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DIE FURCHE 05.06.2025

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DIE FURCHE · 2322

DIE FURCHE · 2322 Wissen/Lebenskunst5. Juni 2025Von Ute AndorferDas Lebenstemposcheint sukzessiveschneller zu werden,damit wachsen auchdie an uns täglich gestelltenAnforderungen. Nahrungsaufnahmewird dabei schnell zurNebensächlichkeit. Fast Food undFertigprodukte sparen Zeit für andereTätigkeiten. Es muss schnellgehen und satt machen, aber bitteauch „light“ sein, damit mannicht zunimmt. Wenn die Waagedann doch zu viel anzeigt, suchenwir ganz freiwillig den Hunger,wieder zurück auf dem Weg zueinem Körper, der den vermeintlichenIdealen der Mediengesellschaftentspricht. Und auch beimAbnehmen soll es dann – bitte! –möglichst rasch gehen. Angesichtsder wachsenden Angebotezur Entschleunigung durch Wellness-Behandlungenoder Genussreisenscheinen wir die Fähigkeitzu Langsamkeit, Achtsamkeitund Genuss verloren oder zumindestverlernt zu haben. Und währendsolcher Auszeiten vom stressigenAlltag kann man ja auchzur Ruhe kommen und genießen –nur gelingt dann oft nicht derTransfer in den Alltag.FremdeKochtöpfeEin sozialästhetischerAspektbeim Essen könntedas lebenslangeAusprobieren vonneuen Gerichtenund das Sich-Einlassenauf andere„Geschmackskulturen“sein.Siehe dazu auchdie Reportagevon DagmarWeidinger: „Deressbare Garten:Zum FrühstückBlumen“(7.5.2024), auffurche.at.In unserer Gesellschaft herrscht große Verunsicherung bezüglich derErnährung. Wie wäre es, sich am Schönen zu orientieren? Zur Sozialästhetikdes Essens – samt Inspiration zum kulinarischen Selbstversuch.Entschleunigenund auskosten„ Das gemeinsame Essenist heute nicht mehr selbstverständlich.Vielleicht würdees guttun, sich wieder mehrdarauf zu besinnen. “Selbstfürsorge im AlltagDas, was wir allerdings mehrbräuchten als käuflich zu erwerbendeGenuss-Auszeiten, ist dieFähigkeit zu einer liebevollenRückwendung zu uns selbst. AlltäglicheSelbstfürsorge meint u.a.die Fähigkeit, mit sich gut umzugehen,sich zu schützen, die eigenenBedürfnisse zu berücksichtigen,Belastungen richtigeinzuschätzen und sich nicht zuüberfordern. Dazu gehören wiederumdas Essen und die Ernährungmit all ihren Aspekten.Der Nahrungsmangel, der unsereKultur über Jahrtausendegeprägt hat und der für viele Europäernoch in der Mitte des 20.Jahrhunderts lebensbedrohlichwar, ist weitgehend überwunden.Heute wird er kaum nochzur Kenntnis genommen – wenngleiches nach wie vor Menschenam sozialen Rand gibt, die darunterleiden. In der modernen Überflussgesellschaftwerden nunvielfältige Varianten des Sich-Ernährens erfunden: z.B. vegetarisch,vegan oder auch „paleo“ –eine Ernährungsform, die sichan der vermuteten Ernährungder Altsteinzeit orientiert. Kohlenhydratein der Ernährung werdenvermieden, man isst also „nocarb“oder „low-carb“. Dann gibtes auch diejenigen, die „FunctionalFood“ in ihren Ernährungsplaneinbauen: Lebensmittel, diemit zusätzlichen Inhaltsstoffenangereichert sind. Die Herstellerbleiben die Beweise der gesundheitsförderndenWirkung oftnoch schuldig, weil keine hinreichendwissenschaftlich gesichertenErgebnisse vorliegen.Schließlich gibt es Menschen,die sich der Haltung „Nose-to-Tail“ verschrieben haben, diedas ganze Tier essen, von derNase bis zum Schwanz – als einZeichen gegen die Wegwerfgesellschaftund aus Respekt demLebewesen gegenüber. Nichtswird weggeworfen. Etwa 78.000Menschen weltweit sind wiederumMitglieder von „Slow Food“,einer Gegenbewegung zum uniformenund globalisierten FastFood. Die ursprünglich aus Italienstammende Bewegung bemühtsich um die Erhaltung derregionalen Küche mit heimischenProdukten und deren lokalerProduktion. Für die „SlowFood“-Bewegung steht der Genussim Mittelpunkt. Ökologische,regionale, sinnliche undästhetische Qualität gilt hierals Voraussetzung für Genuss.Gleichzeitig scheint der Menschheute mehr von Nahrungsmittelintoleranzenbetroffen zusein als in vorigen Jahrhunderten.Lactose, Fructose oder auchGluten sind unverträglicher geworden.Und ein Drittel der Weltbevölkerungist übergewichtigoder adipös. In Österreich ist bereitsbei den 7- bis 14-jährigenSchulkindern knapp ein Viertelübergewichtig oder adipös.Ambivalenz also, wohin manblickt: Nicht nur, dass es unzähligeKochsendungen und „Koch-Challenges“ im Fernsehen gibt.Online tauschen „Foodies“, alsoMenschen, für die der Konsumvon hochwertig eingeschätztenSpeisen und Getränken hoheBedeutung hat, ästhetisch möglichstansprechende Fotos von Gerichtenaus. „Food-Communities“fachsimpeln in sozialen Netzwerkenüber Zubereitungsmethodenund Bezugsquellen für die bestenLebensmittel.Foto: Getty Images / Heritage Images / Heritage ArtKnuspriges ButterbrotUnd weltweit machen „FoodBlogger“ Kochbüchern Konkurrenz.Sie experimentieren mit Rezepten,entwickeln neue Gerichte,arrangieren sie möglichst ästhetisch,bilden die Gerichte in schönenFotostrecken ab und schreibendarüber online in einem Blog.Man weiß, dass soziale Medien oftunrealistische Schönheitsidealevermitteln. Dazu kommt das destruktivePhänomen des Bodyshaming,worunter beleidigende Äußerungenin sozialen Netzwerkenverstanden werden. Die Unzufriedenheitmit dem eigenen Körperwächst durch derartige Posts,wohl auch ein Grund – von vielen(!) – warum etwa in Wien die Zahlder Essstörungen bei Mädchenzuletzt zugenommen hat.Von Molière (1622-1673)stammt der Spruch „Wenn ichgut gegessen habe, ist meine Seelestark und unerschütterlich –daran kann auch der schwersteSchicksalsschlag nichts ändern“.Man weiß über die Korrelationzwischen Essen und psychischerGesundheit. Genuss ist eineeigenständige Dimension der seelischenGesundheit und dahertherapeutisch wertvoll. Die Anleitungzur Selbstfürsorglichkeit istein wichtiges Therapieziel, auchweil bei vielen Patienten genussfeindlicheRegeln häufiger sindals genussfördernde.Sogenannte euthyme Therapieansätze,in denen die Förderungvon Genusserleben im Mittelpunktsteht, bieten einige Vorteile.Bei Menschen, die z.B. unterDepression und Zwangserkrankungenleiden, kann damit zumersten Mal seit langer Zeit wiederpositives Erleben ausgelöstwerden. Auch jenen mit neurologischenoder psychosomatischenBeschwerden kann es so gelingen,wertvolle Strategien zur Krankheitsbewältigungzu entwickeln.Solche Ansätze werden insgesamtnoch zu wenig beachtet, obwohles im therapeutischen Alltagviele weitere Möglichkeitendurch Kreativität, Musik, Bewegungetc. gibt.Peter Rosegger (1843–1918) hateinmal gesagt: „Manches Vergnügenbesteht darin, dass manmit Vergnügen darauf verzichtet.“Mir fallen spontan die verschiedenstenSituationen ein, in denenich mir durch Verzicht ein Vergnügenbereiten könnte. Nur einemeiner alltäglichen Beschäftigungenkommt mir dabei garnicht in den Sinn: das Essen! Alsogenauer gesagt die Planung einesGerichtes, das Beschaffen und Zubereitenfrischer Zutaten und –als Höhepunkt – das Genießen.Darauf will ich auch gar nichtverzichten, denn Nahrungsaufnahmeist für mich so viel mehrals Ausgleich meiner Kalorienbilanz.Ich betrachte das Thema Essenund Ernährung als eine derschönsten Notwendigkeiten desAlltags, denn jede Mahlzeit kannzu einem kleinen Festmahl werden– und sei es „nur“ ein knusprigesStück Brot mit echter Butter,frischem Schnittlauch und einerPrise Salz.Kochen als ErholungGewöhnlich ist der Menschnicht gern allein und oft isst erauch nicht gerne allein. Das gemeinsameEssen ist aber heutenicht mehr selbstverständlich.Vielleicht würde es guttun, sichwieder mehr darauf zu besinnen.Sich mit anderen gemeinsam aneinen Tisch zu setzen, gemeinsamzu genießen und sich auszutauschen,birgt bestimmt Wirkfaktoren,die unsere Resilienzstärken könnten. Auch ich habedes Öfteren das Bedürfnis, sprichwörtlich„auf die Bremse zu steigen“,zu entschleunigen. Einehilfreiche Strategie ist dann dasKochen, das ich ganz bewusst alseinen erholsamen Prozess wahrnehme.Ich nehme mir dann extramehr Zeit, genieße die einzelnenSchritte bis zur Vollendungeines Gerichts – auch, wenn diesvielleicht mehr Zeit in Anspruchnimmt. Vorfreude ist ja bekanntlicheine der schönsten Freuden.Mittlerweile weiß man um diePlastizität des menschlichen Gehirns:Lebenslanges Lernen istnicht nur möglich, sondern auchsehr wichtig – es hält uns gesund.Ein sozialästhetischer Aspektbeim Essen könnte das lebenslangeAusprobieren von neuenGerichten und das Sich-Einlassenauf andere „Geschmackskulturen“sein. Auf alle Fälle geht es darum,sich inspirieren zu lassen,in fremde Kochtöpfe zu schauen,etwas Neues auszuprobieren –Abwechslung tut gut! Aus der psychologischenForschung wissenwir, dass das Teilen von Glück esnicht nur sprichwörtlich verdoppelt.Die seelische Gesundheitist heute vielfach bedroht. Etwasselbst Gekochtes mit anderen zuteilen und die Freude der anderenmitzuempfinden, könnte jedenfallszu ihrer Stabilisierung beitragen.Die Autorin ist klinische Psychologin,Gesundheitspsychologinund Psychotherapeutin. Sie istam Anton Proksch Institut (API),am Institut für Sozialästhetik &Psychische Gesundheit der SigmundFreud Privatuniversität(SFU) Wien sowie in freierPraxis tätig.

DIE FURCHE · 235. Juni 2025Wissen23In Zeiten der Desinformation und Wissenschaftsskepsis erscheint das Wirken des 1924begründeten Wiener Kreises brandaktuell. Im Rathaus eröffnet dazu nun eine Ausstellung.Kaffeehaus-PhilosophieVon Martin TaussEine wissenschaftliche Weltauffassungist heute ein bedrohtesGut: Autoritäre Politiker weltweitstehen auf Kriegsfuß mitihr. In den USA, einstmals dieFührungsmacht der westlichen Welt, führtPräsident Donald Trump einen Kulturkampfgegen die Universitäten, „akademischeEliten“ und bestimmte Wissenschaftsbereichewie die Klimaforschung, dieseiner (fossilen) Agendawidersprechen. Um-so mehr kann mansich einen Satz auf derZunge zergehen lassen,der 1929 in Wienformuliert worden ist:„Die wissenschaftlicheWeltauffassung dientdem Leben und das Lebennimmt sie auf.“Er stammt aus einemManifest des WienerKreises: 1924 gründetender Philosoph MoritzSchlick, der MathematikerHans Hahnund der Sozialreformer Otto Neurath einenphilosophischen Zirkel, aus dem im Wiender 1920er Jahre ein heute weltberühmtesNetzwerk erwachsen sollte. Es schuf kreativeVerbindungen zwischen Philosophen,Wissenschaftern und Kunstschaffenden.Bemerkenswert ist die signifikante Beteiligungvon Frauen, die für solche Bewegungendamals untypisch war. Das Ziel: Einstreng wissenschaftlicher Zugang mit Beobachtung(d.h. empirischer Forschung)und formaler Logik sollte die vorherrschendemetaphysische Philosophie überwinden.Und wissenschaftliche Erkenntnis sollte zueinem popularisierten Wissen führen: Imaktuellen Kampf gegen Wissenschaftsskepsiskönnte der Wiener Kreis jedenfalls alsVorbild dienen, denn„ Die Protagonistendes Wiener Kreiseswaren darum bemüht,die wissenschaftlicheWeltauffassungzu popularisierenund auch annicht-akademischgebildete Menschenweiterzugeben. “seine Protagonistenwaren darum bemüht,die wissenschaftlicheWeltauffassung auchan nicht-akademischgebildete Menschenweiterzugeben.Eine aktuelle Ausstellungin der Wienbibliothekim Rathauszeigt nun die Orte, dieals Knotenpunkte desNetzwerks fungierten:Das Hauptgebäude derUniversität am Ringund das Institut für Mathematikin der Boltzmanngasse, das alteund neue Rathaus, das Volksheim Ottakringund das Pädagogische Institut, aber auch Vereine,Kaffeehäuser sowie private Wohnungenund Salons waren wichtige Treffpunktefür den interdisziplinären Austausch. Inder begleitenden Publikation zur Ausstellungbeschreibt der Historiker FriedrichStadler den Wiener Kreis als produktivesurbanes Netzwerk: „Analog zur Literaturentwickelte sich eine Kaffeehaus-Philosophie,welche die universitäre Disziplin überwandund bereicherte.“ Stadler hat die Ausstellunggemeinsam mit dem HistorikerBernhard Hachleitner kuratiert, der wiederumauf den sozialen Impuls des Netzwerksverweist: „Die Orte bilden das Wiendes Wiener Kreises nicht nur topografischab – in der Ausstellung mit einem großenStadtplan visualisiert –, sie stehen auchjeweils für wesentliche inhaltliche Aspektewie die Mitwirkung am Volksbildungs-und Schulreformprojekt des ,RotenWien‘. Das war umso wichtiger, weil die Universitätfür den Wiener Kreis einen prekärenOrt darstellte.“Feindliches politisches UmfeldDas politische Umfeld wurde zunehmendfeindlich; bald schon wurde deravantgardistische Zirkel zum roten Tuchfür die reaktionären und antisemitischenStrömungen an der Universität Wien. Philosophie-ProfessorSchlick wird 1936 imHauptgebäude der Uni von einem ehemaligenStudenten erschossen. „Mord undSelbstmord, Liebschaften und Nervenzusammenbrüche,politische Verfolgungenund Vertreibung haben alle ihren Platz inFoto: Wienbibliothek im RathausOtto Neurath widmete sich der volksbildnerischen Wissensvermittlungdurch bildstatistische Tafeln (Albumblatt; Gesellschaft und Wirtschaft).der schillernden Geschichte des WienerKreises, doch den roten Faden bilden diegeistigen Auseinandersetzungen“, resümiertder Mathematiker Karl Sigmund imBuch „Sie nannten sich Der Wiener Kreis“(Springer Spektrum 2015).Orte des Wiener KreisesWienbibliothek im Rathaus (Eingang Felderstraße,Stiege 6), 5. Juni bis 19. SeptemberPublikation zurAusstellungHrsg. von AnitaEichinger, BernhardHachleitnerund FriedrichStadlerWiener Hefte – 372 Seiten, gratisim RathausIhr FURCHE-AboAls FURCHE-Leser:in schätzen Sie Journalismusmit Sinn: unterschiedliche Standpunkte undneue Perspektiven, am Menschen ausgerichtet,verantwortungsbewusst und tiefgründig.Jetzt Dossiersentdecken:furche.at/dossierIhre Abovorteile auf einen Blick Für die entspannte Lektüre am Wochenende diegedruckte FURCHE ab Donnerstag in IhremBriefkasten E-Paper für unterwegs und uneingeschränkterZugang zu allen digitalen Inhalten auf furche.at Mit dem FURCHE-Navigator Zeitgeschichteentdecken – alle Artikel seit 1945 online Tägliche oder wöchentliche FURCHE-Newsletter,jetzt neu: jeden Tag ein Thema in unseren neuenRessort-Newslettern, 7× pro WocheViel vor.Viel dahinter.Mehr Infosfurche.at/abo+43 1 512 52 61-52aboservice@furche.at

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