DIE FURCHE · 36 14 Diskurs 5. September KOMMENTAR Verhaltene protestantische Kritik an der FPÖ Wiewohl erwartet, lösen die Wahlergebnisse in Thüringen und Sachsen eine Schockwelle aus. Für Bestürzung sorgt vor allem das gute Abschneiden der AfD, die vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wird und mit der FPÖ eng befreundet ist. Deren Obmann, Herbert Kickl, hat gleich am Tag nach der Wahl der AfD zu ihrem Erfolg gratuliert und sie als Ausdruck der Hoffnung auf einen Systemwechsel bejubelt. Die „Systemparteien“, allen voran die Parteien der bundesdeutschen Ampelkoalition, seien abgestraft worden. Das gleiche Schicksal, so Kickls Hoffnung, stehe auch in Österreich den „Systemparteien“ bevor – als ob die FPÖ nicht schon lange in Österreich zum „ Die evangelische Kirche vermeidet eine explizite Ablehnung der FPÖ. Offenbar will man ihre Wähler angesichts sinkender Mitgliederzahlen nicht verärgern. “ politischen System gehören würde. Viele reagieren auf die deutschen Wahlergebnisse mit Entsetzen, darunter auch die Kirchen, die vor der Wahl zu Recht erklärt haben, christliche Grundsätze seien mit den demokratiegefährdenden und rassistischen Ideen der AfD unvereinbar. Weniger laut üben die Kirchen freilich an Sahra Wagenknechts linkspopulistischem Bündnis Kritik, dessen gutes Abschneiden in Thüringen und Sachsen ebenfalls Grund zur Sorge bietet. Die evangelische Kirche im Rheinland hat eine theologische Argumentationshilfe gegen die AfD vorgelegt, die Diakonie Deutschland schon im April erklärt, wer die AfD wähle oder für sie offen werbe, sei als Mitarbeiter nicht länger tragbar. So weit gehen die evangelische Kirche A. und H.B. und die Diakonie in Österreich in ihrem dieser Tage vorgelegten Argumentarium zur bevorstehenden Nationalratswahl nicht. Zwar heißt es, der Schutz und die Achtung der Menschenwürde seien eine der vornehmsten Aufgaben von Staat und Politik. „Es ist mit dem christlichen Menschenbild nicht vereinbar, wenn die gleiche Würde aller Menschen geleugnet oder relativiert wird“, was bei Ideologien der Fall sei, die das „Volk“ vor das gemeinsame Menschsein stellen. Eine explizite Ablehnung der FPÖ vermeidet das Argumentarium aber und betont die Äquidistanz von Diakonie und Kirche zu allen Parteien. Offenbar will man es sich bei dramatisch sinkenden Kirchenmitgliederzahlen mit FPÖ-Wählern nicht verscherzen, zumal die FPÖ in einigen Bundesländern mitregiert. Pervertiertes „Vaterunser“ Deutlich lautstärker als auf evangelischer Seite ist auch der Protest katholischer Stimmen an der Pervertierung der zweiten Bitte des Vaterunsers mit dem Slogan „Euer Wille geschehe“ ausgefallen. Öffentliche Kritik äußerte immerhin die evangelische Theologin Monika Salzer von den „Omas gegen Rechts“. Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen, deren Vollversammlung vergangene Woche in Sibiu in Rumänien getagt hat, erklärt: „Als Christen erkennen wir im Gebot der Nächstenliebe eine Sendung, allen Menschen freundlich und dienend zu begegnen und uns insbesondere für die besonders benachteiligten und verletzlichen Menschen einzusetzen. Nächstenliebe impliziert auch, sich für mehr Gerechtigkeit einzusetzen, das betrifft ökonomische, soziale und politische Strukturen.“ Eine menschenfeindliche Politik des Ressentiments verträgt sich damit nicht. Die Kirchen stehen freilich wie auch die übrige Zivilgesellschaft vor einem Dilemma. Alle Demonstrationen „gegen Rechts“ scheinen nicht zu fruchten. Reflexhafte Blasphemievorwürfe gegen Plakate wie Von Ulrich H. J. Körtner die Vaterunterpersiflage sind von der FPÖ schon eingepreist und erhöhen nur die Aufmerksamkeit für das Subjekt. Es genügt nicht, sich über die Politik von FPÖ, AfD und anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa zu empören. Eine Lehre aus den Wahlergebnissen in Deutschland lautet, dass sich die Politik der Parteien der Mitte ändern muss, jedenfalls was die Eindämmung irregulärer Migration und das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung angeht. Nicht nur der Aufstieg der AfD, auch das Abschneiden des am linken Rand angesiedelten populistischen Bündnisses Sahra Wagenknecht zeigt, dass viele Menschen das Vertrauen in die Politik und den Staat verloren haben. Verlorenes Vertrauen aber lässt sich nicht durch ein „Weiter so“ und unterkomplexe Populismuskritik wiedergewinnen. Wollen die Kirchen glaubwürdig zur Stärkung unserer gefährdeten Demokratie beitragen, werden wohl auch sie manche ihrer Positionen, etwa in migrations-, asyl- und sicherheitspolitischen Fragen, überdenken müssen, ohne darum Populisten und ihren Anhängern recht zu geben und von der Botschaft der Menschenfreundlichkeit Gottes sowie dem Gebot der Nächstenliebe und des Schutzes der Schwachen abzuweichen. Das könnte ein schmerzhafter Prozess werden. Der Autor ist Professor für Systematische Theologie H.B. an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Uni Wien. ERKLÄR MIR DEINE WELT Altwerden ist eine Schule für Zustimmung Den gesamten Briefwechsel zwischen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Hubert Gaisbauer ist Publizist. Er leitete die Abteilungen Gesellschaft- Jugend-Familie sowie Religion im ORF-Radio. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast Als ich in meinem letzten Brief kritisch über die Sängerin Charli XCX schrieb und vor allem über das neue Modewort brat heftig die Nase rümpfte, wurde dies in meinem familiären Umfeld nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen. Ich solle doch eher meine Welt erklären, meinte man, und mich nicht zu Kulturoder besser: Kulterscheinungen äußern, die inzwischen doch ziemlich weit von mir entfernt sind. Taylor Swift zum Beispiel oder eben Charli XCX. Mein familiäres Umfeld hat recht: „ Es gibt die These, dass jeder Verlust auf einer anderen Seite ein Gewinn ist! Die Kunstgeschichte beweist, dass der Körper zwar altert, das kreative Prinzip aber nicht. “ Mir ist diese Musik tatsächlich nicht wichtig. Und für ihre Botschaften, so sie welche hat, bin ich nicht der Adressat. Mich interessiert sie als sinnliche Deutung der Zeit, in der ich lebe – mit ihren schrillen Gegensätzen zwischen existenzialistischer Larmoyanz und aggressivem Aufschrei. Ich muss aber nicht entscheiden zwischen Ablehnung oder Zustimmung. Ich kann sie einfach für mich abstellen. Ja, Zustimmung. Dieses Wort geht mir seit geraumer Zeit im Kopf herum. Weil es wirklich mit meiner Welt zu tun hat. Als müsste ich schön langsam etwas lernen, was ich noch nicht kann. Mich hat dieses Wort richtig angesprungen. Und lässt mich nicht mehr los. Ich habe es bei einem sehr edlen und leider vergessenen Philosophen entdeckt. Josef Pieper, er wäre heuer 120 Jahre alt geworden. Er spricht von Zustimmung als von der Überzeugung, dass es gut ist, zu leben. Zustimmung. Vorsicht, jetzt kommt ein pathetisches Wort: Altwerden ist eine besondere Schule für Zustimmung. Zustimmung ist unerlässlich für ein erträgliches Leben. Und zwar in meinem ganz persönlichen Bereich, in meiner Haut sozusagen. Wenn ich sie verweigern würde, bliebe ich stecken im Missmut. Wenn zum Beispiel ein Sinn nach dem anderen müde wird. Oder manches Organ zur Problemzone. Eine Unterscheidung ist notwendig: geduldiges Hinnehmen ist eines, Zustimmung dagegen meint etwas ganz anderes. Den Sinn darin finden. Und genau diese Zustimmung will ich mir aneignen, muss ich lernen wie eine fremde Sprache. Entdecken, was an Leben, an Schöpferischem noch drin ist, wenn physiologische, mechanische und speichernde Fähigkeiten abnehmen. Es gibt die These, dass jeder Verlust auf einer anderen Seite ein Gewinn ist! Diese Seite gilt es zu entdecken. Die Kunstgeschichte beweist, dass der Körper zwar altert, das kreative Prinzip jedoch nicht. Der impressionistische Maler Claude Monet ist ein gutes Beispiel. Er malte mit 60 seine berühmte „Japanische Brücke“, fast fotorealistisch. 20 Jahre später, nach starker Beeinträchtigung seiner Sehkraft, malt er dasselbe Motiv wieder. Die Brücke ist zwar kaum erkennbar, das Bild dafür ein Meilenstein auf dem Weg zur Abstraktion. Aus dem Begrenzten ist ein Weltenraum geworden. So ungefähr, liebe Frau Hirzberger, sieht es in meiner (Wunsch-)Welt zurzeit aus. Damit ich nicht missverstanden werde: Protest und Aufbegehren werden – im Politischen – mit der Zustimmung zum Leben nicht verbannt. Im Gegenteil: Dort müssen Sie fröhliche Urständ’ feiern und lautstarke Pfeifventile beim Dampfablassen finden. Anlässe dafür gibt es zurzeit genug. Ich wünsche Ihnen – und mir – viele sinnvolle Möglichkeiten zur Zustimmung, die schwierigen sollen dabei nicht ausgeklammert sein. Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin Digital: Ana Wetherall-Grujić MA Redaktion: Philipp Axmann BA, MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (CvD), Magdalena Schwarz MA MSc, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Mag. Till Schönwälder, Dr. Martin Tauss, Mag. (FH) Manuela Tomic Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Aboservice: +43 1 512 52 61-52 aboservice@furche.at Jahresabo (inkl. Digital): € 298,– Digitalabo: € 180,–; Uniabo (inkl. Digital): € 120,– Bezugsabmeldung nur schriftlich zum Ende der Mindestbezugsdauer bzw. des vereinbarten Zeitraums mit vierwöchiger Kündigungsfrist. 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DIE FURCHE · 36 5. September Diskurs 15 Warum Plattformen wie Telegram für die auf ihnen publizierten (kriminellen?) Inhalte verantwortlich gemacht werden müssen – und der Fall Pawel Durow nun entscheidend ist. Ein Gastkommentar. Die Kommunikationsfreiheit und ihre Grenzen Mit der Verhaftung von Telegram-Besitzer Pawel Durow (und seiner späteren Freilassung gegen Kaution) bricht eine seit langem schwelende Debatte von Neuem auf. Welche Verantwortung haben Kommunikationsplattformen für die auf ihnen publizierten Inhalte – und wie kann man dies regulieren? Im Zentrum steht nichts Geringeres als das Recht auf freie Rede, andererseits sind solche Plattformen wie geschaffen für kriminelle Aktivitäten. Durow steht für eine radikale Vorstellung von Kommunikationsfreiheit und Privatsphäre, wonach diese auch im Fall von Terrorismusbekämpfung nicht geschwächt werden dürften. Ist aber Telegram tatsächlich ein Hort der Freiheit – und steht nun zu befürchten, dass mit den Vorwürfen gegen dessen Eigner die Meinungsfreiheit einen schweren Schlag erleidet? Unzweifelhaft hat sich Telegram zu einer Kommunikationsplattform entwickelt, auf der Verschwörungserzählungen blühen, gehetzt und gehasst wird, Pädokriminelle ihr Unwesen treiben, Terroristen sich vernetzen und Waffen gehandelt werden. Wenn sich diese Personen um die Beschränkung ihrer Redefreiheit sorgen, ist das bittere Realsatire. Es gibt kein Recht, im Geheimen Verbrechen zu planen, Drogen und Kinderpornografie zu handeln. Freiheit in autokratischen Systemen Anders sieht es aus, wenn man weiß, dass Telegram auch genutzt wird, um in totalitären Staaten Informationen zu bekommen, diese zu teilen und unbeobachtet Kritik am Regime zu formulieren und Widerstand zu organisieren. Nicht umsonst ist es meist eine der ersten Aktionen von Autokraten und Antidemokraten, das freie Mediensystem unter ihre Kontrolle zu bringen. Da macht es schon einen Unterschied, wenn man über eine Telegram-Gruppe an News und Debatten teilnehmen kann, die staatlich sonst verboten wären. Meinungsäußerungsund Informationsfreiheit sind zentrale Bedingungen einer freiheitlichen Demokratie. Es wäre ein Armutszeugnis unserer europäischen Demokratien, wenn sie es nicht hinbekämen, Verbrechensbekämpfung und Schutz der Kommunikationsfreiheiten in Einklang zu Foto: Privat DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Alexander Filipović „ Die Festsetzung von Pawel Durow war auch ein Signal an Elon Musk, der ,X‘ zu einer Dreckschleuder werden ließ. “ bringen. Einfach ist das nicht, es wird immer heikel, wenn Grundrechte miteinander konfligieren. Sicherheit und Kommunikationsfreiheit sind in jeder Hinsicht schützenswerte Güter. Sicherheit ist aber nicht hundertprozentig möglich, manchmal müssen auch Pop-Konzerte dafür abgesagt werden. Ebenso ist Kommunikationsfreiheit nicht ohne Einschränkung denkbar: Persönlichkeitsrechte, Jugendschutzgesetze und eben auch Sicherheitsbedürfnisse relativieren das Recht auf Diskretion. Demokratische Rechtsstaaten dürfen zur Verbrechensbekämpfung von Kommunikationsplattformen die Herausgabe von Daten verlangen. Wer da nicht ordentlich mitspielt, wie Durows Telegram, hat mit rechtlichen Konsequenzen zu rechnen. Insofern war auch die Festsetzung von Durow richtig. Sie ist auch ein deutliches Signal an Elon Musk, der unter dem Deckmantel einer radikal verstandenen Meinungsfreiheit seine Plattform X zu einer Dreckschleuder und Polarisierungsplattform hat werden lassen, die von der früheren Diskursqualität auf Twitter meilenweit entfernt ist. Die Frage der Regulierung von Kommunikationsplattformen ist damit aber noch nicht beantwortet. Könnte man mit der Aktion um Durow dem klugen Ausgleich zwischen Sicherheit und Kommunikationsfreiheit einen Bärendienst erwiesen haben? Brauchten wir nicht zuerst einen internationalen Konsens, dass Plattformen überhaupt für kriminelle Inhalte zur Rechenschaft gezogen werden können, statt solcher Einmal-Aktionen gegen eingebildete Tech-Milliardäre? Die Verteidigung von Durow bezeichnet es als „absurd“, dass eine Plattform für jene Dinge verantwortlich gemacht werde, die auf ihr geschehen. Doch umgekehrt verdienen Telegram, X und Co. auch mit diesen kriminellen Machenschaften – und nicht nur mit der Meinungsfreiheit – Geld. Wenn in den Ländern, in denen diese Plattformen genutzt werden, gegen geltendes Recht verstoßen wird, müssen die Anbieter auch durch Löschung aktiv werden – und zwar schnell und sorgfältig. Knapp unter der entscheidenden Hürde Die Europäische Union versucht bereits seit geraumer Zeit, eine Regulierung zu schaffen, die Kommunikationsfreiheiten wahrt, aber Sicherheits- und Verbraucherinteressen berücksichtigt. So gelten im neuen Digital Services Act recht strenge und sinnvolle Regeln für sehr große Plattformen mit über 45 Millionen Nutzerinnen und Nutzern in der EU. Telegram brüstet sich zwar gerne damit, weltweit fast eine Milliarde Nutzer zu haben; in der EU sollen es aber nur 41 Millionen sein – was knapp unter der oben beschriebenen Grenze liegt. Einfach scheint es also nicht für die EU zu sein, Telegram zur Rechenschaft zu ziehen. Es bleibt zu hoffen, dass dies dennoch in nicht allzu ferner Zukunft gelingt – und dass auch die USA sich mit einer schärferen Regelung am Beispiel der EU orientieren. Wenn dies am Ende der jüngsten Affäre um die Festsetzung Pawel Durows steht, dann hat sich das Theater gelohnt. Wenn das Verfahren sich hingegen in die Länge zieht, am Ende wenig geschieht und Telegram wieder nicht für rechtmäßige Datenherausgabe belangt werden kann oder keine Betriebsbedingungen nach EU- Recht einhält, wäre das medienethisch und -politisch ein bedenklicher Rückschritt. Der Autor ist Medienethiker sowie Professor für Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. ZUGESPITZT Kalkutta auf der Kurzstrecke Ein fast perfektes Timing: In einer Zeit, in der man möglichst viele Menschen von der Straße auf die Schiene bringen sollte, laufen die öffentlichen Verkehrsmittel zu Höchstleistungen auf. Und lancieren einen neuen Trend: Abenteuerreisen im Alltag. Inspiriert von Ländern wie Indien oder Deutschland überrascht man mit Pannen und Zugausfällen. Zwecks Nervenkitzel soll der Trip unvorhersehbar werden. Die ÖBB-Strategen wissen: Es reichen Sperren auf Stammstrecken und ein verschlungener Schienenersatzverkehr. Im Bus kann man sich fühlen wie einst als junger Tramper. Vor allem Menschen, die im Berufsleben dicht getaktet sind, dürften dieses Lebensgefühl zu schätzen wissen. Wenn dann unverhofft wieder ein Zug einfährt, gönnt man den Fahrgästen einen Hauch von Kalkutta: Dank ausgefallener Klimaanlage lässt man sie dicht gedrängt in der Hitze stehen. Taktile und olfaktorische Reize gerinnen zum exotischen Gesamtkunstwerk. Mit Glück landet man noch in einem von Graffiti-Genies gestalteten Wagon mit „gesprayten“ Fenstern: Da lässt sich zu jeder Uhrzeit eine romantische Nachtfahrt simulieren. Sollten Sie all das verpasst haben, vermag die Bahn Trost zu spenden: Die Bauarbeiten gehen erst im nächsten Jahr so richtig los. Martin Tauss PORTRÄTIERT Wanderer in der Sprache Zuerst immer der Mensch. Bodo Hell. Ich sehe ihn vor mir. Er fährt mit dem Fahrrad vorbei und winkt. Er lacht. So dermaßen freundlich und, ja, fröhlich. So zugewandt und neugierig. Und immer gern bereit, seinen Wissensschatz ebenso großzügig zu teilen wie die von ihm gesammelten Früchte der Natur. Zum Beispiel die Meisterwurz; in Schnaps eingelegt, reicht er diese Heilpflanze weiter. Man kann ja nie wissen. Dann die Performance. Welch eine Präsenz, welch eine Präsentation! Wo Bodo Hell auftritt, hat er sofort die Aufmerksamkeit der Hörerinnen und Hörer. Welch eine Sprache, welch eine Vortragskraft! Begeistern kann er, das Wort trifft selten so gut. Seinen eigenen Weg geht er beständig, den literarischen, den menschlichen, keine Moden braucht er, keine Anbiederungen an Themen oder Betriebe, und 2023 wird er endlich und wohlverdient mit dem Österreichischen Kunstpreis für Literatur ausgezeichnet. Er beschenkt seine Leser und Hörerinnen mit einem Blick auf Sprache, auf wuchernde, widersprüchliche, widerständige und lebendige Traditionen und wunderliche Dinge, sprich auf: Kultur. Die reicht vom Bauernkalender bis zu den Nothelfern. Seine Neugier, vermittelt im Gespräch und in den Büchern, steckt an, man interessiert sich für Dinge, von denen man vorher noch nie gehört hat. Er beschenkt seine Leserinnen und Hörer mit einem Blick auf die Natur, der seinesgleichen sucht. Seine unzähligen literarischen Werke bieten Schichten, Stimmen und Spuren an – und das durchaus mit großen Portionen Subversion. Da durchwandert einer die Sprache wie Landschaften, die vertraut sind – und doch immer auch unvertraut. Geboren 1943 in Salzburg, studiert Bodo Hell Orgel am Salzburger Mozarteum, Film und Fernsehen an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien sowie Philosophie, Germanistik, Geschichte an der Universität Wien. So weit aufgespannt wie sein Interesse zeigen sich auch seine Projekte mit Musikern und Künstlern. 2006 nimmt er am Bachmannpreis-Bewerb teil und schreibt der FURCHE einen Bericht darüber, der vieles zeigt, was andere übersehen. Seit vielen Jahren verbringt er den Sommer als Alpenhirt mit zig Tieren auf der Grafenbergalm im Dachsteingebiet, das er kennt wie kaum ein anderer. Am 9. August ist der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller zu einer Wanderung aufgebrochen und nicht mehr zu seiner Hütte zurückgekehrt. Er fehlt. (Brigitte Schwens-Harrant) Foto: Sigrid Landl „Bodo Hell: Das unstillbare Bedürfnis nach Lesen in der Landschaft“ von Manfred Mittermayer, 8.3.2023, furche.at. Anlässlich des 80. Geburtstages am 15. März 2023 erschien in der FURCHE ein Porträt von Manfred Mittermayer, das den Künstler der Sprache würdigte.
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