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DIE FURCHE 04.07.2024

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DIE FURCHE · 27 8 International 4. Juli 2024 Rekrutierung Ukrainische Männer im kampffähigen Alter stehen im Korridor eines Rekrutierungsbüros. An den Wänden hängt ein Plakat, auf dem es heißt: „Es ist ein ehrenhafter Beruf, sein Vaterland zu beschützen.“ Von Jan Opielka • Warschau Am 18. Mai trat in der Ukraine ein Gesetz in Kraft, das viele Ukrainer, die in europäischen Ländern leben, beunruhigt. Die Regierung in Kiew hat verfügt, dass sich alle männlichen Staatsangehörigen im wehrfähigen Alter von 18 bist 60 Jahren registrieren, beziehungsweise ihre bereits hinterlegten Angaben aktualisieren müssen. Auch dann, wenn sie im Ausland leben. 60 Tage Zeit haben sie dafür erhalten, also bis Mitte Juli. Tun sie das nicht, drohen Strafen. Der Schritt bedeutet noch nicht die Mobilisierung, aber er wirkt sich direkt auf diese Männer aus. Die meisten können sich zwar auch aus dem Ausland über ein Onlineportal registrieren lassen. Doch wenn jemand etwa vor dem Armeeeinzug geflüchtet ist, kann er die Registrierung nur noch in der Ukraine vornehmen, worauf er das Land in der Regel nicht mehr verlassen darf. Die Ausreise untersagt Auch neue Pässe werden in Konsulaten im Ausland nur noch an Männer ausgestellt, die sich registriert haben. Bereits wurden Fälle bekannt, in denen Ukrainern, die schon lange vor Kriegsausbruch im Februar 2022 im EU- Ausland lebten, nach Besuchen in der Heimat die Ausreise untersagt wurde, anders als noch vor Verabschiedung des Gesetzes. Doch nicht nur die Regierung in Kiew macht Druck. Auch manche europäische Regierungen zeigen sich offen, die ukrainischen Behörden bei einer etwaigen Rekrutierung dieser Männer zu unterstützen. So auch in Polen, wo so viele Ukrainer leben wie sonst nirgends in der EU. 370.000 sind bei der staatlichen Sozialversicherung registriert. Das Gros von ihnen ist zum Teil lange vor dem Krieg hierhergezogen, und für Lesen Sie das FURCHE- Dossier „Krieg und Frieden“ mit zahlreichen Analysen zum Krieg in der Ukraine auf furche.at. Nirgends in der EU leben so viele Ukrainer wie in Polen – Männer, die in der ukrainischen Armee dringend gebraucht werden. Der Druck auf sie wächst. Aus Kiew, aber auch aus der polnischen Politik und Gesellschaft. Der Kampf mit dem eigenen Gewissen die Mehrheit von ihnen dürfte die ukrainische Wehrpflicht gelten. Auch der 33-jährige Roman Tkaczenko* könnte im Fall der Mobilisierung auf keine der gesetzlichen Ausnahmen – wie sie beispielsweise für Väter kinderreicher Familien oder von Kindern mit Behinderung oder schwerer Krankheit gelten – zurückgreifen. Der liierte, aber kinderlose Informatiker lebt seit rund zwölf Jahren in Polen. Er kam zum Studium hierher und arbeitet inzwischen für ein internationales Unternehmen, spricht fließend Polnisch. „ Ich glaube jedenfalls nicht, dass es ein Menschenrecht auf soziale Sicherheit gibt, wenn man sich der Einberufung entzieht. “ Polens Außenminister Radoslaw Sikorski im Guardian Im Gespräch erzählt Tkaczenko, dass er seit Jahren bei der zuständigen Armeestelle in der Ukraine registriert sei. Doch bis auf Weiteres würden Männer wie er „nicht gebraucht“, wie er glaubt. „Ob ich selber an die Front gehen würde, wenn ich einen Bescheid erhielte? Das werde ich abwägen, wenn es so weit sein sollte“, sagt er. „Ich könnte bereits heute freiwillig in die Armee eintreten, aber ich tue es nicht, weil meine Familie hier ist, ich hier arbeite, die Wohnung meiner Mutter in Polen finanziere und ich vorhabe, in dem Land auf Dauer zu bleiben.“ Im Falle des Falles, sagt Tkaczenko, würde er auch erwägen, seine ukrainische Staatsbürgerschaft abzugeben. Und wenn Polen ihn nicht einbürgern wolle, würde er womöglich nach Deutschland oder Nordamerika gehen, wo Verwandte lebten. Die Gesetzesverschärfung durch Kiew sieht er als „politisches Manöver“, das vor allem die Bevölkerung gegen die im Ausland lebenden Landsmänner aufbringen solle – daher habe sich die Regierung durch die Maßnahme „diskreditiert“, findet Tkaczenko. Denn für die im Ausland lebenden Ukrainer sei es weiterhin in erster Linie „ein Kampf mit dem eigenen Gewissen“, wie er es nennt: „Muss ich in den Krieg oder nicht? Was tue ich selbst dafür, dass die Ukraine gewinnt?“ Dies seien die Fragen, die darüber entschieden, ob man nachts ruhig schlafe. Doch viele Ukrainer in Polen schlafen derzeit noch aus einem weiteren Grund nicht ruhig. Denn Polens Verteidigungsminister Władysław Kosiniak-Kamysz hat bereits Ende April angekün- Foto: Getty Images / AFP / Sergei Supinsky Soldatenethos als Maxime digt, Kiew bei der Rekrutierung von Ukrainern helfen zu wollen. „Die ukrainischen Bürger haben Erklärbar macht dies zum einen wohl eine verbreitete Angst davor, dass Russland dereinst Pflichten gegenüber ihrem Staat“, auch Polen angreifen könnte. ließ er verlauten. Polen sei in der Lage, „der ukrainischen Seite dabei zu helfen“, dass Dienstpflichtige in die Ukraine zurückkehren. In einem Interview mit dem britischen Guardian wurde Polens Außenminister Radosław Sikorski sogar noch deutlicher: „Die Ukraine muss uns sagen, was sie will, dass wir mit ihren Bürgern tun“, sagte er. „Ich glaube jedenfalls nicht, dass es ein Menschenrecht auf soziale Sicherheit gibt, wenn man sich der Einberufung entzieht.“ Nach der Rückkehr an die Front In Polen kam die Botschaft bei vielen Ukrainern an. Der 47-jährige Oleg Kowalczuk* etwa wirkt innerlich zerrissen. Er stammt aus Saporischschja im Südosten der Ukraine und kam kurz vor Kriegsbeginn im polnischen Industrierevier Oberschlesien an. Er fühle sich orientierungslos, sagt er im Gespräch mit der FURCHE, obwohl er eine feste Arbeit in einem Industriebetrieb und eine Wohnung habe. Und obwohl auch seine Frau und seine Kinder mit ihm hier seien. „Ich habe in der Ukraine nichts, wohin Oder zum anderen auch die kriegsreiche geschichtliche Erfahrung, die in Polens Gesellschaft einen positiven Kampfund Soldatenethos verankert hat. Druck auf die Ukrainer kommt hierzulande aber auch von vielleicht unerwarteter Seite. Von den vielen ukrainischen Frauen nämlich, deren Männer in der Heimat an der Front kämpfen. Nicht alle fassen ihre diesbezügliche Position so verständnisvoll wie Halyna Khalymonyk auf. Die aus dem südwestlichen Odessa stammende Frau ist alleinstehend und lebt seit Beginn des Krieges mit ihrer Tochter und ihrer Nichte in Polen. „Als im Ausland lebender Mensch bin ich nicht in der Lage, über diejenigen zu urteilen, die Angst haben, im Krieg zu kämpfen“, sagt sie. „Meine Helden sind jedoch eindeutig die tapferen ukrainischen Männer, die die Kraft und den Mut haben, sich der russischen Aggression zu stellen.“ Mittlerweile sind Stimmen wie jene Khalymonyks in Polen oft zu hören. Sie verstärken die Zerrissenheit von Tausenden Ukrainern, die sich in Polen ein Leben aufgebaut haben. ich zurückkehren kann“, sagt Kowalczuk. Er erzählt von einem Be- *Name geändert kannten, der aus Polen in die Ukraine zurückgekehrt und dort an die Front geschickt worden sei. „Ich habe telefonischen Kontakt mit ihm gehalten, doch seit ein paar Wochen kann ich ihn nicht mehr erreichen“, sagt er. Das Schlimmste sei, sagt Kowalczuk, dass in der Ukraine ein Krieg „zwischen Brüdern“ ausgefochten werde. Dort lebten Ukrainerinnen und Ukrainer; Russinnen und Russen schließlich immer schon zusammen, „das war bei uns alles vermischt“. Kowalczuk will nicht zurück. Denn er glaubt nicht, dass er dann wiederkommen würde. Er ist kräftig gebaut und wirkt gesund. Aber erzählt, dass er viele Nächte damit verbringe, mit anderen Ukrainern zu trinken. „Nicht aus Lust“, sagt er, „aus Verzweiflung“. Oleg Kowalczuk ist nicht der einzige Verzweifelte. Die Zahl der Anträge auf internationalen Schutz, den ukrainische Männer stellen, ist bereits im ersten Quartal 2024 gegenüber dem Vorjahreszeitraum auf das Vierfache gestiegen. Gemäß aktueller Gesetzgebung, die erst Mitte Mai um eineinhalb Jahre verlängert wurde, sind ukrainische Staatsangehörige den Polen und Polinnen in vielen Bereichen gleichgestellt. Mit über 60 Prozent ist etwa die Erwerbsquote von Ukrainern in Polen die höchste aller EU-Staaten. Und dennoch: Gemäß einer aktuellen repräsentativen Umfrage befürworten gut 50 Prozent der Polen, dass Polen „Personen in die Ukraine zurückschicken sollte“, die von der Armee mobilisiert werden.

DIE FURCHE · 27 4. Juli 2024 Religion/International 9 Böse Erinnerungen, dunkle Vorahnungen: Warum ausgerechnet das Beispiel des ersten Katholiken im Präsidentenamt, John F. Kennedy, Biden eine Warnung sein sollte. Desaströse Debatte Das erste TV-Duell mit Herausforderer Donald Trump lief für Amtsinhaber Joe Biden so schlecht, dass selbst Demokraten laut über einen Kandidatentausch nachdenken. Von Andreas G. Weiß S ie war mit Spannung erwartet worden – die erste Live-Konfrontation zwischen den beiden de-facto-Kandidaten der US-amerikanischen Großparteien zur US-Wahl 2024. Die Nerven waren auf beiden Seiten sichtbar angespannt. Joe Biden und Donald Trump hatten im Vorfeld strenge Vorgaben für die heuer anstehenden Fernsehduelle gefordert, nachdem die beiden vor der letzten Wahl 2020 vor den Bildschirmen mehrfach aneinandergeraten waren. Bei dem höchst angriffigen Duell zweier alter Herren, die um ihr politisches Überleben ringen, dies aber als große Sorgenschlacht um das Wohlergehen und die Zukunft der Nation Under God inszenierten, gab es letztlich einen klaren Sieger. Und der hieß Donald Trump. Überhaupt scheint derzeit alles dem Rechtspopulisten in die Hände zu spielen, nachdem der Supreme Court Trump teilweise Immunität vor Strafverfolgung zugesprochen hat. „ Joe Biden, erst zweiter Katholik im Oval Office, läuft Gefahr, all seine verbliebenen Siegchancen an einem einzigen Abend verspielt zu haben. “ Biden hingegen wirkte im Duell mit seinem Kontrahenden angeschlagen: Nicht nur, dass er Personen, Zahlen und Ereignisse verwechselte, Sätze grammatikalisch nicht zum Funktionieren oder gar ohne jeglichen Inhalt zu Ende brachte. Zudem war eine Erkältung deutlich hörbar. Der republikanische Immobilientycoon Trump hätte eigentlich nicht einmal seine zahlreichen unwahren Anschuldigungen, „alternativen“ Wirtschaftsfakten (gemeint sind schlichtweg falsche Statistiken) oder Frontalangriffe auf Bidens Alter auspacken müssen, um dieses Duell für sich zu entscheiden. Joe Biden demontierte sein staatsmännisches Auftreten ohne viel Zutun selbst. Auf demokratischer Seite jedenfalls herrschte nach dem ersten Duell Krisenstimmung – und dunkle Erinnerungen aus der US- Geschichte bahnten sich bereits kurz nach der Ausstrahlung ihre Wege in das Bewusstsein so mancher Parteistrategen. So dachten namentlich nicht genannte Vertreter laut darüber nach, dem 81-Jährigen doch noch die Kandidatur zu entziehen, selbst Vizepräsidentin Kamala Harris fand nach dem peinlichen Auftritt unerwartet klare Worte: Es sei ein mehr als „holpriger Start“ gewesen – was im Grunde immer noch ein freundlicher Euphemismus für das gerade Erlebte war. Joe Biden, erst zweiter Katholik im Oval Office nach John F. Kennedy, läuft Gefahr, all seine verbliebenen Siegeschancen an einem einzigen Abend verspielt zu haben. Erschöpfter Präsident Die Erinnerung an Kennedy ist dabei nicht unwesentlich: Hatte dieser doch ausgerechnet im ersten TV-Duell der Geschichte der US-Wahlen am 26. September 1960 gegen einen kränkelnden Richard Nixon gewonnen und dem republikanischen Kontrahenten entscheidende Beliebtheitspunkte abgenommen. Bidens Auftritt erinnerte gleich mehrfach an den glücklosen Auftritt des späteren „Watergate“-Skandalpräsidenten. Auch Nixon lieferte rhetorische Leichtkost, wenige publikumswirksame Argumente und verließ sich offenbar auf sei- Bidens Kennedy- Albtraum nen Umfrage-Vorsprung. Zudem erschien er schlecht rasiert, ungeschminkt, begann während des Duells stark zu schwitzen und wirkte mit seinem hellbraunen Anzug vor der farbgleichen Studiowand im damaligen Schwarz- Weiß-Fernsehen wenig sichtbar. Solche Missgeschicke im Erscheinungsbild unterliefen Biden zwar nicht, aber er wirkte erschöpft. Ja, müder als sonst. Eigentlich wollten die Demokraten ihren Kandidaten als staatsmännische Alternative zum „ Seine politische und religiöse Gegnerschaft arbeitet gemeinsam am Bild des wenig zurechnungsfähigen Greisen im Präsidentschaftsamt. “ rechtspopulistischen Bulldozer Trump darstellen. Nun ist zu befürchten, dass Bidens Auftritt jenen Kreisen Aufwind bietet, die ihm schon seit Jahren präsidiale Unfähigkeit attestieren. Nicht zufällig decken sich diese Gruppen mit jenen republikanischen Lagern, die in den vergangenen Monaten auf religionspolitischer Ebene einen traditionalistischen Frontalkurs eingeschlagen haben. Die umstrittenen Gesetze in Oklahoma, wonach in öffentlichen Schulen verpflichtend Unterricht auf Basis der Bibel eingeführt werden soll, sowie im US-Bundesstaat Louisiana, in dem seit neuestem in allen Klassenräumen die Zehn Gebote ausgehängt werden müssen, weisen die Richtung, die sich gerade rechtskonservative Wählerschichten von einem Scheitern Joe Bidens erwarten: Der religionspolitische Kampf in den Vereinigten Staaten verlagert sich zunehmend auf Themen abseits der Abtreibungsdebatte, die populistisch ausgerichteten Rechtsformen, mit denen die Trennung von Kirche und Staat Foto: APA / AFP / Mandel Ngan Lesen Sie dazu den Text von Andreas G. Weiß „Joe Biden, der ‚schwere Sünder‘?“ (21.11.2021) auf furche.at. umgangen werden soll, werden einfallsreicher. Zwar ist es sehr unwahrscheinlich, dass solche christlich-traditionalistischen Rechtsprechungen einzelner Bundesstaaten vor dem Obersten Gerichtshof bestehen würden, dennoch werden damit gerade in Wahljahren gezielt republikanische Pfeilspitzen und rechtskonservative Duftmarken in der US-Gesellschaft gesetzt. Joe Biden bläst nun ein rauer Wind um die Ohren: Jedes Anzeichen von Schwäche, jedes Fettnäpfchen, in das Präsident Biden in den kommenden Wochen tritt, wird geradewegs gegen seine Person beziehungsweise seine Führungsqualität ausgelegt werden. Er kämpft an mehreren Fronten, die nicht zuletzt auch mit seinem persönlichen Glauben zu tun haben: Nicht nur sein Alter, seine Gesundheit oder sein nicht immer felsenfest sitzendes Auftreten kratzen an seinem Image, sondern auch der Vorwurf, dass seine liberale Politik seinem katholischen Bekenntnis diametral entgegenstünde. Umso bedrückender erscheint dies, weil kein Geringerer als Kennedy im Wahlkampf 1960 immer wieder auf die strikte Trennung zwischen seiner politischen Haltung und seiner katholischen Identität hinwies – und damit entscheidend gegen Vorbehalte aus dem konservativen protestantischen Lager punkten konnte. Spiel mit der Angst 64 Jahre nach dieser religionspolitischen Taktik Kennedys, haben sich die Zeiten geändert. Joe Bidens Lage vor dem amerikanischen Wahlherbst stellt sich als äußerst schwierig dar: Seine politische und religiöse Gegnerschaft arbeitet gemeinsam am Bild des wenig zurechnungsfähigen Greisen im Präsidentschaftsamt. Jede Entscheidung, die Biden fällt, wird in dieses Narrativ eingesponnen werden. Auf diese Weise spielen die politischen Kontrahenten Bidens mit einer Ur-Angst eines jeden politischen Systems, nämlich mit der Vorstellung eines Machthabers, der seiner Aufgabe und der Verantwortung nicht (mehr) gewachsen ist. Trump spielt diese Karte, obwohl mit 78 nur unwesentlich jünger als Biden, seit Jahren aus – ein Auftritt, wie ihn Biden im ersten TV-Duell hingelegt hat, kann in dieser Hinsicht als nichts anderes als eine direkte Steilvorlage für Trump gewertet werden. Der Autor ist katholischer Theologe und Kenner der US-Politik in Salzburg.

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