem aktuellen „Euer Wille geschehe“-Plakat eine sakral-liturgische Dimension erreicht. Offenbar ist es nicht mehr genug, die FPÖ als letzte Bastion gegen eine feindliche Außenwelt zu inszenieren („Der Einzige auf eurer Seite“) oder durch den Appell an das Selbstbewusstsein der Wähler („Es beginnt mit dir. Mutig Neues wagen“) das Bedürfnis zu wecken, Teil jener Bewegung zu werden, die sich als einzige Alternative unerschrocken dem stagnierenden politischen Establishment entgegenstellt. Auch die Idealisierung des Spitzenkandidaten („Kickl. Dein Herz sagt Ja“) reicht nicht mehr aus, ebenso wenig die Glorifizierung der Vergangenheit, konkret der eigenen Regierungsbeteiligung („5 gute Jahre“). Was es jetzt zu brauchen scheint, ist noch mehr emotionale Bindung an eine Partei, die den Volkswillen, wie die Anspielung an das Vaterunser nahelegt, als göttlichen Auftrag begreift. Damit präsentiert sich der Wahlkampfauftakt „ Was es jetzt zu brauchen scheint, ist noch mehr emotionale Bindung an eine Partei, die den Volkswillen als göttlichen Auftrag begreift. “ der FPÖ – in einem schlechten Sinn – als religiös: Da das Credo der Partei einer kritischen Prüfung durch die Vernunft nicht standhalten würde, muss es geglaubt werden. Was bedient wird, sind Emotionen wie Angst, Stolz und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Über allem schwebt die Verheißung einer – spirituell aufgeladenen – völkischen Großartigkeit, die in wirtschaftlicher Prosperität und politischem Empowerment spürbar werden soll. Eingelöst werden diese Versprechen freilich nicht. Stattdessen legt der Blick in die Vergangenheit nahe: Wer die FPÖ stark macht, wird mit sozialer Kälte, Unfähigkeit und Korruption belohnt werden.
DIE FURCHE · 36 5. September 2024 Film 21 Quentin Dupieux legt mit „Daaaaaalí!“ kein klassisches Biopic über Salvador Dalí vor, sondern eine zum Surrealisten passende Abfolge von ebenso einfallsreichen wie exzentrischen Szenen. Lust am Absurden Von Walter Gasperi Quentin Dupieux ist derzeit unbestritten der Meister des absurden Kinos. Einmal lässt er in „Rubber“ (2010) einen Autoreifen, ein anderes Mal in „Monsieur Killerstyle“ (2019) eine Lederjacke morden, dann versuchen zwei trottelige Gangster in „Mandibules – Eine Fliege kommt selten allein“ (2020) mit einer Riesenfliege einen Bankraub zu landen. Wenig verwunderlich, dass Salvador Dalí zu Dupieuxs Vorbildern zählt – und er nun einen Film über den berühmtesten Surrealisten gedreht hat. Dass man dabei kein biederes Biopic erwarten darf, lässt schon der mit sechs „a“ geschriebene Titel „Daaaaaalí!“ erahnen. Zwar eröffnet Dupieux seinen Film – bei dem er nicht nur für Regie und Drehbuch, sondern auch für Kamera und Schnitt verantwortlich zeichnet – mit einer Reproduktion des Bildes „Necrophilic Fountain Flowing from a Grand Piano“ (1932), doch nach diesem Auftakt rückt die junge Journalistin Judith (Anaïs Demoustier) ins Zentrum. Wenn sie vor einem Hotelzimmer aufs Interview mit Dalí wartet, dehnt Dupieux dessen Weg durch den Hotelgang schier endlos, um ihn über sich als einzig wahres und größtes Kunstwerk parlieren zu lassen. Doch das Interview platzt, da Judith nur mit Schreibblock und Stift ausgerüstet ist und für Dalí ein Interview ohne große Kamera nicht in Frage kommt. Lustvoll feiert der Film schon in dieser Szene die Exzentrik Dalís, macht sich aber auch liebevoll über dessen Arroganz und Eitelkeit lustig. Mit sichtbarem Vergnügen spielt Edouard Baer – mit kunstvollem Schnurrbart und jedes Wort betonend – den Surrealisten, der in anderen Szenen auch von Gilles Lellouche, Pio Marmaï, Jonathan Cohen und Didier Flamand verkörpert wird. Zu komplex ist laut Dupieux die Figur Dalís, als dass sie von einem Schauspieler verkörpert werden könnte – ein Verfahren, das an Todd Haynes’ Bob Dylan-Film „I’m Not There“ erinnert. Als Leitlinie ziehen sich Judiths immer wieder scheiternden Versuche, doch noch ein Interview zu bekommen, durch den Film. Gleichzeitig begleitet Dupieux in einer Szene Dalí aber auch beim Malen des Gemäldes „The Fine and Average Invisible Harp“ (1932), bei dem der verzogene Kopf des menschlichen Modells mit einer Holzgabel gestützt werden muss. Wie diese Szene von den Filmen „ Was vielleicht verkopft klingt, wird in Dupieux’ leichthändigverspielter Inszenierung zu einer hinreißenden und an Einfällen überquellenden Wundertüte an Gags. “ Genie und Eitelkeit In seinem Film schafft Regisseur Quentin Dupieux eine dem Vorbild gerecht werdende Auseinandersetzung mit dem surrealistischen Maler Salvador Dalí (u. a. verköpert von Pio Marmaϊ). der Monty Pythons inspiriert scheint, so weckt ein Essen auf einem Bauernhof, bei dem ein Bischof einen surrealen Traum erzählt, der in der Folge immer wieder variiert wird, unweigerlich Erinnerungen an die Filme Luis Buñuels, mit dem Dalí bei „Der andalusische Hund“ (1929) und „Das goldene Zeitalter“ (1930) zusammenarbeitete. Was in der Beschreibung vielleicht verkopft und schwer durchschaubar klingt, wird in Dupieux’ leichthändig-verspielter Inszenierung zu einer ebenso hinreißenden wie an Einfällen überquellenden Wundertüte an Gags, die sich nicht um Konventionen schert. Aber in seiner wunderbar befreiten Erzählweise vermittelt „Daaaaaalí!“ mehr vom Denken des großen Surrealisten als ein konventionelles Biopic – und feiert mit dieser Freiheit und der Lust am Absurden auch die Möglichkeiten eines von jedem Realismus befreiten Kinos. Daaaaaalí! F 2023. Regie: Quentin Dupieux. Mit Anaïs Demoustier, Edouard Baer, Jonathan Cohen, Pio Marmaϊ. Verleih: Filmladen. 78 Min. TRAGIKOMÖDIE Kochen ist ein Lebenstraum Liebevoll legt Karin letzte Hand an ihre Speisen an. Zur Feier ihres 40. Hochzeitstages hat sie das Menü von einst nachgekocht. Verführerisch gleitet die Kamera über die appetitlich vorbereiteten Speisen. Doch mit ihrer avancierten Kochkunst kann Karin ihre Liebsten nicht mehr begeistern. Man ahnt, dass in ihrer Familie das Geben und Nehmen aus dem Gleichgewicht geraten ist. Prompt muss Karin an ihrem Festtag auch noch erfahren, dass ihr Mann eine Geliebte hat. Eine Entdeckung, die sie jedoch ihr Leben überdenken lässt. So besucht sie mit den Freundinnen Pia und Monika einen asiatischen Kochkurs bei Spitzenkoch Henrik. Denn Köchin zu werden, war ihr Jugendtraum – nun wird sie von neuer Leidenschaft erfasst. In „Immer wieder Dienstag“ ist das Kochen zugleich Gleichnis. Damit ein schmackhaftes Gericht reibungslos hergestellt werden kann, muss sich in der Küche alles am richtigen Platz befinden und es sind, so der Meisterkoch, Aussehen und Geschmack in ausgewogener Balance zu halten. Jedes Detail ist bedeutsam, ein Spritzer zu viel der Fischsauce kann die Speise zerstören. Das gilt für den sozialen Umgang wie auch für Annika Appelins Inszenierung. Die Regisseurin arbeitet sich nicht an einer aufwendigen, mit frischen Produkten zubereiteten komplexen Kreation ab, sondern kreiert unkompliziertes Soulfood, das von einnehmenden Hauptdarstellerinnen serviert wird. Die abwechslungsreiche Geschichte hat sie rhythmisch, mit Witz und Laune arrangiert. Dabei tariert sie die Gemütsbewegungen immer wieder treffsicher aus. So findet schließlich jeder sein Glück. Und es stimmt heiter, wenn Träume in Erfüllung gehen.(Heidi Strobel) Immer wieder Dienstag SE 2022. Regie: Annika Appelin. Mit Marie Richardson, Peter Stormare, Carina M. Johansson, Sussie Ericsson. Luna Filmverleih. 102 Min. Annika Appelin kreiert mit „Immer wieder Dienstag“ Soulfood mit einnehmenden Darstellerinnen. FILM-ESSAY Die Unerträglichkeit und die Banalität der Gewalt „De Facto“ bietet wenig Schauwerte wie diese, lässt einen aber bis zum Schluss nicht mehr los. Ein Film, so erschreckend wie er nur sein kann. Und dabei sieht man in Selma Doborac‘ „De Facto“ nur jeweils einen Schauspieler – Christoph Bach beziehungsweise Cornelius Obonya – an einem glatten, von Heimo Zobernig gestylten Tisch auf einem von Franz West designten Stuhl sitzend, in einem einst herrschaftlichen Gebäude in Pötzleinsdorf im Westen Wiens. Ansatzlos beginnt Bach monoton und ohne sichtbare Emotion aus Berichten über Gewalttaten, Protokollen von Folter, Vergewaltigung oder Morden im Krieg zu rezitieren. Dann folgt, in seriöserem Outfit, Cornelius Obonya, der Nämliches tut – jedoch von der Warte eines Vorgesetzten aus. Dann kommt wieder Bach an die Reihe. 130 Minuten lang nur dieses Rezitieren. Ganze sieben Schnitte gönnt Regisseurin Doborac dieser „Handlung“, die keine Auskunft darüber gibt, von welchen Kriegen oder aus welchen Protokollen von Gewalttaten da zitiert wird, um welche Orte oder welche Geschehnisse es sich handelt. Die Kämpfe auf dem Balkan, der Ukrainekrieg? Syrien? Südsudan …? Nur das, was der Folterknecht oder sein Befehlshaber erzählt, prasselt auf das Publikum ein. Man muss nicht Hannah Arendt bemühen, um dieser Banalität des Grauens gewahr zu werden. Es wird nichts gezeigt in diesem Film. Nur die scheinbar teilnahmslose Rezitation zweier Männer. Aber was da gesagt wird, geht unglaublich unter die Haut: Wie etwa eine multiple Vergewaltigung aus der Sicht eines Täters da geschildert wird, in technokratischer Beschreibung, als ob es sich ums Stanzen von Löchern in Metall auf einem Fließband handelt. Oder wie Babys, die von Tätern für lebensunwert erachtet werden, in Betonmischmaschinen zu Tode gebracht werden. All das schreit aus den vorgelesenen Protokollen entgegen – und wird noch unerträglicher, weil die Techniken der Entmenschung wie eine banale Gebrauchsanweisung fürs Kriegs- und Folterhandwerk vorgetragen werden. Nur ein Gewitter oder das Geläut von Kirchenglocken unterbricht den emotionslosen Redefluss der beiden Protagonisten. Und bevor Dunkel- heit über das Filmset hereinbricht, darf sich der „Vorgesetzte“ (Obonya) noch in philosophischen Plattitüden über die menschliche Natur, die die geschilderten Ungeheuerlichkeiten gebiert, ergehen. Durch die formale Strenge und das Konzept, die Gewaltmechanismen dadurch allgemeingültig zu machen, dass diese des örtlichen und zeitlichen Kontextes beraubt wurden, ist Doborac ein Zeitzeugnis ersten Ranges gelungen. Eine Unerträglichkeit, die man gesehen haben muss. (Otto Friedrich) De Facto A/D 2023. Regie: Selma Doborac. Mit Christoph Bach, Cornelius Obonya. Filmgarten. 130 Min.
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