DIE FURCHE · 1 10 Religion 5. Jänner 2023 FORTSETZUNG VON SEITE 9 Davon ist auch seine Amtszeit als Papst bestimmt. Gegen Bruch und bloße Kontinuität plädiert er für eine Hermeneutik der Reform, ohne jene Themen und Bruchlinien klar anzusprechen, die er noch in seinen Beiträgen zum Konzil nannte. Sein Schritt auf die Gemeinschaft von Lefebvre zu ging ins Leere und verschärfte die innerkirchlichen Spannungen. Auch wenn er wichtige Schritte im Missbrauchsskandal setzte, blieben seine Maßnahmen nicht entschieden genug. Eine spätere Generation wird erforschen müssen, welche Entwicklungen ihn wirklich zum Rücktritt veranlassten. Dieser Schritt aber entmythologisierte jene Amtsaura, die der späte Johannes Paul II. noch verstärkte, weil Benedikt XVI. dadurch dieses Amt als Dienst für die Kirche definiert hat. Er war wohl nie wirklich mit diesem Amt eins. Als erster Papst veröffentlichte er ein Buch („Jesus von Nazareth“) unter einem Doppelnamen. Vielleicht wusste er es selber am besten, dass für dieses Amt seine Gutgläubigkeit und seine letzten Endes unpolitische Seele nicht von Vorteil waren. Mehr als Folklore? Sein künftiges Bild wird sich meiner Ansicht nach an folgenden Fragen maßgeblich entscheiden. Ist der ihn prägende katholische Symbolkosmos, den er noch als Papst mit seinen Gewändern erneuern wollte, im Pluralismus der Gegenwart nicht letzten Endes vergehende Folklore, die ohne fundamentalistische Abschottung nicht zu haben ist? Lässt sich das Zweite Vatikanische Konzil in den Kategorien von Reform und Kontinuität beschreiben, oder stellt es nicht eine jener epochalen Metamorphosen des Christentums dar, die als neues Pfingsten der Kirche die Gestalt des Glaubens in der Pluralität der Kulturen neu entwickelt und vermisst und in der auch die erste Inkulturation des Evangeliums im antiken Mittelmeerraum nur eine erste, wenn auch bleibend gewichtige Epoche darstellt? Müssen wir dann nicht das Evangelium ganz neu in den Zeichen der Zeit lernen, und zwar in gleicher Weise im Dialog nach innen ebenso wie im Dialog mit allen Menschen guten Willens? Dann aber werden wohl jene Markierungen des ordentlichen Lehramtes, die Benedikt XVI. festzurren wollte, auf dem Prüfstand stehen; – z. B. die Ausgestaltung des kirchlichen Amtes und die bislang prägende europäische Grammatik des Christentums. Wie sollte sonst katholische Kirche wirklich Weltkirche werden? Gerade aber in einem solchen Prozess wird seine platonische Tradition des Christentums neu an Bedeutung gewinnen. Denn auch in diesem Prozess wird nach der bleibenden Gestalt des christlichen Glaubens gefragt werden – wenn auch unter den nie aufhebbaren geschichtlichen und kulturellen Bedingungen einer bestimmten Zeit. Wie gesagt, noch ist es zu früh, diese Fragen zu beantworten. Wir müssen sie aber stellen, damit wir uns vor ihm verneigen können, ohne uns krümmen zu müssen: Requiescat in pace! Der Autor ist em. Professor für Dogmatik an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Innsbruck. Als Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. am Silvestermorgen 2022 verstarb, gehörten weniger als die Hälfte der Deutschen einer Kirche an. Die Fliehkräfte der Säkularisierung hatte auch er nicht stoppen können. Pontifikat im Widerspruch Von Gregor Maria Hoff Kurz vor Weihnachten des vergangenen Jahres wurden die Daten des neuesten Religionsmonitors der Bertelsmanns-Stiftung veröffentlicht: „Die Zukunft der Kirchen – zwischen Bedeutungsverlust und Neuverortung in einer vielfältigen Gesellschaft.“ Die Vorzeichen: düster. Als der erste deutsche Papst seit beinahe 500 Jahren am Silvestermorgen 2022 starb, befanden sich kirchlich gebundene Christen in Deutschland erstmals in der Minderheit. Eine Konstellation des kirchlichen Glaubensverlustes zeichnet sich in einem Moment ab, in dem der katholische Missbrauchskomplex die säkularisierungsbestimmten Fliehkräfte verschärft. Kämpfer gegen jede Form des Relativismus Im Zeichen dieses konziliaren Reformprogramms begann die einzigartige theologisch-kirchliche Karriere eines Joseph Ratzinger. Aus dem beratenden Konzilstheologen wurde der Präfekt der römischen Glaubenskongregation – und aus dem traditionsbewussten Kämpfer gegen jede Form eines weltanschaulich-kirchlichen Relativismus Papst Benedikt XVI. Mit seiner Predigt zu Beginn des Konklaves 2005, in der er programmatisch von der „Diktatur des Relativismus“ sprach, hatte er die Weichen für seine Wahl gestellt. Sein eigenes Pontifikat dauerte nur acht Jahre, aber das Leben dieses deutschen Papstes umfasste fast ein Jahrhundert, in dem er den Weg seiner Kirche maßgeblich bestimmte. Seine persönliche zeitgeschichtliche Erfahrung spiegelt sich in der Theologie, die er vertrat. Ratzinger nahm die moderne Welt unter den Vorzeichen eines Werte- und Glaubensverfalls wahr. Das Gegengift: die unbezweifelbare Wahrheit des Glaubens an Jesus Christus, den die Kirche authentisch überliefert und verbürgt. Auf dieser Grundlage findet sich eine Sicherheit, die jedem Relativismus standhält. Dafür bedurfte es eines theologischen Arguments, das Joseph Ratzinger in seiner Habilitationsschrift 1957 entwickelt hatte. Offenbarung „bezeichnet den Akt, in dem Gott sich zeigt, nicht Am 28. Februar 2013 verabschiedete sich Benedikt XVI. in der Sommerresidenz Castel Gandolfo als Papst – um nach der Wahl von Franziskus als Papa emeritus in den Vatikan zurückzukehren. das objektivierbare Ergebnis dieses Aktes. Und weil es so ist, gehört zum Begriff ‚Offenbarung‘ immer auch das empfangende Subjekt: Wo niemand ‚Offenbarung‘ wahrnimmt, da ist eben keine Offenbarung geschehen, denn es ist nichts offen geworden.“ Dieser Gedanke führte den jungen Theologen nah an die neuzeitliche Umstellung der Erkenntnistheorie heran, die seit Kant der unaufhebbaren Bedeutung des Subjekts Platz machte. Ratzinger gab dieser Einsicht indes eine Drehung, die nicht nur kennzeichnend für seinen Umgang mit der Moderne war, sondern ein Leitmotiv seiner Theologie und seines kirchlichen Handelns blieb. Um nämlich wahrnehmen zu können, dass es sich wirklich um eine Offenbarung Gottes handelt, braucht es die Kirche, die das Evangelium Jesu Christi aufgezeichnet und als lebendige Tradition weitergegeben hat. Im Kanon festgelegt, deutet die Kirche als Leib Christi die Schrift und bestimmt, was als authentische Tradition beansprucht. „ Sein eigenes Pontifikat dauerte nur acht Jahre, aber das Leben dieses Papstes umfasste fast ein Jahrhundert, in dem er den Weg seiner Kirche maßgeblich “ bestimmte. Was modern wirkt, erweist sich im Zugriff auf Schrift und Überlieferung als innerer Kirchenbestätigungsmechanismus. Deswegen spielten konkrete Geschichte und die Zeichen der Zeit für die Auslegung des Evangeliums bei Joseph Ratzinger am ehesten apokalyptisch intonierte Drohrollen. Ihre dramatische Hauptfigur: relativistischer Zeitgeist. Hier zeigt sich Ratzingers ureigene Ambivalenz der Moderne. Sein Pontifikat stellte Benedikt in einer werküberspannenden Klammer unter das Vorzeichen einer Versöhnung von Glaube und Vernunft. Indes war ihre Harmonisierung vom katholisch verfugten Anspruch auf die letztverbindliche Einsicht in den unverrückbaren Offenbarungsgehalt des kirchlichen Glaubens Foto: APA / AFP / Osservatore Romano bestimmt. Noch in seinem nun veröffentlichten geistlichen Testament schärft der verstorbene Pontifex die Notwendigkeit eines glaubensbasierten Zugangs zur Wahrheit des Evangeliums ein – im ausdrücklichen Gegensatz zu den nach seiner Überzeugung wandelbaren Einsichten von Naturwissenschaften und jeder geschichtlichen Erkenntnis. Letztere betrifft vor allem die Auslegung der Bibel. In seiner Jesus-Trilogie stellte Benedikt XVI. das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Reich-Gottes-Botschaft und Lebensgestalt Jesu heraus, so wie sie von der Kirche vermittelt wurde. Antimodernismus funktioniert nicht mehr Hier droht der ekklesiologische Selbstabschluss. Modern wirkt er im Ringen mit dem historischen Relativismus, der seit dem 19. Jahrhundert vor allem liberale protestantische Theologien beschäftigte. Die antimoderne katholische Antwort ewiger Kirchenwahrheiten funktionierte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein – im lebensweltlichen Glaubensmodus katholischer Milieus. In dem Maße, in dem sie sich soziologisch auflösten, büßte auch Benedikts kirchliches Bestimmungsmoment eines Glaubens an Plausibilität ein, der sich freiheits- und menschenrechtsbezogenen Reformulierungen enthob. Wer vom Wirken Gottes in der Geschichte spricht, muss überzeugend zeigen, wo sich seine schöpferische Lebensmacht vermittelt. Nicht zuletzt in der Kirche. Vertrauen in den kirchlich garantierten Glauben bricht sich aber an jenem Missbrauchskomplex, dessen systemische Gründe Benedikt XVI. nie anzuerkennen vermochte. Seine Versuche, ihn kirchendisziplinarisch aufzulösen, blieben systemimmanent und letztlich ursachenblind. Dass sich dies mit dem Münchner Missbrauchsgutachten von Anfang 2022 gegen ihn selbst und seine persönliche Glaubwürdigkeit richtete, gehört in die tragische Wahrnehmung eines Pontifikates, die deshalb nicht ohne Konsequenz ist, weil sich in diesem Vorgang der Kirchenglaube des Joseph Ratzinger abbildet. Dessen Selbstgewissheit führte zwangsläufig in neue Widersprüche und Konflikte: mit der Karfreitagsfürbitte für die Juden, mit der Regensburger Rede im Kontakt mit dem Islam, im Versöhnungsversuch mit den Piusbrüdern, im Programm einer „entweltlichten“ Kirche. Am Ende seines Lebens bestimmte der verstorbene Pontifex, anders als wenige Wochen zuvor Elizabeth II., nur flüchtig das weltöffentliche Interesse. Die Welt geht zu einer Tagesordnung über, auf der katholische Glaubensüberzeugungen an Bedeutung verlieren. Auch das gehört zur Wahrnehmung eines Pontifikats, das an inneren Widersprüchen gescheitert ist und seine bleibende historische Bedeutung wohl ausgerechnet im Moment des Amtsverzichts erreichte. Der freilich war groß. Der Autor ist Professor für Fundamentaltheologie und Ökumene an der Universität Salzburg. Am 6.9.1975 schrieb Jospeh Ratzinger: „Warum ich in der Kirche bleibe“, nachzulesen auf furche.at. Am 12.4.2012 analysierte Christian Rathner mit „Denker auf dem Thron“ das Pontifikat Benedikts, furche.at. „Der gute Papst aus Oberbayern“: Otto Friedrich am 20.7.2020 über die Ratzinger-Biografie, furche.at.
DIE FURCHE · 1 5. Jänner 2023 Religion 11 Am 20.3.1958 schrieb Friedrich Heer zur epochalen Thérèse-Studie von Ida Friederike Görres, siehe „Das Senfkorn von Lisieux“ auf furche.at. Von Hubert Gaisbauer Auf dem Display des Laptops ein Bild: Thérèse. Die linke Augenbraue ist eine Spur hochgezogen, ein leiser Anflug von Ironie. Eines der siebenundvierzig Porträts von Marie-Francoise-Thérèse Martin, aufgenommen am Ostermontag 1895 von ihrer Schwester Céline. Im Mai 1897, vier Monate vor Thérèses Sterben, zeigt man ihr ein neues Foto. Schön, nicht wahr? „Ja, aber“, sagte Thérèse, „das ist der Umschlag; wann wird man den Brief sehen? Oh wie gerne möchte ich den Brief sehen!“ Als hätte sie den Satz des evangelischen Theologen Fulbert Steffensky gekannt: „Heilige sind Briefe aus der Ferne, die einem helfen, die Gegenwart zu lesen und zu erkennen, was sie hat und was ihr fehlt.“ Thérèse von Lisieux hatte Witz, Intelligenz und eine gesunde Prise Lust am Widerspruch. Eine ihrer Lieblingswendungen zeitlebens war Oui mais, „Ja aber…“. Frömmigkeit hatte sie auf ihre ganz persönliche und im höchsten Maße angefochtene Art. Aus der ersten Reihe der Theologen nach dem II. Vaticanum hat Karl Rahner recht unverblümt verlauten lassen, dass ihm vieles an dieser Heiligen und ihren Schriften „widerwärtig“ sei, oder es habe ihn einfach gelangweilt. Mit Respekt spricht Rahner allerdings von ihrem Sterben. Hans Urs von Balthasar sieht in der „kleinen Therese“ eine „große Heilige für unsere Zeit“. „Heilmittel der Barmherzigkeit“ Foto: Imago / Kharbine-Tapabor Die Bibliothek der Thérèse ist schmal. Was auf dem kleinen Tisch einer Zelle eben Platz findet: ein Neues Testament, Thomas von Kempens „Nachfolge Christi“, die Schriften des Johannes vom Kreuz. Bücher waren nicht die Sache der jüngsten Kirchenlehrerin der römisch-katholischen Kirche. „Ich finde nichts mehr in den Büchern, das Evangelium genügt mir... O, wie würde ich mich ärgern, hätte ich all diese Bücher gelesen!“ Aber sie hat gerne geschrieben, nicht nur ihre Autobiografie sondern auch kleine Theaterstücke, in denen sie dann die Hauptrolle spielte. Und Gedichte. Ihre poetischen Bilder über die Morgenröte und über den Frühling haben wahrscheinlich sechzig Jahre später ihren Verehrer Johannes XXIII. inspiriert, der diese Begriffe signalhaft in seiner Rede zur Konzilseröffnung verwendete. Ganz im Geist von Thérèses „Lehre“ ist in dieser Rede ja auch der Satz, dass der Kirche „das Heilmittel der Barmherzigkeit“ besser anstehe „als die Waffen der Strenge“. Der tschechische Theologe Tomáš Halík begrüßte 1997 – hundert Jahre nach Thérèses Tod – ihre Erhebung zur Kirchenlehrerin. Eine ihrer Lehren ist die Erfahrung der Gottesferne. Während der letzten zwei Jahre ihres Lebens irrt sie oft monatelang durch die Wüste der inneren Trockenheit, bis ihr nur mehr der Platz am Tisch mit den Nichtglaubenden bleibt, oft findet sie sich in einer erschreckenden Gedankennähe zur Blasphemie: „O, wenn Sie wüssten, was für abscheuliche Gedanken mich dauernd bedrängen, das Räsonieren der schlimmsten Materialisten zwingt sich mir ... Ich glaube nicht mehr an das ewige Leben – alles ist verschwunden, es bleibt nur mehr die Liebe.“ Sie steht vor einer „bis zum Himmel ragenden Mauer“ oder in einem dunklen Tunnel, von dem sie nicht weiß, ob er am Ende ins Licht führt. Wie bei anderen Mystikerinnen siegt bei Thérèse die Erkenntnis, die Seele dürfe nicht aufhören, sogar „ins Leere hinein zu lieben, sei es auch mit dem winzigsten Teil ihrer selbst.“ (Simone Weil) Darin sieht Tomáš Halík „Botschaften des Himmels“ und Nötigeres als mehrbändige Dogmatiken. Wenn schon von Wissenschaft die Rede sein muss, ist es bei Thérèse von Lisieux die „Wissenschaft der Liebe“. Eine theologia cordis gegen eine Denk- und Männertheologie. Sie erkennt visionär, dass die Kirche nicht nur einen Kopf, sondern vor allem ein Herz hat, die Liebe. Dort behauptet Thérèse Martin ihren Platz, mag es den Strukturreformern gefallen oder nicht. Oder jenen, die „ Die Kirche, so Tomáš Halík, müsse Thérèses Erfahrung des Unglaubens neu interpretieren, das Verlassensein von Gott als ‚Sitzen an einem Tisch mit den Ungläubigen‘ deuten. “ mit Thérèses „kleinem Weg“, der Konkretisierung ihrer „Wissenschaft der Liebe“, nichts anzufangen wissen. Denen der Ausspruch vom „Seele retten“ durch das Aufheben einer Stecknadel ein belächelter Kalenderspruch ist. Doch weder Schmerz noch Zweifel konnten ihrem Selbstbewusstsein etwas anhaben. Als Frau fühlt sie „die Berufung zum Priester, zum Apostel, zum Krieger, zum Kirchenlehrer“, wie sie Am 2. Jänner jährte sich der Geburtstag der Kirchenlehrerin Thérèse von Lisieux zum 150. Mal. Annäherung an eine außergewöhnliche Heilige. Hell in der Finsternis GLAUBENSFRAGE Die Vergangenheit verändern 1896 schreibt, „ich möchte den Menschen Licht bringen, wie die Propheten es taten“. Sie will alles – und möglichst rasch. Statt der mühsamen Himmelsstiege möchte sie lieber den modernen Aufzug nehmen. Atemlos und oft voller Angst vor dem Ersticken. Das ist Thérèse. Nach Tomáš Halík erteilt Thérèse auch der heutigen Kirche eine Lektion. Diese müsse die Erfahrung des Unglaubens neu interpretieren, das Verlassen sein von Gott als „Sitzen an einem Tisch mit den Ungläubigen“ deuten. Sich mit diesen zu solidarisieren, war Thérèses umstürzender Gegenpol zur Haltung einer Kirche, die in erster Linie die Sicherung des Glaubens vor Augen hat. Erbarmen: Gottes sichtbarste Gegenwart Auf die kürzeste Formel gebracht, heißt die Botschaft des Lebensbriefs der Thérèse von Lisieux: Erbarmen ist die sichtbare Gegenwart Gottes. Aktuell sind die Markierungen des „kleinen Weges“ in der Um- und Mitwelt dringend gefragt: Achtsamkeit, Zärtlichkeit, Machtverzicht und Vergebung. In der Zielgeraden ihres Lebens hat Thérèse noch eine Liebesgeschichte – wenn auch in örtlicher Distanz – erlebt. Von der klugen Priorin war sie zwei jungen Missionaren als Gebets- und Briefpatin zugeteilt worden. Während sie selbst in höchsten Nöten war, bestärkt und ermutigt sie in zwölf kostbaren Briefen den einen der beiden, den unglücklichen und von Schuldgefühlen und Zweifeln gequälten Maurice Bellier, ihren „ganz lieben kleinen Bruder“, auf die zärtlichste Weise. Sie schickt ihm sogar ein Foto und entschuldigt sich, dass sie eine „vornehme Miene aufgesetzt“ hätte, „normalerweise“ sehe sie freundlicher aus. „Meine Seele aber wird nicht aufhören, Ihnen zuzulächeln, wenn sie nah bei Ihnen sein wird.“ Im Antwortbrief fürchtet der unglückliche Maurice, dass Jesus ihr, Thérèse, dann im Himmel „von allem Elend und Kummer erzählen“ werde, den er Jesus bereite: „Schließen Sie Jesus dann gleich den Mund, und kommen Sie, denn ohne sie halte ich nicht durch.“ Umgehend antwortet Thérèse: „Ich werde Jesus sicher nicht die Hand auf den Mund legen müssen … kriechen Sie doch nicht mehr vor seine Füße, sondern folgen Sie dem Schwung, der sie in seine Arme zieht. Dort ist Ihr Platz.“ Belliers letzter Brief an Thérèse ist mit 2. Oktober 1897 datiert, da ist sie bereits den dritten Tag tot. „Oh, wenn Sie wüssten“ schreibt er, „wie sehr Ihr Bruder es nötig hat, zu wissen, dass sie bei ihm sind.“ Der Autor ist Publizist und war bis 1999 Leiter der Religionsabteilung im ORF-Radio. Von Mouhanad Khorchide Die meisten von uns haben im Jahr 2022 – wie in jedem anderen Jahr – nicht nur positive, sondern auch negative Erfahrungen durchlebt. Manche trösten sich damit, indem sie sagen: Wir müssen akzeptieren, dass wir die Vergangenheit nicht mehr verändern können, daher hat es keinen Sinn, nach hinten zu schauen. Dem widerspreche ich. Wir können sehr wohl die Vergangenheit verändern – wenn wir unseren Blick auf sie verändern. Statt in ihr nur das Hässliche zu sehen, sollten wir dankbar für die wertvollen Möglichkeiten sein, die sie uns geschenkt hat, daraus zu lernen und daran zu reifen. Auch die schwersten Zeiten sind Lernorte sowie Reibungsflächen, an denen wir wachsen können, aber nur dann, wenn wir sie aus diesem lernenden Blick betrachten. Viele Verletzungen, die wir in uns tragen, gehen auf Ereignisse in unserem Leben zurück. Wir schleppen sie wie schwere Steine in einem Sack mit uns herum und öffnen diesen Sack immer wieder, sobald wir uns gekränkt oder benachteiligt fühlen. Solange wir so viel Ballast an Verletzungen mit uns tragen, besteht die Gefahr, dass wir bei jeder uns irritierenden Situation überreagieren und negativen Emotionen freien Lauf lassen. Aus dieser Schleife können wir uns nur befreien, wenn es gelingt, uns mit unserer Vergangenheit zu versöhnen. Auch Menschen, die uns verletzt oder Unrecht getan haben, sind oft nur Opfer von emotionalem oder physischem Missbrauch gewesen. Ihr Handeln ist oft eine Art Hilferuf, der sich nicht gegen uns richtet, sondern Ausdruck innerer Verletzungen ist. Gott das Richten zu überlassen, entlastet unsere Beziehungen zu anderen und schafft eine gesunde Grundlage für mehr Harmonie und vor allem für Vergebung und Versöhnung. Vergebung befreit, denn sie befreit unsere Herzen von Gefühlen der Rache, des Hasses oder des Grolls. Der Autor leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Uni Münster.
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