DIE FURCHE · 236 International5. Juni 2025Wie einGefängnisDie palästinensischeStadtBait Lahiya inNord-Gaza ist immerwieder Zielvon israelischenLuftangriffen.will es wirklich anpacken, hinsehen unddie Dinge beim Namen nennen. Für die einenist es zu kompliziert, für die anderenzu undifferenziert. Aber sind Menschenlebenwirklich nichts mehr wert? DieseFrage stelle ich mir ständig. Für mich istdie Berichterstattung zu abstrakt und steril,sie spiegelt das Gesamtbild vor Ort, sowie ich es erlebt habe, nicht wider.Es scheint, als beuge sich die Berichterstattungder politischen und instrumentellenPolarisierung und verstärke diesedadurch noch. Der fehlende Zugang fürinternationale Journalistinnen und Journalistenund die Diskreditierung von lokalenBerichterstattenden, die zur Zielscheibewerden, führen ebenso zu einerzurückhaltenden Berichterstattung wiedie Selbstzensur, die viele sich selbst auferlegenoder aufgezwungen bekommen.Doch der bewusst verweigerte Zugangund der Druck zur Selbstzensur werdenim aktuellen Diskurs kaum thematisiertoder kritisch reflektiert. Meiner Meinungnach ist das für alle Menschen absolutkontraproduktiv.Das Gespräch führte Elias FerozLisa Macheiner war in den vergangenenMonaten als Projektkoordinatorinfür verschiedenehumanitäre Hilfsorganisationen –darunter Ärzte ohne Grenzenund das Schweizer Kinderhilfswerk – imGazastreifen im Einsatz. Im Interviewmit der FURCHE spricht die gebürtige Salzburgerinjedoch nicht als Vertreterin einerOrganisation, sondern in persönlicher Sacheüber ihre Beweggründe, überhauptnach Gaza zu gehen, ihre Eindrücke vor Ort –sowie ihre Sicht auf die Berichterstattungim deutschsprachigen Raum angesichtsder katastrophalen Lage im Gazastreifen.DIE FURCHE: Was hat Sie dazu bewogen,sich für einen Einsatz im Gazastreifen zumelden?Lisa Macheiner: Im Rahmen meiner Arbeitbei Ärzte ohne Grenzen war ursprünglichein Einsatz im Gazastreifen bereits vordem 7. Oktober für mich vorgesehen. Kurzfristigwurde ich jedoch nach Afghanistanentsandt. Nach meiner Rückkehr im Dezember2023 erhielt ich erneut eine Anfragefür Gaza, der ich – nach gründlicherÜberlegung – zusagte.DIE FURCHE: Sie waren in der Vergangenheitin zahlreichen Krisengebieten der Welt unterwegs,darunter für Länder wie Jemen,Syrien, Libyen und Afghanistan. Wie bereitetman sich innerlich auf einen Einsatz ineinem Kriegsgebiet wie Gaza vor – oder istdas überhaupt möglich?Macheiner: Wie bereits erwähnt, habe ichlange überlegt, ob ich den Einsatz im Gazastreifenannehmen soll. Ich habe mich intensivmit meiner Familie und Kolleginnenund Kollegen ausgetauscht, die bereits vorOrt im Einsatz waren. Ihre Schilderungenwaren erschütternd – sie sprachen von einerSituation, die sie so noch nie erlebt hatten,von einer regelrechten Hölle auf Erden.Auch intern gab es zahlreiche Besprechungen,da das Einsatzrisiko als extrem hocheingeschätzt wurde. Es war wichtig, dassuns bewusst war, worauf wir uns einlassen.Ich habe mich gründlich vorbereitet –und dennoch wurde mir nach der Einreisesehr schnell klar, dass sich das, was ichMehr aktuelleInterviews,Analysen undKommentarefinden Sie indem Dossier„Gaza“ auffurche.at.Die Zahl der Todesopfer in Gaza wird bereits auf rund50.000 geschätzt. Die erfahrene NGO-Mitarbeiterin LisaMacheiner über ihren bisher schlimmsten Einsatz.„Ist ein Lebennichts wert?“hier erlebe, in vielerlei Hinsicht mit keinemmeiner bisherigen Einsätze vergleichenlässt.DIE FURCHE: Worin unterscheidet sich IhrEinsatz im Gazastreifen von Ihren bisherigenErfahrungen als humanitäre Hilfskraft?Macheiner: Was sich für mich vor allemunterscheidet, ist die Nähe zum Tod undzur Gefahr – in einer Intensität, wie ich siein keinem anderen Einsatz erlebt habe.Man ist von allen Seiten eingeschlossen.Es fühlt sich an wie ein Gefängnis, in demman ständig von einem Ort zum nächstengetrieben wird. Ich habe in keinem früherenEinsatz so viele Teammitglieder verlorenwie im Gazastreifen. Das macht sprachlos– und die Bilder brennen sich tief insGedächtnis ein.„ Wir befinden uns auf einem Abstieg,der nur in einem gesellschaftlichenTotalschaden enden kann. “DIE FURCHE: Wie gehen Sie mit der dauerhaftenKonfrontation mit Leid und Zerstörungum – und was ging in Ihnen vor, alsSie den Gazastreifen verließen?Macheiner: Es fiel mir sehr schwer, den Gazastreifenzu verlassen – ich brauchte lange,um diesen Schritt zu gehen. Ich hattedas Gefühl, dass ich mich abwende, meinenKolleginnen und Kollegen den Rücken kehreund genauso wie der Rest der Welt wegsehe.Ich gehe mit den Traumata, dem Leid undder Zerstörung um, indem ich mich intensivdamit auseinandersetze und regelmäßigepsychotherapeutische Begleitung in Anspruchnehme. Trotzdemfällt es mir weiterhinschwer, und immer wiederfrage ich mich: Wasmache ich hier eigentlich?Ich sollte zurück.DIE FURCHE: Haben Sienoch Kontakt mit IhrenKolleginnen und Kollegenvor Ort?Macheiner: Ja, ich habenoch Kontakt mit Kolleginnenund Kollegenvor Ort, mit manchen sogartäglich. Meine Sorge,dass ihnen etwas passiert,ist sehr groß. Es istmir wichtig, regelmäßigvon ihnen zu hören undein Lebenszeichen zu bekommen. Die Verzweiflungbei den palästinensischen Mitarbeitendenist unbeschreiblich. Fast täglicherreichen mich Nachrichten, in denensie sich von mir verabschieden, weil sieüberzeugt sind, bald sterben zu müssen.DIE FURCHE: Wie bewerten Sie die Berichterstattungüber Gaza im deutschsprachigenRaum?Macheiner: Oft habe ich das Gefühl, dasThema ist ein „heißes Eisen“ – niemandFotos: Lisa MacheinerLisa Macheiner ist Projektkoordinatorinfür internationaleNicht-Regierungsorganisationen.DIE FURCHE: Haben Sie das Gefühl, dass zentraleAspekte des humanitären Leids ausgeblendetoder falsch gewichtet werden?Macheiner: Das Ausmaß der humanitärenLage und ihre Dringlichkeit werden meinerMeinung nach falsch eingeschätzt. Ichhabe das Gefühl, mir den Mund fusselig zureden: Seit Monaten gebe ich immer wiederdieselben Antworten auf dieselben Fragen.Was braucht es noch, damit Rechtsstaatlichkeitund internationales Recht durchgesetztwerden? Die Zeit läuft uns davon –und wir erleben erneut flächendeckendeEvakuierungsanordnungen, Massenvertreibungenund Massentötungen.DIE FURCHE: Was wünschen Sie sich, dassMenschen in Österreich oder Deutschlandüber die Situation in Gaza verstehen oderwissen sollten?Macheiner: Ich wünsche mir, dass die Menschenhinsehen und sich kritisch mit denGeschehnissen im Gazastreifen auseinandersetzen– und was sie für uns alle, für dieMenschheit, bedeuten. Was es heißt, wennMenschen als letzten Ausweg ihre getötetenund verstümmelten Kinder in sozialenNetzwerken zeigen. Das sagt viel darüberaus, wie wir miteinanderumgehen. Ich wünschemir, dass die EntmenschlichungmeinerKolleginnen und Kollegen,ihrer Familien undder Bevölkerung im Gazastreifenendlich endet.Es sind Menschenwie du und ich – mitTräumen und Hoffnungen.Dass ich das immerwieder betonen muss,finde ich erschreckend.Für mich zeigt das, dasswir uns auf einem Abstiegbefinden, der nurin einem gesellschaftlichenTotalschadenenden kann.DIE FURCHE: Ziehen Sie eine Rückkehr inden Gazastreifen in Betracht – im RahmenIhrer Tätigkeit für humanitäre Organisationen?Macheiner: Ja, ich möchte definitiv inden Gazastreifen zurückkehren – aktuellkommt für mich nichts anderes infrage.Ich hoffe sehr, dass das noch möglich seinwird. Derzeit konzentriere ich mich darauf,das Personal vor Ort von hier aus bestmöglichzu unterstützen.
DIE FURCHE · 235. Juni 2025International7Während fast alle Länder Europas auf Abschottung und Abschiebungen setzen, will Spanien knapp eine Million Einwanderer legalisieren.Über eine neue „Politik gegen den Strom“ und die Chancen, die sie birgt.Das Recht zu bleibenAnkunftauf denKanarenAm Hafen vonLos Cristianos(Teneriffa) endetdie Überfahrt dieserImmigrantenaus Gambia – undzugleich beginntdas Warten.Von Manuel Meyer • MadridIsmael Sylla kann sein Glücknoch gar nicht fassen. Erstim Jänner hatte Spanien seinenAsylantrag abgelehnt.Spaniens Asylbestimmungengehören in Europa mit zu denstrengsten überhaupt. Das Landerkennt gerade einmal 18 Prozentsämtlicher Anträge an, währendder EU-Durchschnitt bei knapp40 Prozent liegt. Auch der 25-jährige Soziologiestudent ausdem afrikanischen Guinea galtlediglich als Wirtschaftsflüchtling.Vor rund eineinhalb Jahrenfloh er von Marokko aus in einemFlüchtlingsboot auf die spanischeAtlantikinsel Fuerteventura vorder Küste Westafrikas.Doch nun könnte Ismael schonbald seine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungbekommen –und sogar noch viel früher als erhofft.Denn am 20. Mai traten inSpanien neue Einwanderungsbestimmungenin Kraft, mit denenMadrid in den kommenden dreiJahren bis zu 900.000 Migrantenohne Aufenthaltsgenehmigungenlegalisieren will.Hierfür baute die Regierungbürokratische Hürden ab, weitetedas sogenannte „Verwurzelung“-Konzeptaus. Dabei handeltes sich in Europa um ein einzigartigesVerfahren, das Migrantenaufgrund sozialer, beruflicheroder familiärer Gründe den Erhaltvon Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungengewährt.Auch der Familiennachzugwurde erleichtert. Angehörigeeingebürgerter Einwandererkönnen die Verfahren von Familienzusammenführungensogarvon Spanien aus beantragen. Einwanderer,die ihre Aufenthaltserlaubnisverloren haben, erhalteneine zweite Chance, ihren Statuserneut zu legalisieren.Der SonderwegZudem verkürzte die Regierungdie Antragsverfahren. „Mussteman bisher drei Jahre in Spaniengelebt haben, um dieses Verwurzelungsrechtin Anspruch nehmenzu können, sind es jetzt nurnoch zwei Jahre. Ich kann alsoschon im September versuchen,meine Situation zu legalisieren“,erzählt Ismael. Auch dieHürden bei den notwendigen Arbeitsplatzangebotenwurden reduziert.Mussten Migranten bisherVorverträge mit mindestens30 Wochenstunden vorlegen, reichennun Jobangebote mit 20 Arbeitsstundenpro Woche, umAufenthaltsgenehmigungen beantragenzu können.„Dadurch werden die Unternehmenhoffentlich animiert, den bishernoch illegalen EinwanderernVorvertragsangebote zu machen,ohne die sie nicht die Kriterienfür die Anträge erfüllen“, meintFernando Sandoval. Der Sozialarbeiterbei der Caritas im südspanischenSevilla bereitet Ismaelfür den Arbeitsmarkt vor. Im sogenannten„Projekt Nazareth“ erhältder Guineer noch bis AnfangJuli eine Ausbildung zum Koch.Mit seinen neuen Einwanderungsregelnschlägt Spanienin Europa zweifellos einen Sonderwegein. Die Migrationspolitikder meisten EU-Staaten – angeheiztdurch das europaweiteErstarken rechtspopulistischerKräfte - ist eher durch Abschottungund Abschiebungen geprägt.Zuletzt verschärfte auch die neuedeutsche Bundesregierung EndeMai ihre Migrationspolitik. BeschleunigteEinbürgerungen fürbesonders gut integrierte Einwanderernach drei Jahren wurdenzurückgenommen, der Familiennachzugbegrenzt. Österreichsetzte den Familiennachzug fürEin gestrandetes Flüchlingsboot auf Lanzarote.anerkannte Flüchtlinge bereitsim März aus, nachdem im vergangenenJahr fast 8000 Menschennur über den Familiennachzugnach Österreich gekommen sind.Spaniens sozialistische MigrationsministerinElma Saiz Delgadoist sich bewusst, dass ihre„ Benötigt werdenArbeitskräfte, die mitSteuern helfen, ineiner stark alterndenGesellschaft ins Rentensystemeinzuzahlen.“Fotos: Markus MayerRegierung mit den neuen Einwanderungsbestimmungen„in Europagegen den Strom schwimmt“.Aber ihr Land brauche - wie eigentlichauch alle anderen EU-Länder - dringend Arbeitskräfte,die mit Steuern helfen, die Staatskassenzu füllen und in einerstark alternden Gesellschaft insRentensystem einzahlen.Migration als Notwendigkeit„Migration ist kein Problem, sonderneine Notwendigkeit“, stelltebereits Spaniens MinisterpräsidentPedro Sánchez im vergangenenSommer auf seiner Afrikareiseklar. Spaniens sozialistischerRegierungschef besuchte damalsden Senegal, Gambia und Mauretanien.Die große Mehrheit der fast46.000 Bootsflüchtlinge, die imvergangenen Jahr die vor der westafrikanischenKüste liegenden KanarischenInseln erreichten, startetenvon diesen Ländern aus.Natürlich forderte Sánchez vondiesen Ländern ein härtestes Vorgehengegen Schlepperbandenund bessere Grenzkontrollen. Erbot aber auch Arbeitsverträge an,um die legale Migration zu fördern.Mit besonderen Visa-Programmenkönnen seitdem Menschenaus diesen afrikanischenStaaten geregelt und zeitlich begrenztnach Spanien einwandern,um dort zu arbeiten.„So haben also auch die neuenEinwanderungsregeln durchausFORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE
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