DIE FURCHE · 27 24 4. Juli 2024 Selma Jahić überlebte als Kind den Völkermord in Srebrenica. Ehrenamtlich ordnet sie nun die Vergangenheit ihrer Heimat – um aufzuklären und solche Gräuel in Zukunft zu verhindern. Voller Zittern, Bangen und Hoffen Von Manuela Tomic MOZAIK Tohuwabohu In meinem Kopf herrscht Irrsal und Wirrsal. Wenn ich als Schülerin an der Tafel Formeln verwirrte, schrie der Mathelehrer: „Tomić, wo ist deine Logik? Etwa im großen Zeh?“ Ich weiß nicht, ob ich Herrn Zeh siezen oder duzen soll, aber der große schmerzt mich seit einigen Tagen. Langsam, aber sicher robbt sich der Ballenzeh (Hallux valgus) in Richtung seines linkischen Zwillings. „Die verzärtelten Zehen hast du von deiner Oma“, sagt Mutter, „die schielenden Knie von deinem Vater.“ Seit kurzem nehme ich Tanzstunden und verwechsle meine Hände mit den Füßen, den Kopf mit den Knien. Nur die Zehen zeigen zum Ziel. Abends redet mein Mund und raucht mein Kopftopf. Mein Freund kocht das Essen. Er bittet mich, eine Zwiebel zu schälen, ich zerhacke zehn Knoblauchzehen. Nach dem Abwasch klettere ich wie ein Äffchen auf den Schornstein. „Machst du Kärntner Kuddelmuddel?“, ruft mein Freund aus dem Fenster. „Nein, ich koche Tohuwabohu“, schreie ich und schreibe mit den Zehen. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Die Kolumnen gibt es jetzt als Buch! Illustration: Rainer Messerklinger Foto: Privat Lesen sie dazu auch den Text „Tag der weißen Bänder“ in Prijedor: Das ist der Krieg“ von Vedran Dzihic (8. Juni 2022) auf furche.at. Die sechsjährige Selma Jahić mit ihrer Mutter. Dieses Foto wurde ein Jahr vor dem Genozid in Srebrenica von einem UNPROFOR-Soldaten geschossen. Der Soldat wurde nur wenig später versetzt. Von Wolfgang Machreich Ihr erster Eindruck in Wien nach der Flucht aus Srebrenica sind Nonnen und ein Kreuz an der Wand – und die sechsjährige Selma Jahić gerät in Panik: „Das war für mich immer das Symbol des Bösen“, erklärt sie heute ihre Reaktion. Damals, wenige Wochen nach dem Völkermord in Srebrenica am 11. Juli 1995, kam sie mit Berichten von Misshandlungen ihrer bosnischen Landsleute, Verwandten, Nachbarn in serbischen Konzentrationslagern nach Österreich. Besonders die Nachricht, dass bosnischen Gefangenen Kreuze auf ihre nackten Rücken geschlagen wurden, hatte sich in den Kopf des Kindes eingebrannt. Und dann steht sie an der Hand ihres Vaters im Kloster der Karmelitinnen in Hietzing, voller Angst in den Augen, und sieht nur freundliche Gesichter, erlebt nur Herzlichkeit, erhält von den Klosterschwestern Süßigkeiten, Schulsachen: „Wir haben das überhaupt nicht erwartet, dass es so gutherzige Menschen gibt, die waren überglücklich, dass wir es heil aus Bosnien rausgeschafft haben“. Ankommen in Österreich Als zur Vorbereitung des serbischen Angriffs Anfang 1995 die Grenzen zu Bosnien dicht gemacht wurden, arbeitete ihr Vater in Belgrad; er floh nach Österreich und wurde von den Karmelitinnen im Kloster St. Josef aufgenommen, beim Fuß fassen in Wien unterstützt und gemeinsam haben sie für die Rettung der Familie gebetet. Nach mehr als einem halben Jahr ohne Kontakt und voller Zittern, Bangen, Hoffen konnte Vater Jahić seine Frau, Selma und ihren jüngeren Bruder wieder in die Arme nehmen. „Also ohne diese Nonnen, ich weiß nicht, was gewesen wäre, wir sind bis heute mit ihnen befreundet, besuchen sie regelmäßig“, beschließt Selma Jahić die Erzählung von ihrem Ankommen in Österreich – und beschreibt damit den roten Faden ihres Lebens: Das damals als Sechsjährige Erlebte und Überlebte ist nicht vergessen, nicht in eine Ecke der Biographie verräumt und hat keine Bedeutung mehr, sondern wird von der heute Mitte-30-Jährigen als Aufgabe verstanden, der sie sich stellt. Nach einer Ausbildung in Mediengestaltung, arbeitete Jahić im Marketing einiger Firmen; seit sechs Jahren ist sie bei der Bundesbeschaffung GmbH tätig, viel im Außendienst unterwegs, und es klingt so, als hätte die Wienerin ihre berufliche Heimat gefunden: „Ich wollte immer was machen, was sinnstiftend ist, und für den Staat zu arbeiten, dass der gut funktioniert, das macht für mich viel Sinn.“ Sinnstiftend ist auch Jahićs ehrenamtliches Engagement. Widmet sie sich in ihrem Beruf quasi dem Mobiliar und der Ausstattung der Republik Österreich, ordnet, sortiert und erklärt sie in ihrem „Herzensprojekt“ die Kriegsvergangenheit ihrer ersten Heimat Bosnien und Herzegowina. Für die Generation ihrer Eltern sei es nach wie vor schwer, über dieses Thema zu reden, sagt Jahić. Die erlebten den Krieg als Erwachsene, hätten ihn bis heute nicht verarbeitet: „Ich will auch nicht in Erinnerungen herumstochern, wenn sie nicht darüber reden wollen oder können. Deswegen übernehmen es wir Jungen, dieses Thema aufzuarbeiten, wir haben die Kraft dazu.“ Dass es diese Geschichtsarbeit dringend brauche, ist sie überzeugt: „Wir merken, wenn die Zeit nicht aufgearbeitet wird, geht nichts voran.“ Im Oktober finden Kommunalwahlen in Bosnien und Herzegowina statt. Vorwahlzeiten sind Propagandazeiten, beschreibt Jahić die Stimmungslage. Milorad Dodik, der serbischstämmige Präsident der Republika Srpska, eine der zwei Entitäten des Landes, lasse keine Gelegenheit aus, sein nationalistisch-kriegerisches Gedankengut unters Volk zu bringen und Rivalitäten zwischen den Volksgruppen zu schüren. „Da es keine wirtschaftlichen oder sozialen Erfolge gibt, geht es immer nur um den Nationalismus“, sagt Jahić. Dass ihre Einschätzung der politischen Gemengelage stimme, belegt sie damit, dass die meisten Familien in Bosnien und Herzegowina Waffen im Haus lagern. „Das ist auch kein Geheimnis, die meisten haben einfach immer noch Angst, die wollen nicht, dass es ihnen wieder wie in den 90ern geht.“ Für Jahić, die von ihren Verwandten und Bekannten dort immer wieder zu hören bekommt, sie könne leicht reden, sie lebe in Österreich, ist das eine traurige Situation: „Denn das heißt, die leben noch immer alle unter dem Stress, es könnte morgen was passieren.“ Um diesen Stresslevel zu senken, arbeitet Jahić an einem Projekt in Bosnien und Herzegowina, in dem junge Politikerinnen und Politiker aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen und Parteien an einen Tisch geholt werden, um Themen wie Umwelt, Frauenrechte oder Verbesserungen im Sozialsystem zu bearbeiten. Unterstützt wird das Projekt vom österreichischen Außenministerium und der US-Botschaft in Wien. Das Ziel, diese Art von „Runder Tisch“ wäre erreicht, sagt Jahić, „wenn die Jungen dort merken, sie können eigentlich zusammenarbeiten und etwas zum Positiven verändern, wenn sie wollen“. Innenpolitisches Kalkül „ Das waren keine fremden Menschen, die uns angegriffen haben, das waren unsere Nachbarn, unsere Freunde, unsere Klassenkameraden, unsere Lehrer. “ Als generell positives Zeichen, auch wenn es lange gedauert habe, kommentiert Jahić den Beschluss der UN-Vollversammlung im Mai, ab dem kommenden Jahr weltweit den 11. Juli als „Tag der Reflexion und des Gedenkens“ an den Völkermord von Srebrenica 1995 einzuführen. Dass die Resolution dazu nur mit 84 Stimmen bestätigt wurde, sich 68 Länder enthalten und 19 Staaten, an vorderster Stelle Serbien, Russland und China, dagegen waren, betrachtet sie „sehr nüchtern, denn dahinter steckt doch innenpolitisches Kalkül und es geht halt um die altbekannten Allianzen“. Wichtiger ist für Jahić, dass in Österreich bereits vor zwei Jahren eine Resolution zu diesem Thema verabschiedet wurde, alle Parteien einstimmig dafür stimmten. Daran anschließend möchte sie mit Gleichgesinnten das Gedenken an Srebrenica und generell das Thema Jugoslawien-Kriege stärker in die österreichischen Schulen bringen. In Jahićs Schulzeit erklärte ihr eine Klassenkameradin, der verurteilte Kriegsverbrecher Ratko Mladić sei ein netter Mensch gewesen und die Vorwürfe gegen ihn seien gelogen. „Da stand ich dann alleine da, die anderen hatten keine Ahnung, die Lehrer kannten sich auch nicht wirklich aus.“ Heute gehen ihr Neffe, ihre Nichte in Wien zur Schule, hängen mit serbischen Klassenkameraden ab, und sie möchte nicht, dass denen so eine Genozid-Leugnung passiert, sie genauso allein dastehen wie sie damals. „Vielen ist nicht im Bewusstsein“, sagt Jahić, „wie zerbrechlich der Frieden unter Menschen ist – das waren keine fremden Menschen, die uns angegriffen haben, das waren unsere Nachbarn, unsere Freunde, unsere Klassenkameraden, unsere Lehrer, das kann immer wieder passieren, das darf nicht mehr passieren.“
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE