DIE FURCHE · 2314 Diskurs5. Juni 2025KOMMENTAREin Sieg mit AnsageDie Wahl des 42-jährigen Karol Nawrocki zum StaatsoberhauptPolens wird in den kommenden zweieinhalb Jahrenbis zur nächsten Parlamentswahl die Grundfeste derpolnischen Politik erschüttern. Dabei spiegelt das Votum für denformell unabhängigen No-Name-Kandidaten Nawrocki, bei einerhohen Wahlbeteiligung von fast 72 Prozent, nur zum Teil Verdienstoder Scheitern der beiden Kandidaten und ihrer Attributewider. Während der von der oppositionellen „Recht und Gerechtigkeit“(PiS) unterstützte Nawrocki trockenen Fußes durch etlicheAffären kam, konnte der 53-jährige, liberale Rafał Trzaskowskisein Profil und seine Inhalte nicht gut genug ins „rechte Licht“rücken. Denn der Kandidat der Regierungspartei Bürgerkoalition(PO) von Premierminister Donald Tusk warb zwar auch umdie letztlich entscheidenden Stimmen von Sławomir Mentzen vonder nationalistisch-libertären Konfederacja. Mentzen war im erstenWahlgang mit fast 15 Prozent Dritter, und beinahe 90 Prozentseiner rund drei Millionen Wähler stimmten für den PiS-Mann.Letztlich aber ist der Sieg Nawrockis – vor seiner Nominierungkein Politiker, sondern Chef des Instituts für Nationales Gedenken(IPN) – vor allem ein Votum gegen die seit Ende 2023 amtierendeDreier-Koalition von Premierminister Donald Tusk.Viele Stimmen für das nationalistische Original: NawrockiWährend der letzten anderthalb Jahre ist die Regierung beigroßen Fragen der Ökonomie sowie der impulsgebenden Rolledes Staates – dem Gesundheitswesen und staatlichen Investitionenetwa – eher als Bremserin aufgetreten. Zugleich regiertTusk in außen-, verteidigungs- und migrationspolitischen Fragenähnlich hart wie seinerzeit die PiS. Weil er aber zugleich zuwenige progressive Impulse setzt, um Menschen zu gewinnen,die die PiS und Nawrocki wegen ihrer sozioökonomischen Politikund Ansichten wählen – nicht wegen des in der Gruppierungauch wuchernden Nationalismus –, votierten viele für das nationalistischeOriginal: den PiS-Kandidaten.Es ist eine nicht mehr ganz neue Erkenntnis: Das bloße Kopierennationalistischer Inhalte durch die Parteien der „Mitte“ stärktletztlich nur die Urheber der Radikalität – siehe AfD in Deutschland–, wenn diese Politik zu wenig gegen die wachsende Ungleichheittut, wie in Polen keine adäquate Wohnungsbaupolitik betreibt,Foto: APA / AFP / Wojtek Radwanskidie Unternehmer hofiert und nicht die breiten Massen der Arbeitnehmer.Folgerichtig wählten Menschen mit geringerem Bildungsstatus,niedrigem Einkommen und schlechter sozialer Lage deutlichüberproportional Nawrocki.Nun wird dieser nach seiner Vereidigung Anfang August –mit dem präsidialen Veto-Hebel bei Gesetzen und seinen Befugnissenbei Armee und der Außenpolitik – der Regierung Tuskdas Leben viel schwerer machen, als es Duda tat. Der passionierteBoxer dürfte auf Weisung des PiS-Chefs, Jarosław Kaczyński,alles daran setzen, um die Regierung zu destabilisieren undvorgezogene Neuwahlen herbeizuführen. Tusk indes hat amTag nach der Wahlniederlage angekündigt, im Parlament am 11.Juni die Vertrauensfrage zu stellen. Er dürfte die Reihen vorerstschließen können, denn seine kleinen Partner, der liberalkonservativeDritte Weg und die Neue Linke, laufen in Umfragenunter ferner liefen. Der Premierminister hat zudem bereitsam Montag angekündigt, die Exekutive gegenüber dem Parlamentzu stärken. Das bedeutet: Verordnungen statt Gesetze. DieVon Jan OpielkaJustizreformen werden stocken, die weitere Degradierung desRechtswesens wird die Folge sein.Nicht zuletzt wird das sonntägliche Votum auf die Außenpolitikdurchschlagen. Nawrocki, der von US-Präsident DonaldTrump im Wahlkampf unterstützt wurde, wird die von Tuskeingeleitete, dezente Distanzierung von den USA und die Annäherungan Paris, Berlin und Brüssel konterkarieren. Der US-Präsident schrieb am Montag auf seinem Socialmedia-KanalTruth Social: „Trump-Verbündeter gewinnt in Polen, und schockiertEuropa.“ Der Pro-Amerikanismus und Pro-Trumpismusder PiS dürfte nun noch stärker durchschlagen, mit auch innenpolitischzersetzender Wirkung – und einem Überbietungswettbewerbin Sachen Nationalismus. Denn parallel dazu wirdes auf der Rechten zwischen der PiS und der Konfederacja, dererstarkten, nationalistisch-libertären Kraft, zum Machtkampfkommen. Polen stehen also unruhige Zeiten bevor.Der Autor ist freier Journalist und Polen-Korrespondent.KnappesVotumDer rechtskonservativeKarol Nawrocki(Bild) hat in der Stichwahlder polnischenPräsidentenwahlknapp 51 Prozent derStimmen erhalten.Von Tobias Müller6. Dezember 2023Mit 23,6 Prozent war die Partei für die Freiheit(PVV) des islamfeindlichen RechtspopulistenGeert Wilders am 22. November 2023 beiden niederländischen Parlamentswahlenüberraschend stärkste Kraft geworden. Nachsechsmonatigen Verhandlungen konnteeine Regierung unter Ministerpräsident DickSchoof gebildet werden – ohne Wilders, derauf ein Regierungsamt verzichten musste,damit die Koalition überhaupt zustande kam.Nun hat Wilders den Rückzug seiner Parteifür die Freiheit (PVV) – in der er das einzigeMitglied ist – angekündigt und Neuwahlenerzwungen. Wofür stand und steht die PVV?Wegen eines Streits über die Asylpolitik hat der niederländischeRechtspopulist Geert Wilders die Regierunggesprengt. Instabil war sie von Anfang an. Ein Rückblick.Der Triumph desEnfant terribleFoto: APA / AFP/ANP / Koen van WeelDie Geschehnisse in Den Haag beflügelnüberall Parteien, die mitder PVV verbündet sind oder inhaltlichin wesentlichen Punkten auf einerWellenlänge liegen: FPÖ, AfD, Fidesz,Vlaams Belang [...]. Für diese Signalwirkungist es nicht notwendig, dass die besagtenParteien inhaltlich deckungsgleichsind. So haben FPÖ, Vlaams Belangund AfD historisch oder geografisch einegrößere Nähe zu deutschnationalen,(neo)nazistischen Strömungen, der RassemblementNational hat inzwischen Abstandgenommen vom EU-Austritt. [...]Ebenso unerheblich ist, dass sich diePVV, die sich bei den Parlamentswahlenvon 2006 unter mehreren neuen Rechtsparteienzur Nachfolgerin der Lijst PimFortuyn (LPF) aufschwang, vornehmlichauf ihr Kerngeschäft konzentriert. Dasbedeutet seit jeher, dass der Fokus auf Zuwanderungsbegrenzung,Sozialem undSicherheit liegt. [...] Wenn sich die Parteialso, wie das häufig geschieht, auf die „jüdisch-christlichenWurzeln“ beruft, hatdas eher kulturellen Charakter und dientin diesem Kontext der Abgrenzung gegenüberdem Islam. Diesen sieht Wilders,der wegen Todesdrohungen seitens radikalerMuslime seit Jahren unter beständigemPersonenschutz lebt, im Übrigennicht als Religion, sondern als politischeIdeologie. Um diese zu bekämpfen, gedenktdie PVV zumindest laut Wahlprogramm,weit in die grundgesetzlichenFreiheiten einzugreifen, und will in denNiederlanden „keine muslimischen Schulen,Korane und Moscheen“. Genau wegendieser Punkte hat in den aktuellen Vorgesprächenüber etwaige Koalitionen PieterOmtzigt ein enormes Problem mit derPVV. Der christdemokratische Dissidentund Vormann der sozialkonservativenSenkrechtstarter Nieuw Sociaal Contractsieht solche Vorstöße als unüberwindbareHindernisse, sowohl als Katholik alsauch als Abgeordneter, der einen Eid aufdie Verfassung geleistet hat. Dass Wilderssich dazu bekennt, diese zu respektieren,hält Omtzigt und seine Partei zwar imRennen. Unabhängig davon steht sein Dilemmastellvertretend für die ethischenBedenken in großen Teilen der niederländischenPolitik. Die Signalwirkung derEntwicklungen in Den Haag [...] erklärtsich vor allem aus einer Reihe gemeinsamerGrundkoordinaten in Politik und Gesellschaft:linke oder Zentrumsparteien,die den jahrzehntelangen neoliberalenUmbau nicht aufhalten konnten [...] unddadurch ihre Glaubwürdigkeit verloren,die zunehmenden sozialen Verwerfungendieser Abbruchspolitik, die bis in dieMittelschicht schmerzhaft spürbar sindund umso mehr ein Einfallstor für jenesind, die diese Zustände mit einem identitärenNationalismus aufladen.ÜBER175.000ARTIKELSEMANTISCHVERLINKTVON 1945BIS HEUTEDEN VOLLSTÄNDIGENTEXT LESEN SIE AUFfurche.atMedieninhaber, Herausgeberund Verlag:Die Furche – Zeitschriften-Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KGHainburger Straße 33, 1030 Wienwww.furche.atGeschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner,Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-FlecklChefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-FlecklHead of Digital: Mag. Johannes MantlRedaktion: Philipp Axmann BA, MMaga. AstridGöttche, Viktoria Kapp BA, Dipl.-Soz. 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DIE FURCHE · 235. Juni 2025Diskurs15Seit mehr als drei Jahren werden durch den russischen Angriff auf die Ukraine die fundamentalstenBedürfnisse junger Menschen verletzt. Ein Gastkommentar zum Internationalen Kindertag.Die geraubten Rechteder Kinder im Kriegdes Krieges“ – diesenStatus hatten vor dem 24. Februar2022 in der Ukraine jenePersonen, die bei der Beendigungdes Zweiten Weltkrie-„Kinderges jünger als 18 waren. Sieben Jahrzehntespäter, nach dem breitangelegten russischenAngriff, erlangen ihre Enkel- und Urenkelkinderdiesen Status wieder. Dazwischen liegt dieElterngeneration, die zum Teil in der Zeit des„Eisernen Vorhangs“ mit der Kriegsangst, dievon der sowjetischen Propaganda geschürtwurde, aufgewachsen ist.Der Internationale Kindertag am 1. Junimachte auf die Rechte der Kinder aufmerksam.Der Krieg gefährdet sämtliche dieser Kinderrechte– allem voran das fundamentale Menschenrecht,das Recht auf Leben und körperlicheUnversehrtheit. Laut der ukrainischenPlattform „Children of War“ hat der russischeAngriffskrieg bislang 631 Kinder getötet und1971 Kindern Verletzungen verschiedenerSchweregrade zugefügt. Und täglich werden esmehr. Die letzten Todesopfer sind Geschwisteraus der Region Schytomyr, deren Leben von einerrussischen Rakete am 25. Mai ausgelöschtwurden: Der 17-jährige Roman freute sich aufseinen Maturaball, Tamara (12) und Stanislaw(8) auf ihre Sommerferien…Deportiert und „umerzogen“Das Recht auf Leben ist mit dem Recht auf eigeneIdentität verbunden. Seit dem Beginn desbreitangelegten Angriffs wurden laut „Childrenof War“ mindestens 19.546 Kinder nach Russlandentführt. Diese Entführungen erfolgten einerseits,nachdem die Eltern vom Okkupationsregimeverhaftet oder getötet bzw. die Kinder vonden Eltern in den Kampfgebieten getrennt wordenwaren. In den anderen Fällen sind es Kinderaus den Kinder- und Waisenhäusern auf besetztenTerritorien, die nach Russland zwangsdeportiertwurden. Und dann gibt es „Feriencamps“,die exzessiv beworben wurden und von denendie Kinder nicht zurückkehrten. Ältere entführteKinder und Jugendliche werden in die militarisierten„Umerziehungslager“ geschickt, kleineKinder in Familien, wo sie, so die Kremlpropaganda,zu „echten russischen Patrioten“ umerzogenwerden. Diese Strategie Russlands, dieFoto: Mario Langauch durch Weißrussland unterstützt wird, wurdevom Europäischen Parlament in einer Resolutionvom 8. Mai 2025 als „genozidal“ bezeichnet,da sie auf das Auslöschen nationaler Identitätausgerichtet ist. Die Initiative des Europaparlaments#BringKidsBack wird von Österreichs AußenministerinBeate Meinl-Reisinger (Neos) unterstützt,die zuletzt auch betonte, dass es ohnedie Rückkehr aller nach Russland entführtenukrainischen Kinder keinen gerechten, dauerhaftenFrieden geben kann. Auch der neue Papst,Leo XIV., hat die Notwendigkeit einer Rückführungdieser Kinder in seiner ersten Sonntagspredigtam 11. Mai hervorgehoben.DIESSEITSVON GUTUND BÖSEVon OksanaHavryliv„ Rund 20.000 Kinderwurden bislang nachRussland entführt. Auchder neue Papst fordertihre Rückführung.“Weitere Rechte, deren Kinder durch den russischenAngriffskrieg beraubt werden, sinddas Recht auf Schutz vor Gewalt und das Rechtauf eine Familie sowie ein sicheres Zuhause. Nebenphysischer Gewalt sind Kinder massiverpsychischer Gewalt ausgesetzt: Sie wachsenauf mit Sirenengeheul und der Angst vor Angriffensowie der Angst um Väter, Mütter undandere Verwandte, die das Land an der Frontverteidigen. Viele erleben dramatische Situationenwie diejenigen Teenager, die den ganzenTag vor den Trümmern eines Hauses warteten –in der Hoffnung, dass ihr verschütteter Freundgerettet wird. Aber es ist kein Wunder gesche-hen: Der 17-jährige Danylo wurde zum zehntenTodesopfer des verheerenden russischen Raketen-und Drohnenangriffs auf Kyjiw in derNacht auf den 24. April 2025.Auch Kinder, die ihr Heimatland verlassenmussten, leiden unter Trennung von ihren Vätern,Verwandten, Freundinnen und Freunden.Sie sind von Russland um wertvolle Zeit mit ihnennahen Menschen gebracht worden, wasauch für kindliche Entfaltung von Bedeutungund ebenfalls eines ihrer Grundrechte ist.Operieren im HalbdunkelAuch noch weitere Kinderrechte werden imKriegsalltag verletzt, etwa das Recht auf Bildung:Wenn Schülerinnen und Schüler in kaltenund feuchten Luftschutzkellern unterrichtetwerden müssen oder bei Blackouts infolgevon zielgerichteten Bombardierungen zivilerEnergieinfrastruktur ihre Hausübungen inMänteln und mit einer Stirnlampe erledigenmüssen. Oder das Recht auf Gesundheit: Wennkleine Dialyse-Patienten mit Infusionsbeutelnvor den Trümmern des Kinderkrankenhausesin Kyjiw warten müssen, das am 8. Juli 2024zum zivilen Ziel russischer Raketenangriffewurde. Oder wenn im Blackout ein kleinesMädchen bei einer Krisenstelle ihr Atemgerätauflädt und Chirurgen einer Kinderklinik imHalbdunkel operieren.Doch die Kinder kämpfen für ihre Rechteund ihre Träume. Vor einem Jahr habe ich einenBeitrag in der FURCHE mit der Geschichteder kleinen Gymnastin Oleksandra Paskalbeendet, die infolge des russischen Raketenangriffs2022 ihr Bein verloren und mit einerBeinprothese ihr Training wiederaufgenommenhat. Diese Geschichte möchte ich nunvervollständigen, denn die mittlerweile achtjährigeOleksandra hat bereits ihre ersten beeindruckendenAuftritte absolviert und kommtihrem Traum eines Olympiasieges immer näher.Sie ist ein inspirierendes Beispiel desWiderstandes – für Kinder wie für Erwachsene.Die Autorin ist Sprachwissenschafterin undGermanistin und erforscht verbale Aggression.Ihre Forschungsergebnisse präsentiert sieim populärwissenschaftlichen Buch „Nur einDepp würde dieses Buch nicht kaufen“ (2023).ZUGESPITZTWaldheim &Walzer im AllWalzer“ heißt es auchim Weltraum. Am Samstagschickte eine Anten-„Allesne der Europäischen WeltraumorganisationESA den „Donauwalzer“ alselektromagnetische Welle ins All.Seither dringt „Mission Waltz“ mitLichtgeschwindigkeit in Galaxienvor, „die nie ein Mensch zuvor gesehenhat“. Anlass für die Neujahrsbeschallungdes interstellarenRaums sind der 200. Geburtstagvon Johann Strauss und ein Fauxpas1977. Damals starteten dieNASA-Raumsonden Voyager 1 und2. Als Kulturbotschafter an Bordsind die „Golden Records“ mit 27Musikstücken, die außerirdischenLebensformen das Beste der irdischenLebensform vermitteln sollen.Die beiden Quasi-ÖsterreicherMozart und Beethoven sind dabei,aber „An der schönen blauen Donau“vom echten Wiener Strauss hat mandoch tatsächlich vergessen. Gut, derFehler ist jetzt korrigiert. Sonntagnachmittagüberholte die um Lichtjahreschnellere „Mission Waltz“den Voyager-Wurlitzer. Damit istder Erstkontakt mit Außerirdischenim Dreivierteltakt gesichert.Und landet irgendwann auch nochVoyager, machen die auf der Bestof Mensch-Platte eingesprochenenFriedensgrüße vom damaligen UN-Generalsekretär Kurt Waldheimden Austroidenschwarm perfekt.Wolfgang MachreichPORTRÄTIERTDie soziale MurbrückeStädte wie Graz, die in der Mitte durch einen Flussgeteilt sind, brauchen einige Brücken. Und Städtewie Graz, das auf der einen Seite avantgardistischerKulturort ist (das Festival Steirischer Herbst, abden 60ern das Forum Stadtpark mit Literaten wie BarbaraFrischmuth und Peter Handke, das Jahr als KulturhauptstadtEuropas 2003) und auf der anderen Seite Heimatvon Arbeiterinnen und Arbeitern der umliegendenAutoindustrie; Ort vieler Religionen, wachsender undschrumpfender – solche Städte brauchen auch sozialeBrücken. Eine davon war der langjährige BürgermeisterAlfred Stingl, der am 29. Mai, einen Tag nach seinem 86.Geburtstag, verstorben ist.Stingl war gelernter Schriftsetzer, mit 29 zog er fürdie SPÖ in den Grazer Gemeinderat ein, fünf Jahre späterwurde er Jugendstadtrat. Nach einer Halbzeit-Lösungmit Franz Hasiba von der ÖVP übernahm Stingl 1985das Bürgermeisteramt. In diesem angekommen, setzteer sich für soziale, kulturelle und religiöse Themen ein:2001 wurde Graz die erste „Menschenrechtsstadt“ Europas,2002 fand in der Stadt das Weltbuddhistentreffen„Kalachakra“ statt, für das auch der Dalai Lama anreiste.Außerdem unterstützte er den Wiederaufbau der GrazerSynagoge, die am 9. November 2000 eröffnet wurde.Stingl betonte 2023, „es war wichtig, die Schande vonGraz wegzuräumen“, bevor man mit dem Kulturhauptstadt-Jahr2003 nach neuen, riesigen Projekten griff.Als Bürgermeister führte er die Stadt bis zum Auftaktdes Kulturhauptstadt-Jahres, im März 2003 übergabStingl sein Amt an Siegfried Nagl von der ÖVP, derdie Gemeinderatswahl gewonnen hatte. Anzunehmen,dass das mit bösem Blut geschah, würde bei Stingl fehlgehen.Schon in seiner Zeit als Bürgermeister arbeiteteer über Parteigrenzen hinweg, insbesondere mit derÖVP. Das Kulturhauptstadt-Jahr organisierte er im Tandemmit ÖVP-Kulturstadtrat Helmut Strobl. Gemeinsammit ÖVP-Verkehrsstadtrat Erich Edegger förderte er denRadwege-Ausbau. Immer wieder musste er sich Kritikgefallen lassen, zu wenig der eigenen Partei zu dienen –immerhin sanken die SPÖ-Wahlergebnisse von 1983 bis2003 von 42 auf 26 Prozent.Der soziale Brückenbauer Stingl baute übrigens auchphysische Brücken: Zu Beginn des Kulturhauptstadt-Jahres2003 eröffnete er als eine seiner letzten Amtshandlungendie „Murinsel“, die auf dem Fluss schwimmendbeide Hälften der Stadt verbindet. (Philipp Axmann)Foto: APAAlfred Stingl wurdeam 28. Mai 1939 inGraz geboren. Von1985 bis 2003 warer Bürgermeisterder Stadt. Am 29.Mai 2025 ist erverstorben.
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