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DIE FURCHE 05.01.2023

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DIE FURCHE · 1 2 Das Thema der Woche Wiederholt sich die Geschichte? 5. Jänner 2023 1923 war das Jahr der großen Rezession. Wie durch ein Wunder hatte sich Europa kurze Zeit später erholt. Doch die nationalistische Welle, die das Jahrzehnt der Realitätsflucht mit sich brachte, sollte sich 1933 bitter rächen. Was lehrt die Geschichte heute, hundert Jahre später? Welchen Lichtblick findet man in den „Höllenvisionen“ und wie können wir 2023 positivenergisch begegnen? Von Manuela Tomic Redaktion: Manuela Tomic Steine der Fingerringe oder Teiche, die Teiche oder Steine der Fingerringe. Habt ihr gesehen, was sich in „Die der Tiefe bewegt, in der Tiefe der Steine der Fingerringe, in der Tiefe der Teiche.“ In der Muschel aus Papier höre ich das Meer. Greifbar. Unantastbar. Schwimme durch Feuerringe, mit taubem Nacken und stummen Augen, an der Tiefe vorbei. Über mir Wellengemurmel. Wer spricht denn da? Nur so leise, dass ich es gerade noch wahrnehme. Drehe die Antenne, ziehe sie aus. Störgeräusche, ein Piep-Ton und Raketenwerfer. Neujahr oder neues Land? Eine Zeit, die sich versteckt hinter den Zeigern, die nichts anzubieten haben. Immer nur im Kreis und mein Lauf nimmt seine Arbeit auf. Tagein, tagaus. Atmen, Luft anhalten. In der Tiefe der Worte verschwinden die kleinsten Staubkörnchen im geordneten Monolog. Spaziere ich durch Dublin mit Joyce, weil auch er nur dupliziert, um seiner Zeit zu entgehen? Dublin oder Wien. Bloom oder ein Wiener? Es nebelt im Zimmer und der Raum niest und ich tauche auf. Höre das Gemurmel aus dem Radio jetzt ganz laut. Sie schießen und ich laufe im Labyrinth der Grashalme, die sich spitz und riesenhaft vor mir auftürmen in eine drastische neue Welt. Rotspuren im Schnee „Man bringt mir eine große, aus Kupfer getriebene Arbeit: zwei Türen: die eine mit Spießen besteckt, verflochten mit Schrecknissen [...]; die andere geschlossen, aber erhaben und friedlich. [...] Fühlst du nicht, daß man dich woanders hin einlädt?“ Woanders hin ist die Tür meiner Eltern. Verschlossen, die Möbel vergriffen und unser bosnisches Teeservice haben sie mitgenommen in die Unzeitlosigkeit. Ilidža. 66.000 Einwohner. Und welche es doch waren. Samt Hollywood-Hotel und Pool. In der Tiefe der Steine. Fußstapfen im Rückwärtsgang. Graffiti in der Betonschräge. Sarajevo 1984. Die fünf Ringe blicken zerschossen vom Himmel herab. Ich zähle die Einschusslöcher, während ich die Bobbahn in meinem Kopf entlangstapfe. Bunte Anoraks wie Punkte im weißen Wasserbad. Fahnen und Hymnen. Und dann sind sie gerutscht. Um ihr Leben gerutscht, für Medaillen, das Gold unter ihrem Hintern. Die Einschusslöcher wie Blindenschrift. Schneestarre. Meine Finger im Plüschsofa. Das Zahnfleisch hat sich entzündet. Die kleinen Tröpfchen bilden Laken, Rotspuren im Schnee. Kein Blick zurück. Eine schwarze Faust. Stillstaunen. Denkwarten. Kaltflügeln. Die Bobbahn hält und schlingt ihren Schlauch um die Stadt, die es nicht mehr gibt. Erinnerungen, bodenlos wie Schlamm, entledigen sich bei jedem Schütteln vom Körper. Moosbewachsene Augen, dichtes Haar und Frauen mit Oberlippenbart. Das bin Max Jacobs „Höllenvisionen“ gehören zu jenen mystischen Prosadichtungen, die ein inneres Rauschen erzeugen. Der Versuch einer Antwort oder eine literarische Ouvertüre zum Jahresanfang. Labyrinth und Rätsel ZUR PERSON Ethnographie des Dämons Max Jacob war ein französischer Dichter, Maler und Schriftsteller. Er lebte im Quartier Montparnasse, wo er sich mit Pablo Picasso ein Zimmer teilte. 1915 konvertierte Jacob vom Judentum zum Katholizismus. 1924 erschienen seine „Höllenvisionen“ unter dem Titel „Visions infernales“ bei Gallimard in Paris. Am 24. Februar 1944 wurde Jacob nach dem Besuch der Morgenmesse von der Gestapo verhaftet und in das Gefängnis von Orléans gebracht. Zuvor waren bereits sein Bruder, seine Schwester und ihr Ehemann in Auschwitz ermordet worden. Jacob starb am 5. März 1944 im NS-Sammellager Drancy an einer Lungenentzündung. Der vorliegende literarische Text maßt sich keineswegs an, historische Bezüge oder Vergleiche herzustellen. Er versteht sich als rein künstlerische Introspektive auf das surrealistische Werk Jakobs. (tom) barer Wesen?“ Etwas kribbelt unter der Nase, aber ich kann mich nicht kratzen, ich kann es nicht lokalisieren. Ganz ohne Kompass, ein Wort in den Mund gelegt. Esse Butterkekse ohne Butter und draußen wartet das Blackout. Oder ist es männlich? Mein Weg zum Büro und einmal fährt eine Pferdekutsche vorbei. Gute alte Zeitlichkeit. Mein Weg Richtung Keller: Ich traue mich nicht. Gehe lieber in den Waschsaich. Die Präsenz meines Kulturkreises. Die zweite Haut. Und immer wieder Österreich. Lese von Städtepartnerschaften. Wien und Kiew: 1. Mai 1992. Linz und Saporischschja: 1. Mai 1983. Wels und Saky: 1. Oktober 1997. Sarajevo und Innsbruck und so weiter. Sie haben verstanden? Die Strömung zieht weiter. „Die Treppen sind in Richtung Büro weniger schön als in Richtung Straße. [...] Die Treppen sind noch weniger schön in Richtung Keller! aber was soll ich über den Sumpf sagen, in dem ich anlangte? was über das Gelächter? über die Tiere, die ich streifte, und das Flüstern unsicht- ten Haut. Habe mich ausgesehen an Bildern und Stories und Meinungen und mache nichts daraus. Schreiben Sie mir! Ein Wirrsinn. Ein Hilferuf? Der gute alte Teletext. Das Kribbeln kriecht immer weiter hinauf, aber ich kenne den Weg nicht. „Die Kreise fassen sich bei der Taille, die Kreise umschließen sich, die Kreise fassen mich von unten, die Kreise umschließen mich, die Wurzeln der Bäume bewegen sich, etwas ist erschüttert. Es gibt Menschen wie Reisigbündel.“ Einmal im Zirkus sah ich das schönste Mädchen der Welt. Sie war blond und trug einen Glitzeranzug und warf Riesenreifen in die Luft. Und ihre Luft kam zu mir und meine Atmung wurde rund, „ Drehe die Antenne, ziehe sie aus. Störgeräusche, ein Piep-Ton und Raketenwerfer. Eine Zeit, die sich versteckt hinter den Zeigern. Mein Lauf nimmt seine Arbeit auf. “ mein Mund hohl. Meine Pupillen kreisten mit. Alles war ohne Ende und diese Fassung empörte mich. Kreise einfach so, Glitzer ohne Nutzen. Karawane, was für ein Leben? Ich klopfte auf Schenkel und flachatmete ins Zelt. Wo sind ihre Papiere? Arbeitsrecht? Aufenthaltsrecht? Sozialversicherung? Reisepass? Einfach so, Kreise in die Luft werfen, mit Ringen, und Reifen, die ihr Lächeln zu mir trugen. Und doch war es das Schönste, das ich je gesehen hatte in diesem Kärntner Nebel 1997. Wenn heute alles wirr scheint, folgen meine Pupillen der Tänzerin mit den langen Armen, lon. „Mit gutem Gewissen“ steht auf der Werbetafel. So rund wie der Kreis in Ihrer Mitte entlasse ich Sie mit den flüsternden Stimmen, aber wo? Wie? Schon jetzt? Ich beschließe, noch ein Weilchen zu bleiben, nachdem Ihre Augen noch immer den meinen folgen. Löblich, Ihre Aufmerksamkeitsspanne, das Gold unserer Zeit. Nicht alles muss verstanden werden und doch kann ich mich nicht greifen. Und immer das Politische in allem. Greenwash. Ich wähle das Programm und drücke Start. Und die Maschine wiegt den Schlamm und spült ihn aus. Morgen bin ich wieder ein Frischling in einer aldie wusste, wie man die Zeit verbringt. Lesen Sie im Kreis? Etwa immer noch? Sie werden nicht enttäuscht sein. Hoffe ich. „Weder die Kinnbacken der Felsen mit ihrem violetten Zahnfleisch, noch das Grinsen der Stechpalmen, das sie zernagt und gern noch anderes zernagen würde, schüchtern den Fahrraddieb ein; diese Steinplatten sind große Sprungschanzen. Alles warnt den Fahrraddieb, aber er hat Vertrauen zu den beiden glänzenden Fünffrancstücken, die ihn tragen, er hört weder auf die Stimmen, die aus der Vergangenheit, dem Tal der Vergangenheit, kommen, noch auf das, was vom Weg oder aus dem Gewissen zu ihm kommt.“ Gewissen. Ein Wort zu groß für die heutige Zeit. Im Lavanttal, unweit meiner Heimat, hören die Menschen wie Fledermäuse. Ihr Gemurmel verbreitet sich wie kleinste Aerosole. „Da hat der Peppi wieder zu viel getrunken.“ „Und der Hansi ist gestorben.“ Im Dickicht ihrer Sätze bin ich aufgewachsen. „Schon wieder a neues Jahr! Maria!“ Und manchmal ist das Naheliegende beim Schreiben am weitesten entfernt. Sind wir alle etwas ver-rückt, nicht mehr am selben Platz? Und ist das nicht gut so? Wenn die Wirbel sich wenden, geht der Kopf selten mit. Aber ich will Sie nicht beleidigen. Klopfe mit dem Taktstock das neue Jahr in Worte. Eine kleine Pirouette „Soviel Gedecke, und ich bin der einzige, der zu Abend ißt.“ Nur nicht anmaßen. Größer werden. Ein freundliches Gesicht ist die schönste Mahlzeit. Der Tisch läuft über seinen Läufer, um die Sekunden zu überholen, bis die Uhr wieder Mitternacht schlägt. Bis wir uns das nächste Mal bei tiefen Temperaturen vor die Fenster stellen und, komme, was wolle, das neue Jahr einläuten. Denn der Mensch ist widerstandsfähig, wie die Grashalme vor meinen Toren. Und es ist traurig, dass es so ist. Aus allem einen Sinn machen. Und alles vergessen, wenn wir uns in den Himmel richten, unseren Sumpf und uns etwas Neues wünschen. Eine kleine Pirouette und weiter geht‘s. Die Fratzen machen uns keine Angst. Nicht in diesem und nicht im neuen Jahr. Es ist schon alt. Und wir wirbeln davon. „Eine Katze schreit, da ich auf sie getreten bin, und dieser Schrei macht mich auf den Schlamm zu meinen Füßen aufmerksam, den die Sonne versteckt hat.“ Vergangenen Sommer bin ich verglüht. Sie auch? Verbrannte Landschaften in Lecce, wohlig warmes Gelb. Und wenn der Boden unter einem knackt, ist Sonne nur ein abstrakter Begriff, als würden wir über das Universum sprechen. Oder über Katzen, die das Universum in sich tragen. Sie machen mir Angst, mit ihren leuchteten Augen in der Nacht. Aber in Bosnien ist man abergläubisch und so glaube ich vor mich hin und träume von Katzen, bloß nicht schwarz und ohne Leiter. Und nachts darf ich nicht in den Spiegel blicken. Atempause. Aber die Worte brausen und ich führe Sie in den Rausch der Tiefe, dorthin, wo der Sauerstoffmangel eine gefährliche Euphorie auslöst. Dort, 55 Meter unter dem Meeresspiegel, wo meine Buchstaben schwimmen, rührt sich etwas. Ein neuer Anfang. Ein altes Echo. Und das wusste schon Max Jacob: „In der Tiefe der Welt ist etwas, das sich bewegt und das wie die Tiefe der Ringe und die der Teiche lockt.“ Ich sage: Es nennt sich Hoffnung. Manuela Tomic leitet das FURCHE-Ressort Chancen und schreibt neben ihrer Arbeit als Journalistin Lyrik, Prosa und Hörspiele. Höllenvisionen von Max Jacob Nachwort und Übersetzung aus dem Französischen Una Pfau Suhrkamp 1985, 187 S., geb.

DIE FURCHE · 1 5. Jänner 2023 Das Thema der Woche Wiederholt sich die Geschichte? 3 Verschwörungstheoretiker und Rechtsextreme warben 1923 auf den Straßen um verlorene Seelen in Zeiten der Hyperinflation. Der Historiker Peter Longerich über Europas Schicksalsjahr und was wir daraus lernen können. „Man muss den Mut haben, in Krisen rechtzeitig gegenzusteuern“ Das Gespräch führte Manuela Tomic Der Historiker Peter Longerich bezeichnet das Jahr 1923 als Vorhof der Krise. In seinem neuen Buch mit dem Titel „Außer Kontrolle“, das im Molden Verlag erschienen ist, zeichnet er ein Bild der komplexen Konflikte und zieht Parallelen zu heute. Was kann Europa hundert Jahre später aus der Geschichte lernen? DIE FURCHE hat mit Longerich über Weltflucht, sogenannte „Inflationsheilige“ und gefährlichen Opportunismus gesprochen. DIE FURCHE: Sie sind als Sohn eines Journalisten in der Region Niederrhein, genauer in Krefeld, geboren. Nur wenige Kilometer entfernt, spielte sich 1923 ein Ereignis ab, das Sie in Ihrem Buch als Vorraum der Krise bezeichnen. Worum ging es da? Peter Longerich: Die französische und die belgische Regierung haben sich Anfang 1923 entschlossen, das Ruhrgebiet zu besetzen. Der Grund für die Besetzung waren Rückstände Deutschlands bei den Leistungen von Reparationskohle. Also versuchten Belgien und Frankreich nun die Kohle selber in die eigenen Länder zu transportieren, indem sie die Hand auf die Bergwerke legten. In Deutschland hat man das Kohle-Argument natürlich nur als französischen Vorwand gesehen, um die Gebiete Westdeutschlands endgültig zu annektieren. Es gab aber auch reale Gründe für diese Besetzung. Die Deutschen hatten im Ersten Weltkrieg die Bergwerke in Belgien und Frankreich zerstört und nun waren diese beiden Länder auf die hochwertige Ruhrgebietskohle angewiesen, um ihre Produktion aufrechtzuerhalten. DIE FURCHE: Vor allem in Bayern war der Kampf um die Kohle ein wichtiger Ausgangspunkt für die rechte Radikalisierung. Wie hat diese ausgesehen? Longerich: Radikalisierung gab es in der ganzen Weimarer Republik, aber Bayern war das Zentrum der rechten Opposition. Das hat damit zu tun, dass Bayern rechtskonservativ regiert wurde. Und die Rechtskonservativen hielten es für opportun, den Rechtsextremisten einen relativ sicheren Hafen in Bayern zu bieten. Das Zusammengehen von Rechtskonservativen und den Rechtsextremisten, die ein völlig neues System errichten wollten, war überhaupt das Kernproblem der Krise. Die Rechtskonservativen wussten nicht so richtig, was sie wollten. Die Rechtsextremen wollten eine Diktatur errichten und haben dieses politische Vakuum der Konservativen genutzt. DIE FURCHE: Wie konnten den die Rechten den Ruhreinmarsch politisch für sich nutzen? Longerich: Frankreich galt als der Erbfeind und aus deutscher Sicht hatte Frankreich wieder sein wahres Gesicht gezeigt. Es ist schon erschreckend, wie offen der deutsche Hass gegenüber den Franzosen gezeigt wurde. In deutschen Medien wurden die Franzosen sogar als ‚Untermenschen‘ bezeichnet. Damals regierte der parteilose Reichskanzler Wilhelm Cuno eine gesichtslose Regierung. Er hatte versucht, auf der nationalistischen Welle zu schwimmen. DIE FURCHE: Ist ihm das gelungen? Longerich: Nein, er ist gewissermaßen in einem Wellental versunken, da im August 1923 seine Regierung zusammenbrach. Geld und Illusion Foto: Imago / United Archives International Die deutsche Papiermark verkommt in Zeiten der Hyperinflation wortwörtlich zum Spielgeld. „ Das Zusammengehen von Rechtskonservativen und Rechtsextremen war das Kernproblem der gesamten Krise. “ Diese Idee, dass man versuchen könnte, als ein konservativer Politiker die Rechtsextremisten zu überholen und ihnen das Wasser abzugraben, in dem man nun selber extrem nationalistische Parolen austeilt, hat den Konservativen gar nichts genützt. Was sich als verderblich herausgestellt hat, ist, dass die Reichsregierung den Rechtsextremen die Möglichkeit gegeben hat, sich zu vernetzen, Waffenlager anzulegen und Sabotageakte im Ruhrgebiet zu begehen. 1923 entwickelte sich in Deutschland also ein rechtsextremer Untergrund mit Billigung der offiziellen Stellen. Rechtsextremisten wurden sogar militärisch ausgebildet. DIE FURCHE: Sie schreiben gleich zu Beginn Ihres Buches auch von einer „Modernitätskrise“, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt habe. Können Sie erklären, was Sie damit meinen? Longerich: Als Historiker versuche ich, dies zu präzisieren und sehe Krisen nicht so sehr als einen Dauerzustand, sondern als einen ganz bestimmten historischen Prozess, der an seinem Höhepunkt eruptiv ausbricht. Am Anfang stehen strukturelle Probleme, die den Zeitgenossen vielleicht gar nicht so bewusst gewesen sind. In Phase zwei, die ich als Vorhof der Krise bezeichne, passierte die Besetzung des Ruhrgebiets über Monate hinweg. Und nun beginnen die strukturellen Probleme plötzlich virulent zu werden und werden auch als Störung wahrgenommen. In der dritten Phase, wo die eigentliche Krise wirklich beginnt, in diesem Fall ist es der Herbst 1923, stehen die Existenz der Gesellschaft und des Landes auf dem Spiel. Man steht vor einem Bürgerkrieg oder einem Krieg. Und hier sind die Politiker getrieben, täglich Entscheidungen zu treffen. Bricht alles zusammen oder kommt man über die Krise hinweg? DIE FURCHE: In welcher Phase befinden wir uns heute? Longerich: Ich würde sagen, wir befinden uns in Phase zwei. Wir sprechen zwar über die große Krise, aber wir antizipieren damit etwas, das wir befürchten. Wir sprechen also darüber, was auf uns in diesem oder im nächsten Winter zukommen könnte, aber wir sind noch nicht in der eigentlichen Krise drinnen. Die passiert dann, wenn es zu einem Blackout käme, wenn eine Massenarbeitslosigkeit herrschen würde oder wenn Menschenmassen durch die Straßen ziehen und Geschäfte plündern. Dann kämen wir in eine Situation, die mit dem Herbst 1923 vergleichbar wäre. DIE FURCHE: Wie kann man sich das Leben der Menschen im Jahr 1923 in Deutschland vorstellen? Longerich: Die gesamte Periode, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, war eine sehr schwierige und prekäre Zeit. Wir haben in Deutschland das Problem, dass eine Mehrzahl von Menschen die noch junge Demokratie nicht akzeptieren will und ihr distanziert gegenüber steht. Wir haben ein sehr scharfes Gegenüber von links und rechts, bis hin zu bürgerkriegsähnlichen, bewaffneten Auseinandersetzungen. Wir haben das Problem der Kriegsfinanzierung nicht gelöst. Die Kriegsanleihen waren aufgrund der Inflation wertlos und es war nicht klar, ob es eine Form von Ausgleich geben würde. Große Teile des Mittelstands mussten befürchten, in eine sehr schwierige wirtschaftliche Situation zu FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE

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