Regelmäßig ist der ehemalige Kommissionspräsident in seinem Büro im EU-Berlaymont-Gebäude anzutreffen. Auch FURCHE-Redakteurin Brigitte Quint bat er zum Gespräch in seine Brüsseler Räumlichkeiten. Das Gespräch führte Brigitte Quint m 8.Stock des Berlaymont-Gebäudes (Standort der Europäischen Kommission in Brüssel) sitzt Jean Claude Juncker in einem schwarzen Rollkragenpullover an seinem Schreibtisch und blättert in seinem Terminkalender. Vor ihm stapeln sich Dokumente, Notizbücher, ausgedruckte E-Mails. An den Wänden stehen halbvolle Bücherregale. Als hätte er begonnen, sein Büro auszuräumen – und es sich dann doch anders überlegt. Seine Assistentin Jolanthe von Montgelas, die Juncker in Anspielung auf ihre Herkunft „Die bayerische Gräfin“ nennt, führt die Besucherin aus Wien herein. „JCJ“ wie er von vielen bezeichnet wird, steht auf, verbeugt sich, nimmt die Hand, die ihm zum Gruß gereicht wird, und deutet einen Handkuss an. DIE FURCHE, so erzählt der ehemalige Kommissionspräsident, kenne er schon aus seiner Schulzeit. Im katholischen Internat in Arlon (Belgien), das er besucht hatte, gehörte die Zeitung aus Österreich zur Pflichtlektüre. „Aber so katholisch wie damals sind wir heute nicht mehr. Weder Sie noch ich“, sagt Juncker und lacht laut auf. Dem Österreichischen sei er daher bis heute treu geblieben. Jedes Jahr im Sommer verschlüge es ihn nach Tirol, so der 72-Jährige. Dann wird sein Gesichtsausdruck wieder ernst. Mit „Legen wir los!“ eröffnet er das Interview. DIE FURCHE: Herr Juncker, wie blicken Sie auf das Jahr 2022 zurück? Jean- Claude Juncker: Wenn man sich rückbesinnt, kommt man nicht an dem Überfall der Russen auf die Ukraine vorbei. In meinen Augen war das der Schlüsselmoment des Jahres 2022. Er bedeutete das Ende der europäischen Friedensbekundung. Der 24. Februar hat gezeigt, dass Putin die europäische Friedensordnung ohne Bedenken zerstören will. DIE FURCHE: Wie erfährt der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission von so einem Vorfall? Von wem wurden Sie wie in Kenntnis gesetzt? Juncker: Das luxemburgische Außen- DIE FURCHE: Woran machen Sie das fest? friedfertig vor. Ich war einmal bei ihm im ministerium hatte mich am 24. Februar Juncker: In unseren Vieraugengesprächen Kreml. Ich glaube das war 2005, während morgens früh angerufen und mich informiert. Und dann habe ich mir die TV-Nach- ihn der Westen verraten hätte. Alles, was der Sitzung meinte er zu mir: „Komm mal betonte er mit steigender Tendenz, dass des luxemburgischen Ratsvorsitzes. Nach richten angesehen und mir erklären lassen, was nicht zu erklären ist. Es war ein re – seiner Ansicht nach – nicht eingetre- inzwischen hatten wir uns geduzt. Und ihm in Aussicht gestellt worden sei, wä- mit mir zu meinen Privatappartements“, Schockerlebnis. Ich war felsenfest davon ten. Das lasse ich mal unkommentiert im als wir dort ankamen, hat er mich in eine überzeugt, dass dieser Krieg nicht stattfinden wird. nessraum eingerichtet hat, geführt. Dann Raum stehen. Kapelle, die er im Kreml neben seinem Fit- DIE FURCHE: Wie erklären Sie sich diesen Sinneswandel? Sie sagten, Sie kennen Putin. einem Popen gesegnet, damit unser Ge- knieten wir uns nieder und wurden von Juncker: Ich dachte… spräch gut verlaufen möge. Putin meinte, wie gesagt, er ist im Deutschen der Nuancen nicht hundertprozentig mächtig: „Wir DIE FURCHE: Dennoch hatten Sie zahlreiche Begegnungen mit ihm, können sich ein Bild lassen uns zuerst kreuzigen.“ Das ist mir von ihm als Person machen. so in Erinnerung. Also: Das war ein fast intimer Augenblick. Wir haben uns über sein Juncker: Ich habe ihn eigentlich immer sehr gemocht. Denn er war offen im Gespräch, Privatleben unterhalten, er hat sich sehr hat mir auch seine innenpolitischen Pro- bemüht um mich. Man darf das ja heute bleme erklärt. Er redete auch immer wieder von Versprechungen, die gegenüber nis von damals kann man als freundschaft- fast nicht mehr sagen: Aber unser Verhält- Russland gemacht und nicht eingehalten lich bezeichnen. Aber es war so. Ich bin auch persönlich betroffen, weil ich worden wären. Und dass sich die NATO in Putin gut kenne. Wir saßen oft in stundenlangen Vieraugengesprächen zusammen – geneigten Satellitenstaaten breit macht. dieses zumindest aus Ihrer Perspektive ge- der früheren Sowjetunion oder den ihr zu- DIE FURCHE: Ab welchem Zeitpunkt hat sich er spricht ja Deutsch –, und es war für mich Ich habe das natürlich mit einschlägigen fühlte Miteinander verändert? unvorstellbar, dass er zu diesem Schritt bereit sein könnte. Gleichzeitig wird mir im- Trotz alledem hatte ich den Eindruck – ter, 2007. Damals hielt Putin eine Rede auf dokumentarischen Hinweisen widerlegt. Juncker: Ich würde sagen zwei Jahre spämer mehr bewusst, dass er zunehmend zum ich spreche jetzt von der Zeit vor 2016 –, der Münchner Sicherheitskonferenz. Er Westen auf Distanz gegangen war. dass er prowestlich wäre. Und er kam mir hielt den Europäern oder dem Westen ins- DIE FURCHE · 1 16 Forum 5. Jänner 2023 DIE FURCHE EMPFIEHLT Einblicke ins neue Parlament TAGE DER OFFENEN TÜR Am 14. und 15. Jänner finden im wiedereröffneten Hohen Haus am Wiener Ring zwei Tage der offenen Tür statt, an denen sich Besucherinnen und Besucher bei einem ausgedehnten Rundgang ein Bild vom sanierten Parlamentsgebäude machen können. Ein Highlight wird das komplett neu geschaffene Besucher(innen)zentrum „Demokratikum – Erlebnis Parlament“ sein. Tage der offenen Tür Samstag 14.1. und Sonntag 15.1. Info: www.oeparl2023.at Ein Abend für Heiner Müller THEATER „Ich war eine schwere Geburt. Sie hat lange gedauert, von früh bis neun Uhr abends. 9. Januar 1929.“ Heiner Müller (gestorben 1995) wurde vor 94 Jahren geboren. Uwe Schmieder lädt daher gemeinsam mit rund 40 Kolleg(inn)en zum Gedenken ins Volkstheater. Texte, Filme, Bilder und Interviews – es wird gelesen, gesungen, gespielt und gezeigt. Und natürlich getanzt. Ein Abend für Heiner Müller 9. Jänner 2023, ab 20.00 Uhr Volkstheater Wien www.volkstheater.at Arbeit vs. digitale Struktur VORTRAG Die Sozioökonomin Katarzyna Gruszka beleuchtet die Arbeitsbedingungen plattformbasierter Arbeit, insbesondere bei Reinigungsdiensten in Privathaushalten. Plattformen sind nicht nur sozio-technische Infrastrukturen, sondern sie sind politisch-ökonomische Konfigurationen, die soziale Transformationen in großem Stil begünstigen. Arbeit und digitale Infrastruktur ÖAW, Wien 10. Jänner 2023 www.oeaw.ac.at IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at „Abgrundtiefe Verirrung“ „Ein Skandal, ein Ärger, ein Drama“ Interview mit Jean-Claude Juncker Nr. 51/52, Seiten 6–7 Nichts macht die von Juncker konstatierte „abgrundtiefe Verirrung des politischen Denkens in Teilen der österreichischen politischen Gesellschaft“ deutlicher als die gegenwärtig kursierenden Umfrageergebnisse, nach denen eine entfesselte Protestund Krawallpartei klar führt, deren NS-Wurzeln und falsches Geschichtsbewusstsein, Rassismus, Chauvinismus und Antisemitismus niemand Geringerer als Friedrich Heer seinerzeit in der FURCHE immer wieder aufgezeigt hat. Lic.phil. Emanuel-Josef Ringhoffer 1040 Wien Erratum Beim Interview mit Jean-Claude Juncker wurde dieser als „72-Jähriger“ eingeführt. Tatsächlich ist Juncker – wie im Kasten „Zur Person“ richtig vermerkt – 1954 geboren, also 68 Jahre alt. Wir bedauern den Fehler. (red) Reduktionistische Polemik Gott in uns und allen Menschen Von Peter Trummer Nr. 51/52, Seite 4 Je länger ich in diesem Artikel gelesen habe, desto mehr hat mich diese (für mein Empfinden) „reduktionistische Polemik“ befremdet. In welchem Geist wohl Priester-Studenten, die sich von Herrn Trummer lehren haben lassen, heute als Priester die Hochgebete der Heiligen Messe beten oder das Credo bei der Sonntagsmesse? Sollte Herr Trummer aber auch selber Priester sein: Mit welchen Verkrümmungen er wohl all die Texte und Gebete zu Weihnachten sprechen muss! Ob er wohl zur Predigt versucht hat, den Leuten in Graz seine „Aufklärung“ (siehe FUR- CHE) beizubringen? Und ob er bei den Wandlungsworten nach seiner Lesart statt „sich hingegeben“ die aktivistische Formel verwendet „der sich eingesetzt hat“? Jesus sagt einmal: „Den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart...“. Mir hätte in der FURCHE ein Weihnachtsbeitrag von einem „Unmündigen“ wohl getan. Peter Mathei Alberschwende Meister statt Master Demokratie in Gefahr Von Otto Friedrich Nr. 50, Seite 1 Diesen Artikel kann ich nicht unwidersprochen lassen. Vorweg: Ich stamme aus einer katholisch geprägten Familie, bin kein Mitglied einer Partei, beruflich Geschäftsführer eines Betriebes mit ca. 50 Mitarbeitern und bemühe mich redlich, unseren Mitarbeitern einen menschlichen und guten Arbeitsplatz zu bieten. Dass die Demokratie in Gefahr ist, mag mehrere Gründe haben. Ich I DIE FURCHE · 51/52 6 International 22. Dezember 2022 Büro in Brüssel Foto: Europäische Kommission Jean-Claude Juncker über das fehlende Kurzzeitgedächtnis der Europäer, seine Momente in Wladimir Putins Privatkapelle und die Abwesenheit von elementarer Nächstenliebe. „Ein Skandal, ein Ärger, ein Drama“ „ Österreichs Regierung ist für mich keine Regierung mehr im klassischen Wortsinn. Regierungen sind da, um zu regieren. “ möchte nur einen, für mich sehr wesentlichen Grund, herausgreifen: Ich kann das Wort „Bildung“ schon nicht mehr hören. Wir haben in Österreich einen Akademisierungswahn – die Bildungspolitik geht seit 30 bis 40 Jahren in die falsche Richtung. Wir bilden Leute aus, die keiner braucht! Wir brauchen wieder mehr Meister statt Master! Für das Arbeiten mit Pickel und Schaufel haben wir bald keine Experten mehr! Und zum Thema Herbert Kickl: Man kann diesen Herren sympathisch finden oder auch nicht. Aber was war in seiner Amtszeit als Innenminister inferior? Meine Wahrnehmung war, dass er (wie übrigens die ganze schwarzblaue Regierung) die richtigen Themen angegangen ist. Die entscheidende Frage zum Thema Demokratie lautet: Wie lange spielen die Systemerhalter (das ist im wesentlichen der Mittelstand – rund 2.500.000 Menschen) noch mit? Jakob Zimmermann Bau- und Zimmermeister 6112 Wattens Die Hoffnung verloren Dogmatische Stehsätze Von Otto Friedrich Nr. 48, Seite 1 Zum Ad-limina-Besuch der österreichischen Bischöfe wird berichtet: „Man habe den Eindruck, gehört zu werden, betonten sowohl der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Salzburgs Erzbischof Franz Lackner, als auch Kardinal Christoph Schönborn.“ Das klingt verschämt beschönigend, vor allem, wenn man Berichte vom kurz davor stattgefundenen Ad-limina-Besuch der deutschen Bischöfe zu lesen bekommt: „Der Weg ist nicht zu Ende“, hieß es in Christ in der Gegenwart in Bezug auf den „Synodalen Weg“, aber die Rede war auch von einer fehlenden Freiheit, anstehende brennende Themen diskutieren zu können, mit der Schlussfolgerung: „es geht (nur noch) darum, dass die deutschen Bischöfe einen Rest von Glaubwürdigkeit behalten, indem sie sich endlich zu Anwälten der Sache des Gottesvolkes in ihren Diözesen machen“. Ich habe für uns in Österreich eigentlich (schon fast) die Hoffnung verloren. Dr. Klaus Porstner via Mail Ein Traum für 2023 wie oben und allgemein Die Erwartungen an die Verantwortlichen der Katholischen Kirche bei uns und weltweit für 2023 sind für mich als überzeugter und in der Kirche meinen Möglichkeiten entsprechend engagierter Christ hoch: „Skandale der Vergangenheit mit einem ehrlichen Mea Culpa gründlich aufarbeiten und endlich Frauen wie Männer behandeln und sie nicht weiterhin von den Weiheämtern ausschließen.“ Aber auch in der Politik und Wirtschaft sollten die Männer den Frauen den ihnen gebührenden Platz einräumen und die Übernahme von mehr Verantwortung ermöglichen. Ich bin überzeugt: Wichtige Entscheidungen für unsere Gesellschaft würden sich dann menschenfreundlicher auswirken und nicht das „Immer mehr Haben“ begünstigen, sondern das Gemeinwohl fördern – z. B. durch ein gerechteres Steuersystem, im Einkommens-, Gesundheits- und Umweltbereich, bei den Fragen der Migration usw. „Wahrlich ein schöner Traum für das neue Jahr.“ Hans Riedler 4040 Linz Insgesamt neun Hauptgewinne bei Brief- und Rubbellos im Jahr 2022 Viertelmillion für Steirer Fröhliche Gesichter am Heiligen Abend gab es wohl überall in Österreich. Ganz besonders strahlte aber garantiert ein Burgenländer, denn elf Sterne auf seinem Rubbellos Adventkalender brachten ihm exakt 100.000 Euro Gewinn. Mit der Aushändigung unzähliger Sofortgewinne haben die Annahmestellen der Österreichischen Lotterien im Vorjahr generell den Spielteilnehmer:innen eine kleinere oder größere Freude bereitet. Neunmal mussten Gewinner:innen an die Österreichischen Lotterien verwiesen werden, dafür war der Jubel umso größer: Sie hatten jeweils den Hauptgewinn und damit einen sechsstelligen Betrag erzielt. Diese neun Haupttreffer – sechst beim Rubbellos und drei beim Brieflos – verteilen sich auf sechs Bundesländer. Top-Gewinner war ein Steirer, der beim Rubbellos 250.000 Euro aufgerubbelt hatte. Über jeweils 100.000 Euro jubelten zwei weitere Steirer, zwei Niederösterreicher, der eingangs erwähnte Burgenländer, sowie je ein Rubbel- bzw. Brieflos-Fan aus Wien, Oberösterreich und Tirol. Die Rubbellose der „Familie Cash“ gehören zu den beliebtesten bei den Spielteilnehmer:innen und wurden zum Dauerbrenner. Foto: Österreichische Lotterien Sternsingen. Millionen Schritte für eine gerechte Welt. Helfen Sie bitte mit! Danke! Online spenden für Menschen in Not. sternsingen.at 2023_sternsinger_inserat_275x78.indd 1 21.12.22 17:46
DIE FURCHE · 1 5. Jänner 2023 Literatur 17 Elfriede Jelinek wandte sich einst an die Österreichische Gesellschaft für Literatur: „Und zwar um bestätigt (oder weggesperrt) zu werden, daß ich als Schriftstellerin bestehen, also eine Auferstehung aus mir selbst gelingen könnte.“ Hier erzählt sie davon. Ein Brief Von Elfriede Jelinek Die Gesellschaft für Literatur ist mir, vor mehr als einem halben Jahrhundert, als einzige Institution erschienen, an die ich mich wenden konnte. Und zwar um bestätigt (oder weggesperrt) zu werden, daß ich als Schriftstellerin bestehen, also eine Auferstehung aus mir selbst gelingen könnte. Ich habe dann ein Sortiment meiner sehr epigonalen Gedichte an Otto Breicha geschickt, der damals für die Literatur in dieser Gesellschaft tätig gewesen ist. Von ihm, der mir als einzige zugängliche Instanz erschienen war (eine andre hatte ich im Telefonbuch nicht gefunden), in dieser Gesellschaft also, die sich ja zum Ziel gesetzt hatte, für die Literatur zu sein – ganz meine Meinung, ich auch, das war auch mein eigenes Ziel, jawohl!, nur sollte es das richtige Ziel sein. Von Otto Breicha, dem Türhüter vor dem Gesetz, also erwartete ich mir viel, ja, alles. Daß ich einen Fuß in die Tür der Literatur bekommen könnte, statt die Tür auf den Fuß geknallt zu kriegen, ob Otto Breicha von der Gesellschaft für Literatur finden würde, daß einen Wert besitze, was ich da geschrieben hatte. Bei diesen Sachen ist es so: Je mehr man hineinwill, desto weniger lassen einen die Türhüter. Otto Breicha hat dann aber gesagt, ich solle nur machen. Ich habe dann einen Brief von ihm bekommen (ich sehe heute noch unseren kleinen Briefkasten vor unserer alten Stadtwohnung im 8. Bezirk vor mir, er hatte ein noch kleineres Gitter, und durch dieses Gitter sah man gleich, ob Post da war, ein seltenes Ereignis, meine Familie und ich haben damals schon sehr einsiedlerisch gelebt, mit wenigen Freunden, Telefon hatten wir auch keins, und so war das Weiße, das durchs Gitter schimmerte, schon etwas besonderes), und der Brief war also von Otto Breicha, und er hat mich damals in die Gesellschaft für Literatur eingeladen, weil er mich für begabt hielt und mit mir darüber sprechen würde, ob ich aus dieser Begabung nicht etwas mehr herausreißen könnte als mich selbst. Daß ich mit Sprache also aus mir heraustreten würde können, das hatte er mir zugetraut. Ich verdanke ihm also alles. Und so habe ich ihn besucht, in diesem schönen Palais oder was es ist, ein Schritt in die Wirklichkeit hinein und gleichzeitig aus ihr heraus, denn gegen die Wirklichkeit wollte ich mich stemmen. Oder sie aufstemmen, um ihr etwas aufzuzwingen, was zuvor noch niemand gesehen oder getan hätte. Ich war nie sehr in der Wirklichkeit verankert, aber jetzt hatte ich, mit Otto Breichas Hilfe, eine gewisse Sicherheit (wenn der das sagt, dann muß was dran sein. Er arbeitet schließlich in der Gesellschaft für Literatur!), daß ich mit meinem Schraubenzieher die Befestigung der Wirklichkeit lockern und mich hineindrängen könnte. Entweder fällt die Wirklichkeit dann ganz herunter und wird für mich unerreichbar, oder ich kann mich irgendwie, irgendwo dort hineinzwängen und finde auch noch Platz neben allem anderen. Zu spät habe ich bemerkt, daß das die Wirklichkeit gar nicht war, in die ich mich hineingezwängt hatte, sondern etwas anderes, das mich nicht mehr losgelassen hat. Wenn die Wirklichkeit mich nicht will, dann mache ich mir halt meine eigene. Ich konnte schon damals aufgrund einer psychischen Erkrankung kaum das Haus verlassen. Die Wirklichkeit und ich, wir wären, hätten wir uns zufällig getroffen, grußlos aneinander vorbeigegangen, weil ich sie gar nicht erkannt hätte. Das ist leider bis heute so geblieben. Aber solche Befindlichkeiten waren Otto Breicha wurscht. Wir haben einfach geredet. Ich durfte dort sitzen und mit ihm über Literatur reden, und danach wurde ich wieder nach Hause transportiert, das aber ein andres Zuhause geworden war und nie mehr das sein würde, aus dem ich gekommen war. Das verdanke ich Otto Breicha aus der Gesellschaft für Literatur. Ihn können Sie nicht mehr zur Verantwortung ziehen, er ist leider gestorben. Ich erinnere mich noch an das allerletzte Mal, als ich dort war. Da haben wir seinen Abschied, auch von der wunderbaren Zeitschrift „protokolle“, nein, nicht gefeiert, sondern beweint. In dieser Zeitschrift, in der die wichtigsten Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die wichtigsten Bildenden Künstlerinnen und Künstler mit ihren Werken oder die Dichter mit ihren Texten herausgestellt wurden – auch meine sind mit reingekommen, so zuvorkommend war der Türhüter, daß er mir sogar die Tür zu den „protokollen“, die ich wahrscheinlich sonst nicht gefunden hätte, aufgehalten hat –, in dieser Zeitschrift also hatte ich meine allererste Publikation, zuerst eine vermischte Sammlung von Gedichten und zuletzt einen Essay zu Bruno Gironcoli, den ich für einen Katalog hätte schreiben sollen und der dem Künstler nicht gefallen hatte. Otto Breicha hat ihn abgedruckt. Die Tür ins Leben war es nicht, aber immerhin dorthin, wo es protokolliert wird. Auch nicht schlecht. Es waren damals nur Foto: picturedesk.com / brandstaetter images / Otto Breicha wenige zu diesem Abschied gekommen, Jandl und Mayröcker, an sie erinnere ich mich, obwohl so viele Otto Breicha noch mehr, fast alles verdankt haben. Es hat ihn mit Bitterkeit erfüllt, daß fast nur SchriftstellerInnen, nicht aber Künstler da waren, die, wie er sagte: „doch so viel mehr verdienen als die Dichter“. Doch wir hatten es verdient, dort zu sein. Die „protokolle“ wurden eingestellt, ein Jammer, bis heute. Nur heute treffen die „unterdrückten Rufe nach Begehrenswürdigkeiten in Sachen Kultur“, spricht Robert Walser, keiner kann etwas besser sagen als er, deswegen zitiere ich ihn so gern, Rufe, die ins Herz der Sehnsucht treffen, Herz, was willst du mehr, „ich will Bedeutung und Anerkennung, spricht das Herz“; alles, das mir sowas herbeischafft, ich will ja vielen, womöglich allen Menschen etwas bringen und nichts für mich und bei mir behalten, ist mir willkommen. Und die andre Seite, die Verleger, Bühnen, Filmproduzenten sagen genau dasselbe genauso von sich, auch sie warten auf epochemachende Werke. Ich war bereit. „ Daß ich mit Sprache also aus mir heraustreten würde können, das hatte er mir zugetraut. Ich verdanke ihm also alles. “ Meine erste Lesung in der Gesellschaft für Literatur hatte ich mit Gert Jonke, ich hoffe, ich erinnere mich richtig, ich habe ihn damals kennengelernt. Und auch meine Lebensfreundin Elfriede Gerstl, die im Publikum saß. Ich kann mich da täuschen, doch es gibt Aufzeichnungen über unsere Aufschreibungen, und die sagen es uns. Das ist die Wirklichkeit. Noch einmal Robert Walser, mein Gott (er ist der Gott von so vielen, nachdem er im Leben buchstäblich nichts und niemand war. Ein ziemlicher Karrieresprung, oder?), nein, nicht: mein Gott!, er ist mein Gott und mein Abgott, der alles hat, und er sagt ja auch, das Herz betreffend: „Hat einer nicht Elfriede Jelinek Die Schriftstellerin 1970 in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, fotografiert von Otto Breicha. den Mut, etwas zu haben, so hat er nichts.“ Und etwas weiter: „Wie komisch istʼs, wenn Städte irgendwo unentdeckt vorhanden sind.“ Ja. Ich bin von Otto Breicha in der Gesellschaft für Literatur entdeckt worden, meine innere Stadt zu eröffnen. Die Zeit hat einiges herbeigeführt, Otto Breicha hat das mit meinem Erwachen getan. Beeilen kann man sich mit sowas nicht, es nützt nichts, angefeuert oder vernichtet zu werden (im Schreiben), und all dies Angeherrsche oder Beschimpfe, all die Antreibereien, Er- und Entmutigungen nützen nichts, wenn der Betreffende (wie Walser sagt, meist ist es aber ein Betroffener, fürchte ich, und der will dann auch noch, daß diejenigen ebenfalls betroffen sind, die ihn lesen) sein Erwachen nicht selbst herbeiführt. Okay. Ich hatte Hilfe bei meinem, das gebe ich zu, sogar hier habe ich mir ja die eines ganz Großen gesucht. Siehe auch Robert Walser: Aus dem Bleistiftgebiet, Mikrogramme aus den Jahren 1925- 1932, Frankfurt am Main 2000. LESEN SIE DAZU AUCH DIE SEITE 18
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