DIE FURCHE · 2318 Literatur5. Juni 2025Von Daniel JurjewSelbst in der nahezu uferlosen Literaturüber Neapel nimmt „DieHaut“ von Curzio Malaparte(1898–1957) eine Ausnahmestellungein. Der Autor war eine kontroversePersönlichkeit, verkörperte geradezudie Wirren und Widersprüche seinerZeit; „Die Haut“, die 1949 erschien, entpupptesich als großer Publikumserfolgund gleichzeitig als Skandalroman, der aufdem Index des Vatikans landete und seinemAutor die Verbannung aus der StadtNeapel eintrug. Heute, 76 Jahre später, istder Roman ein unumstrittener Klassikerder italienischen Nachkriegsliteratur, derallerdings mit umstrittenen Stellen aufwartet(nicht deckungsgleich mit den damalsumstrittenen Stellen). Es ist dem Verlaghoch anzurechnen, dass dieses Werkwieder präsent ist und sowohl Florian Illiesim Vorwort als auch der NeuübersetzerFrank Heibert im Nachwort Stellungzu einer Problematik beziehen, die gegenwärtigrege diskutiert wird: Wie sollen wirmit Werken umgehen, die ihre ästhetischeKraft nicht eingebüßt haben, aber eine Haltungtransportieren, die unseren Moralvorstellungendeutlich widerspricht?Heibert erzählt von einer sehr persönlichenKonfrontation mit dem Werk: Zum erstenMal las er es Anfang der Achtziger undwar zunächst fasziniert, um dann „unvorbereitetund heftig“ von der Homophobie zweierKapitel getroffen zu werden, die ihn an dieschwierige Zeit als schwuler Jugendlicher inder bundesdeutschen Provinz der Siebzigerund allgemeiner an die homophobe Grundhaltungder damaligen Gesellschaft denkenließ. Er „brach die Lektüre ab und verdrängtedie unangenehme Erfahrung“. Erst bei dererneuten Lektüre Jahrzehnte später erinnerteer sich an das einstige Erlebnis, fand sichnun aber in der Lage, Malaparte als Mannseiner Zeit und die Lektüre als Schlüsselzum Verständnis dieser zu begreifen.Schauplatz NeapelDer Roman beginnt 1943 in Neapel, dasdie Alliierten gerade befreit haben; dortspielt er auch die meiste Zeit, ehe er amEnde noch ein wenig den weiteren Verlaufdes Italienfeldzugs zeigt. Vom ersten Kapitel(„Die Pest“) an wird schmerzlich vorgeführt,was ein Krieg mit den Besiegten, aberauch mit den Siegern macht. Mit der „Pest“ist dabei eine Epidemie dessen gemeint,was der Erzähler, der mit dem Autor Nameund einige biographische Details teilt, alsPanorama der moralischen Verkommenheitentfaltet. Er ist ein italienischer Verbindungsoffizierzu den alliierten Streitkräften,der sich etwas abseits vom Geschehenpositioniert und seinen Gefühlen oft durchsarkastische Bemerkungen Ausdruck verleiht.Diese werden häufig in Suadalängeausgebreitet und sollen seine amerikanischenFreunde darauf hinweisen, dass dasKaputtDie Zerstörungendes Zweiten WeltkriegserlebteMalaparte alsKriegsberichterstatteranmehreren europäischenSchauplätzen.Ab 1945fungierte er alsVerbindungsoffizierzur US-Armee.Wie stehen Befreier und Befreite zueinander? Um dieseFrage kreist Curzio Malapartes einst heftig diskutierterRoman „Die Haut“. Jetzt liegt das Werk neu übersetzt undkommentiert vor.Don’t worry,that’s war!von ihnen verachtete Verhalten der Besiegtenauch wesentlich von ihnen, den Siegern,mitverursacht worden ist. Die Neapolitanerwerden durch die wirtschaftliche Potenzder Befreier geradezu angestiftet, selbsterniedrigendeDinge (etwa blonde Schamhaarperücken,das Zurschaustellen des intaktenJungfernhäutchens einer jungenFrau gegen eine von ihrem Vater eingesammelteGebühr oder Prostituierung von Kindern)und allerhand Gaunereien (so wirdetwa ein ganzes amerikanisches Schiff gestohlen)zu betreiben.Es ist üblich, Malaparte als zynischenErzähler zu charakterisieren. Zynisch istaber nicht er, sondern die Realität, die er –„ Manchmal führt der ErzählerSarkasmus, skurrilen Humor und Pathoseng zusammen, zum Beispiel, wenn erdie Neapolitaner mit Christus gleichsetzt(‚Christus war Neapolitaner‘). “mit welchen künstlerischen Freiheitenauch immer ins Surreale erweiternd – beschreibt.Eine der skurrilen Episoden etwazeigt das Schockiertsein einer alliiertenTischgesellschaft angesichts des Kredenzenseiner Platte mit einem an ein Mädchenerinnernden Fisch („Sirene“ genannt).Dieser, der letzte aus dem berühmten neapolitanischenAquarium, das, weil manim Golf von Neapel wegen Minen geradenicht fischen kann, vom Stab der alliiertenStreitkräfte leergegessen wird, wird dann„unversehrt“ „begraben“, während ringsumNeapolitaner hungern, Bewohner einerStadt, deren Gründung auf die Verehrungder Sirene Parthenope zurückgehen soll.Während die Italiener sich angesichts derMachtasymmetrie als „Italian bastards“beschimpfen lassen müssen, beschreibtder Erzähler, geprägt von der Kultur der europäischenModerne, die Amerikaner alskulturell wenig beschlagen und auch sonstkindlich naiv, obwohl sein bester amerikanischerFreund, der Stabsoberst Jack, einhoch gebildeter Altphilologe ist. Als derFoto: Getty Images / Hulton Archive / FPGamerikanische General Cork in Rom dasKolosseum sieht, sagt er entschuldigend:„Don’t worry, Malaparte: that’s war!“Manchmal führt der Erzähler Sarkasmus,skurrilen Humor und Pathos eng zusammen,zum Beispiel, wenn er die Neapolitanermit Christus gleichsetzt („Christuswar Neapolitaner“): Ihre Erniedrigungnähmen sie gewissermaßen für die Rettungdes Rests der Welt auf sich.Der Roman wirft allerdings die Frageauf, wozu die christliche Zivilisation fähigist. Als die Narration sich von Neapel entferntund in die besetzte Ukraine zurückschaut,entstehen Bilder, die aus Dantes Infernokommen könnten: Der Erzähler ist inder ukrainischen Provinz unterwegs undhört plötzlich Bäume sprechen, die sichals gekreuzigte Juden offenbaren. „Ich binein Mensch, ich bin ein Christ“, sagt er undmöchte den Gekreuzigten helfen, stößt aberauf Hohn: „Die uns gekreuzigt haben, sinddas etwa keine Christen wie du? Haben unsvielleicht Hunde, Pferde oder Ratten an dieseBäume genagelt? Ha! Ha! Ha! Ein Christ!“Der Gekreuzigte fordert den Erzähler auf,ihn aus Mitleid zu erschießen, doch alsder Italiener wirklich zur Pistole greift, beschimpftund verhöhnt der Gekreuzigte ihn.So wie in dieser Szene schafft Malaparte esimmer wieder, von realistischer Schilderungin unwirklich Anmutendes überzugleiten;die Grenzen sind bei ihm so fließend,dass man sich fragt, was surreal im eigentlichenSinne ist und was einfach getreue Darstellungdes absurden Grauens des Krieges.Gesellschaft im ZwiespaltDas Panorama des vom Krieg gezeichnetenEuropa, auch die sich darin zeigendeZwiespältigkeit des Befreit-worden-Seins,bleibt für die jüngere (europäische wieaußereuropäische) Geschichte leider relevant.„Die Haut“ ist an vielen Stellen eineMahnung, was der Krieg bedeutet und waser mit Menschen macht.Trotz der zurecht allenthalben gepriesenenQualität der alten Übersetzung vonHellmut Ludwig war es Zeit für eine neue:Im Gegensatz zu großen Originalen veraltengroße Übersetzungen (meistens), undso merkt man auch der alten Übersetzungihre Patina durchaus an. Gut, dass FrankHeibert die Übersetzung dieses einzigartigenWerkes auf sich genommen hat, undebenso, dass er mit seinem Nachwort einenwichtigen Beitrag zu aktuellen Diskussionenliefert.Die HautRomanvon Curzio MalaparteAus dem Italienischenvon Frank HeibertRowohlt 2024528 S., geb., € 35,–GANZ DICHTVON SEMIER INSAYIFPoetische Vielfalt & Realität und MythosSTUNDEN“, der neue Gedichtbandvon Simon Konttas, versammelt 57 Gedichte,die sowohl in ihrer poetisch-ästhe-„STILLEtischen Ausrichtung als auch in ihrer quantitativenAusdehnung unterschiedlich konzipiert erscheinen.Manche von ihnen sind präzise, realistischanmutende Beobachtungen von Ereignissen, Szenerienoder Figuren, die in freien Versen notiert,narrativ ausgerichtet sind. Dann wieder wird dieAufmerksamkeit auf besondere und unerklärlicheMomente gerichtet, denen poetisch die Kraft der Erkenntniszugeschrieben wird. „Das Wissen ereignetesich in der Nacht, / am Bahnsteig, er weiß nicht,wie. / Erlöst von sich selber, / ging er nach Mitternachtzu Bett. // Am Morgen danach hörte er zumersten Mal / in seinem Leben die Vögel zwitschern.“Es gibt aber auch Gedichte, die mit Alliterationen,Reimen und alten lyrischen Formen wie etwa demSonett arbeiten. Zu finden sind sowohl zurückhaltendeals auch hymnische oder auch psychotischekstatischeTonlagen mit transzendent existenziellenFärbungen. Motive aus Musik und Dichtungkomplettieren diese Vielfalt von Gedichten, die sichim Gestus von analytisch, gesellschaftskritischbis spirituell appellativ zeigen. Im letzten Gedichtheißt es: „Was bleibt, ist das Licht.“Kholoud Charafs Gedichte und kurze Prosastückeaus dem Buch „Mit all meinen Gesichtern“sind voll mythischer Anspielungen und Gedankenüber Identität, Leben und Tod. Es verbindensich reale schmerzvolle Erfahrungen und Überlegungenmit dem resistenten Vertrauen in das Lebenund in die Poesie. Diese Gleichzeitigkeit vonTrauer und beinahe euphorischem Glauben an dasSchöne lässt eine hohe Intensität und ein existenziellesVibrieren entstehen. Heißt es doch an einerStelle im Gedicht mit dem Titel „Rätsel“ einerseits:„Flucht / die Welt geht verloren / Nur ein Sternendeuterkann sie wiederfinden / denn keiner versteht/ die Absicht des Todes / und seine Rätsel“und andererseits ist im selben Gedicht etwas späterzu lesen: „Noch immer blüht der Himmel / undnoch immer trägt das Leben die Dichter / auf einemÖlzweig“, um noch weiter unten zu der Verszeilezu gelangen: „Die Gedichte ernähren uns“.Eine reiche Bildhaftigkeit, Symbolkraft und Musikalitätwohnt den Gedichten inne, die in freienVersen notiert sind, häufig die Personifikation vonPhänomenen und Dingen als poetisches Mittel einsetzenund von Kerstin Wilsch aus dem Arabischenins Deutsche übersetzt wurden. Flucht, Verzweiflung,Suche, Liebe und Begegnung sind Themen,selbst mit der Stadt Wien wird ein Dialog geführt.„Ich suche nach mir selbst / Andere haben mich immerwieder gefunden / während ich umherirre /Ich suchte nach mir in vielen Sprachen / und erfuhrjedes Mal mehr über meine Unwissenheit“.„ganz dicht“ stellt jeweils vor einem Dicht-Fest in derAlten Schmiede (nächstes: 12.6.2025) Lyrik vor.STILLESTUNDENGedichtevon SimonKonttasSisyphus 2024116 S., kart.,€ 12,–Mit all meinenGesichternLyrik und Prosa vonKholoud CharafAus demArabischen vonKerstin WilschKlever 2024170 S., kart., € 22,–
DIE FURCHE · 235. Juni 2025Literatur19Vor 100 Jahren, am 10. Juni 1925, wurde in New Jersey der Erzähler James Salter geboren. Virtuos spürt er in seinen Werken der Schönheit,aber auch der Hinfälligkeit des Daseins nach und begleitet seine Protagonisten durch die vielfältigen Herausforderungen ihrer Zeit.Lichtjahre amerikanischen LebensVon Oliver vom HoveUnter den amerikanischenSchriftstellern seiner Generationwar James Saltergewiss der europäischste.Geschult an der großen Traditiondes Bildungsromans, lässt er in seinenBüchern regelmäßig die Sehnsuchtnach Europa wiederkehren, wird die europäischeKultur geschätzt, klassischeMusik gehört und vorzugsweise die Literaturdes fernen Kontinents gelesen.In seinem vor 50 Jahren erstmals erschienenenHauptwerk „Lichtjahre“ lässtsich ein Amerika wiederfinden, wie essich einst voll Stolz zeigen konnte: alsein Land, in dem zuweilen beinahe Milchund Honig fließen mochten – jedenfallsfür die weiße Oberschicht, die „Wasps“an der Ostküste, zu denen im Roman derArchitekt Viri Berland und seine Familiezählen. Zu ihrem Besitz gehören einBüro mit zahlreichen Angestellten inNew York, in dem sich der Chef währendder Woche der Arbeit widmet, und einprachtvolles altes Haus in einem weitläufigenGarten auf Long Island, wo dieFamilie inmitten der Natur lebt und derVater zweier Töchter jeweils zu ausgedehntenWochenenden heimkehrt.Vertrauen in fortschrittliche ZukunftDer vor hundert Jahren, am 10. Juni1925, in New Jersey geborene und 2015gestorbene Autor hat sich nicht gescheut,in seiner ganz dem Leben zugewandtenLiteratur die Schönheit, aber auch dieHinfälligkeit des Daseins zu feiern. DerRoman entführt in ein Lebensgefühl,das noch uneingeschränkt von Zuversichtund Vertrauen in eine fortschrittlicheZukunft geprägt war. Allgemeinherrscht Gelassenheit vor: Es ist die Zeit,da man noch zuhause auf Telefonanrufewartet, passioniert in Illustrierten blättertund sich zu Weihnachten Polaroidkamerasschenkt. Da man zuweilen großeEmpfänge gibt und zu Ostern die Suchenach Eiern im Gras als Champagnerpartymit Moët & Chandon inszeniert. „Sie warenvereint, sie alle, in dem weiten blauenAbend, der sich über den Fluss und dieHügel ausbreitete. Sie redeten und redeten.“Und, vor allem: „Die Wohnung warvoller Bücher.“ Eine geruhsame Zeit.Salters Stil ist ein feinmaschiger, etwaselegischer Impressionismus, der sich derFoto: Getty Images / Ulf AndersenSchönheit der Dinge annimmt und demnaturhaften Vergehen der Zeit nachspürt.Denn dies ist sein großes Romanthema:Wie die Menschen unmerklich vom Ablaufihrer Lebenszeit eingeholt und nach derMitte des Lebens darob in Panik geratenSehnsuchtnach EuropaDie Welt jenseitsdes Atlantiks warfür den ehemaligenKampfpiloten Salter(1925–2015) nichtnur Einsatzort, sondernauch Quelleder Inspiration.„ Der Rückblick zeigt: Im Werk Saltersist ein Amerika bewahrt, das es nichtmehr gibt, gemäß der Einsicht des Autors:‚Alles, was nicht aufgeschrieben ist,verschwindet.‘“ “können. So ergeht es dem Ehepaar Viriund Nedra Berland, die durch eine Liebesbeziehungzueinander finden, welchenachher zur Vernunftehe wird – undsehr spät ihre Bewährungsprobe nicht bestehensoll. „Das einzige, wovor ich Angsthabe, sind die Worte ‚ein ganz normalesLeben‘“, sagt Nedra ahnungslos, ehe siegenau das alles verliert und allein bleibt.„Es gibt kein vollkommenes Leben“,heißt es im Roman. „Es gibt nur Fragmente.Wir kommen auf die Welt, umnichts zu besitzen, um alles durch unsereHände rinnen zu sehen. Und doch, diesesRinnen, diese Flut von Begegnungen,Kämpfen, Träumen […] Man musste entschlossensein, blind. Denn was wir auchtun, selbst das, was wir nicht tun, hindertuns daran, das Gegenteil zu tun. Tatenzerstören ihre Alternativen, das ist dasParadox.“Die eigene Biografie als FundgrubeWas zählt, ist die Entscheidung. Hierzeigt sich das Vorleben des Autors: Salterwar Kampfflieger gewesen. Er hatte,ehe er sich ganz dem Schreiben widmete,bereits eine zwölf Jahre lange Laufbahnals Offizier der US-Luftwaffe hintersich und darüber in seinem Debütbuch„Jäger“ („The Hunters“) berichtet. In seinemletzten Roman „Alles, was ist“ („AllThat Is“) kehrte er anfangs in jene feindlichenGewässer des Pazifikraums zurück,die er als Kampfpilot der U.S. Air Force,auch im Koreakrieg, kennengelernt hatte.Später indes widmet sich sein autobiographischgefärbter Protagonist PhilipBowman, ein Lektor, ganz einem Lebenmit Büchern und Frauen. Wieder werdenmit hochfliegenden Gefühlen Ehen angebahnt,die scheitern. Und wieder erscheintein Dasein in und um New York über Jahrzehntenach dem Krieg hinweg bei allenIrrtümern und Umstürzen als Feier der Intensitätdes Lebens. Eines Lebens weitgehendohne Reue und Selbstmitleid.„Er hatte Glück gehabt“, wird einmalüber den „Lichtjahre“-Helden Viri Berlandgesagt. „Er hatte immer in behüteten Zeitengelebt, die Jahre waren ruhig gewesen.“Der Rückblick zeigt: Im Werk Salters istein Amerika bewahrt, das es nicht mehrgibt, gemäß der Einsicht des Autors: „Alles,was nicht aufgeschrieben ist, verschwindet.“So ist man dankbar für ein Werk, dasfesthält, wie es einmal war: das noch nichtverwüstete amerikanische Leben.Theo, Tim,Kurkumaund ichVon MargaritaKinstnerMit Illustrationenvon MichaelaWeissTyrolia 2025240 S., geb.,€ 19,–LEKTORIXDES MONATSDurch die Linse trauernVon Alexandra HoferJahr gab es in Deutschland2830 Verkehrsunfälle mit Todesfolge.220 davon starben im „VorherigesApril. Einer davon warst du.“ Direkt und unverblümtsetzt das Jugendbuchdebüt vonMargarita Kinstner ein und wählt dafüreine spannende Perspektivierung: Ein Ichschreibt einem Du. Das Ich ist die 15-jährigeAmelie, die knapp 15 Monate nach demTod ihres Stiefvaters immer noch in derTrauer gefangen ist. Das Du ist Stefan, derStiefvater – Krimiautor, die große Liebe ihrerMutter und wichtige Bezugsperson fürAmelie. Er hatte, auf einer Lesereise unterwegs,einen tödlichen Unfall.Die Ich-Erzählerin Amelie, „eine Streberinin einer Streberklasse“, hat mit Stefanund ihrer besten Freundin leidenschaftlichgerne gekocht, sitzt jetzt aber in einemmetaphorischen dunklen Loch fest, ausdem sie sich nur mit ihrer Kamera herausknipsenkann. Sie unternimmt fotografischeStreifzüge durch die Stadt, erkundet„Lost Places“, bis sie bei einem Haus landet,das gar nicht so lost ist.Vielmehr wohnt dort der ErwachseneTheo, der Menschen meidet, dafür dieKunst liebt, kaum Fragen stellt und fürAmelie ein Rückzugsort wird. Entlang dieserbesonderen, etwas unkonventionellenFreundschaft, die sich im Lauf des Textesintensiviert, entfaltet sich Amelies Trauerprozess,der mit jenem der Mutter in Beziehunggesetzt wird. Amelies Fotografiereneinerseits und Theos Malerei andererseits,die sich an Vincent Van Gogh abarbeitet,schaffen eine Gesprächsbasis für die beiden,anhand derer die zwischenmenschlicheund gesellschaftliche Dimension aufgedröseltund Fragen nach individuellerTrauer, gesellschaftlichem Wandel undBeziehung nachgespürt werden.Auch wenn Theos Haus der Ankerplatzist, erzählt Kinstner von Beziehungen außerhalbdieses Schutzraumes: Da ist Chris,der vielleicht in Amelie verliebt ist, dieIllustration Michaela Weiss aus: Theo, Tim, Kurkuma und ich (Tyrolia)Buchpreis von FURCHE,Stube und Institut für JugendliteraturTrauerbegleiterin Charlie, die beste FreundinSelina und natürlich die Mutter, die gefangenin der eigenen Trauer kaum Kapazitätenfür die jugendliche Tochter hat. Undda sind der titelgebende Tim, Neffe vonTheo, mit dem sich eine Liebesbeziehungentwickelt, und Kurkuma, jenes zugelaufeneKätzchen, das fortan bei Theo wohnt.Inmitten von Staffeleien, Brennweiten, Objektiven,intermedialen Verweisen wie denRed Hot Chili Peppers oder Kinofilmen undjugendlichen Selbstfindungsprozessen gewährtdie Autorin der Trauer in all den FacettenRaum; findet für das Nebeneinandervon Vergangenheit und Gegenwart einenfeinen Ton, der sich in den Illustrationenvon Michaela Weiss widerspiegelt und zugleichdarauf verweist, dass das Du, wennauch nicht mehr anwesend, ein Gegenübersein und bleiben kann.
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