DIE FURCHE · 27 20 Ausstellung 4. Juli 2024 Unbeschreibliches Elend und Lebenslust: Neue Sachlichkeit im Leopold Museum. Tanzende und Kriegsverletzte Von Theresa Steininger Kriegsverletzte und auf dem Vulkan Tanzende, küssende Knaben, Industrialisierung und Platz für Idylle: Die Neue Sachlichkeit hat viele Gesichter. Erstmals in Österreich zeigt das Leopold Museum eine umfassende Ausstellung zu dieser Kunstepoche, die nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland entstand. In einer Zeit, in der man das eben Geschehene aufarbeiten wollte, erschienen bisher bestehende Kunststile nicht mehr passend. Viele Tendenzen kamen auf. Doppelbildnis Gemälde von Max Beckmann (1884– 1950), 1923. Die neusachliche Art, die Welt abzubilden, setzte sich durch. Ihren Namen bekam sie nach der gleichlautenden Exposition von Gustav Friedrich Hartlaub in der Städtischen Kunsthalle in Mannheim. „Die traumatischen und abgründigen Erfahrungen des Welt- „ Die traumatischen Erfahrungen des Weltkrieges verlangten auf dem Gebiet der Kunst nach einer völlig neuen Darstellung der Wirklichkeit. “ Hans-Peter Wipplinger Foto: Städel Museum, Frankfurt am Main krieges verlangten auf dem Gebiet der Kunst nach einer völlig neuen Darstellung der Wirklichkeit“, beschreibt der Direktor des Leopold Museums, Hans-Peter Wipplinger, der die Schau kuratiert hat. „Resignation, Anklage und unbeschreibliches Elend auf der einen, Hoffnung, Sehnsüchte und aufkommende Lebenslust der sogenannten „Goldenen Zwanzigerjahre“ auf der anderen Seite sollten dieses Epochenphänomen auf eine neue Weise beschreiben – unsentimental, nüchtern, konkret und puristisch; kurz: auf eine sachlich realistische Art.“ Wipplinger hat für die Schau rund 150 Exponate zusammengestellt, darunter sind Arbeiten von Max Beckmann, Heinrich Maria Davringhausen, George Grosz und Carl Grossberg. Präsentiert werden ebenso die politisch ausgerichteten wie auch die klassisch-neuromantisch geprägten Tendenzen. Die Schau startet mit Darstellungen der Nachkriegswehen wie Käthe Kollwitz’ „Die Überlebenden“ oder Heinrich Hoerles „Drei Invaliden“. Schonungslos wird der Finger in Wunden gelegt, die der Krieg gerissen hat. Als krasser Gegensatz, wie er damals aber auch gelebt wurde, wirken gleich nebenan Bilder von Varietés und Clubs. Der graue Alltag des Wiederaufbaus sollte in den Vergnügungsstätten vergessen werden. Drastisch wirkt das alternde Liebespaar von Otto Dix, die liberale Einstellung zur sexuellen Orientierung zeigt exemplarisch „Küssende Knaben“ von Christian Schad. Wandel im Bild der Frau Selbst wenn nur rund ein Fünftel der Werke der Schau von Künstlerinnen kommen, möchte man zeigen, welchen Wandel das Bild der Frau zu dieser Zeit erlebte. Frauen werden in ihren Berufen gemalt, selbstbewusst und modern wirken sie – ob nun mit Bubikopf oder Hosenanzügen. Unter den Schöpfungen der ausgestellten Künstlerinnen sind auch solche von Lotte Laserstein und Jeanne Mammen, die in der Wiedergabe der „Neuen Frau“ auch ihren Weg suchten, die Annäherung der Geschlechter voranzutreiben. Dass die Zeiten herausfordernd waren, brachte manche Künstlerinnen und Künstler dazu, Idyllen erst recht eine Bühne zu bieten. Die bürgerliche Ordnung wurde auch in Zirkusbildern gebrochen, oft wirken die Realitäten wie kurz vor dem Kippen, wenn beispielsweise ein Pferd während des Kunststücks einen Dolch in der Brust stecken hat. Traurigkeit wurde hinter Masken von Artisten versteckt. Aber auch Blicke in die Welt der Industrialisierung und selbstbewusst präsentierte Arbeiter gehörten zu den Sujets. In der Folge zieht man die umfassende Retrospektive auch in jene Zeit weiter, in der es vielen Künstlerinnen und Künstlern unmöglich gemacht wurde, weiterhin schöpferisch zu wirken. Allen Bestrebungen nach der neuen künstlerischen Herangehensweise wurde 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein jähes Ende gemacht. Die Vertreterinnen und Vertreter der Neuen Sachlichkeit wurden als entartet bezeichnet, die Beschlagnahmung ihrer Werke stand auf der Tagesordnung. Am Ende der Ausstellung im Leopold Museum sitzt der „Orgelmann“ von Felix Nussbaum in der zerstörten Landschaft. Nussbaum hat das Werk gemalt, bevor er ins Konzentrationslager kam. Mit all diesen Werken wolle man, so beschreibt Direktor Hans-Peter Wipplinger, „einen breiten Eindruck der unterschiedlichen Strömungen der Neuen Sachlichkeit“ präsentieren und „auch Parallelen zu heute aufzeigen. Wir müssen uns bewusst sein, dass in Feldern wie KI und Globalisierung Skepsis angebracht ist.“ Was die Kunstströmung betrifft, die er nun mit zahlreichen Leihgaben aus privaten Sammlungen vorstellt, „wurde das Feld ja erst in den vergangenen Jahren richtig bearbeitet. Es gibt noch viel zu tun.“ Glanz und Elend – Neue Sachlichkeit in Deutschland 24.5.-29.9.2024, Leopold Museum, täglich außer Dienstag 10-18 Uhr, www.leopoldmuseum.org Tanz von Australien über Kolumbien nach Japan Sidi Larbi Cherkaoui / Eastman 3S 20. & 22. Juli, 21:00 Volkstheater 11. 7. – 11.8.2024 Sidi Larbi Cherkaoui / Eastman 3S © Filip Van Roe
DIE FURCHE · 27 4. Juli 2024 Film 21 FILMDRAMA Knapp vor der Absurdität Mit dem schwarzhumorigen „Kinds of Kindness“ bringt Regie-Meister Yorgos Lanthimos seine Stars Jesse Plemons und Emma Stone in haarsträubende Abhängigkeitsverhältnisse. Alle unter Kontrolle Von Matthias Greuling Dieser Mann will nichts als die völlige Kontrolle über seine Zuschauer. Yorgos Lanthimos, der mit seinem letzten Film „Poor Things“ den Goldenen Löwen gewann und vier Oscars brachte (u. a. für Emma Stone), drehte „Kinds of Kindness“ erneut mit Stone und Willem Dafoe, denn ein Siegerteam soll man nicht verändern. Thematisch geht Lanthimos – wieder gewohnt skurril – an seine Anfänge zurück: „Dogtooth“ (2009) scheint dabei eine wichtige Referenz zu sein. Darin hielt ein herrischer Vater seine drei erwachsenen Kinder wie Gefangene auf dem Familienanwesen, indem er ihnen weismacht, dass die Welt da draußen voller tödlicher Gefahren ist. Die Häufigkeit von Sex Auch „Kinds of Kindess“ zeigt so einen Tyrannen, in der ersten von drei Geschichten, die nicht viel miteinander zu tun haben, außer, dass die Besetzung in jeder der drei Geschichten in anderen Rollen zu sehen ist. In Kapitel eins ist es Dafoe, der einen bizarren Geschäftsmann spielt und seine Macht über seinen Mitarbeiter missbraucht: Robert (Plemons) gibt sich absolut untertänig gegenüber seinem Chef, der ihm alle Entscheidungen – von der Kleidung über das Essen bis hin zur Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs vorgibt. Als Robert es einmal wagt, aufzubegehren, kündigt ihn der Chef umgehend, ersetzt ihn durch Emma Stone und stürzt Robert damit ins Verderben, weil seine Frau Sarah (Hong Chau) ihm nun das Leben zur Hölle macht. Sie findet Robert rückgratlos und ist verärgert, dass sie ihr Lieblingsgeschenk des Chefs nun zurückgeben muss: Es ist ein zertrümmerter Tennisschläger von John McEnroe. Spätestens hier ist einem klar, dass man zu Gast ist in der Manege von Lanthimos’ absurdem Kuriositätenkabinett, in dem es in weiterer Folge auch noch um Wahnvorstellungen, völlige Besessenheit und Kannibalismus gehen wird. Aber da hat einen Lanthimos schon längst unter Kontrolle und lässt einen nicht mehr los. Wobei: Die erzählerische Leichtigkeit von „Poor Things“ ist seiner eher spröden Handschrift von „The Lobster“ oder „The Killing of a Sacred Deer“ gewichen – und macht „Kinds of Kindness“ zu einem durchaus schwierigen, überlangen Happen, der erst verdaut werden will. Zumal die titelgebenden „Arten von Freundlichkeit“ „ Zu Gast in der Manege von Lanthimos’ absurdem Kuriositätenkabinett: Darin geht es auch um Wahnvorstellungen, völlige Besessenheit und Kannibalismus. “ Machtspiele Ein schwer zu verdauender Film in drei Kapiteln: Zuneigung für Jesse Plemons gibt es von Willem Dafoe (rechts) und Margaret Qualley (links) zuletzt nur wohl dosiert. („Kinds of Kindness“) hier so freundlich nicht sind. In Kapitel zwei spielt Plemons einen geistig angeschlagenen Polizisten und Stone seine nach einer Hochsee-Expedition vermisste Ehefrau; es gibt Kontroll- Wahn und jede Menge „Body Horror“. Kapitel 3 zeigt die beiden als Sektenmitglieder auf der Suche nach einer Frau, die angeblich Tote auferwecken kann. Dafoe gibt den Sektenführer, der von seinen Anhängern totale Unterwerfung fordert und diese mit wohl dosierten sexuellen Handlungen belohnt. In dem famosen, furiosen und kantigen Werk von Lanthimos verortet man den Film, der seine Absurdität auch in dem kreischenden, disharmonischen Score von Jerskin Fendrix spiegelt, in der eher schwierig zu fassenden Ecke. Trotzdem ist „Kinds of Kindness“ genau wie alle anderen Lanthimos-Filme eine fesselnde Erfahrung. Der griechische Regisseur hat eben alle unter Kontrolle. Kinds of Kindness USA/GB/IRL 2024. Regie: Yorgos Lanthimos. Mit Emma Stone, Jesse Plemons, Hong Chau, Willem Dafoe. Disney. 165 Min. Was Popkultur-Zitate betrifft, so liebäugelt die sonst fest in der Gegenwart verankerte französische Romanverfilmung „Das Zimmer der Wunder“ heftig mit dem Kino der 1990er- Jahre. Das darin aufgestellte Motto lautete: „Das Leben ist wie ein EEG: Wenn’s kein Auf und Ab gibt, ist man tot“. Das Gespann im Mittelpunkt der Geschichte heißt Thelma und Louis, und auch hier entwickelt sich eine Art Roadmovie: Weil ihr sonst nichts mehr Hoffnung gibt, beschließt die Mutter eines jungen Koma-Patienten, die Punkte einer Bucket List abzuhaken, die ihr Sohn in seinem Skizzenheft notiert hat. Manches davon ist leicht zu erledigen, manches schier unmöglich, und die meiste Überwindung dürfte Thelma ein spezieller Punkt kosten: Louis wollte seinen leiblichen Vater finden. Japan, Portugal, die Shetlands: Die Produktion wirft einiges in die Waagschale, macht die Welt, ob nah oder fern, zu jener Wunderkammer, als die sich der Originaltitel des Buchs lesen ließe. Dem visuellen und musikalischen Niveau steht das emotionale eines besseren Fernsehfilms gegenüber: das Melodramatisch-Manipulative der Skateboard-Rollen, die sich nach dem Unfall noch drehen. Nicht eine, sondern viele benommene Zeitlupen. Oder – als besonderer Leckerbissen – ein Paketklebeband mit dem Aufdruck „Fragile“, falls jemand Thelmas inneren Zustand noch nicht mitbekommen haben sollte. Die Momente, in denen der Film andeutet, dass es anders, nämlich tiefsinniger, ginge, sind hier selten, und wenn, dann sind sie gut eingepackt in eine Reise der Erkenntnis, die es ernst meint – oft aber knapp davor steht, ins Absurde zu kippen. (Thomas Taborsky) Das Zimmer der Wunder (La chambre des merveilles) F 2023. Regie: Lisa Azuelos. Mit Alexandra Lamy, Muriel Robin. Panda Lichtspiele. 94 Min. Will ihrem todkranken Kind (Hugo Questel) noch viele Wünsche erfüllen: Thelma (Alexandra Lamy). FILMBIOGRAFIE Abbé Pierre auf der Leinwand: Eine moderne Heiligenvita Die Lebensgeschichte von Abbé Pierre (Benjamin Lavernhe) wird zum wuchtigen Film-Epos. Unter seinem richtigen Namen – Henri Antoine Grouès – kennt ihn niemand. Als Abbé Pierre firmiert er hingegen im kollektiven Gedächtnis. Dabei war dies der Nom de guerre in der Zeit der Résistance. Denn als Geistlicher in Vichy-Frankreich verhalf Grouès Juden oder anderen Verfolgten des NS – wie des Petain-Regimes zur Flucht. Da hatte der 1912 geborene Sohn eines Seidenfabrikanten schon einiges hinter sich: Als junger Mann tat er es dem Franz von Assisi gleich und entledigte sich seines Besitzes, um in radikaler Nachfolge ein Leben in Armut zu führen. Er trat bei den Kapuzinern ein, wurde 1938 zum Priester geweiht, musste aber, weil er nach dem Ausbruch einer Tuberkulose den Strapazen dieses kargen Lebens nicht mehr gewachsen war, den Orden verlassen, und war als einfacher Kaplan tätig. Die Kriegszeit politisierte den Priester, und nach 1945 war Abbé Pierre Parlamentsabgeordneter. Nationale Berühmtheit erlangte er im Kältewinter 1953/54, als zahllose Obdachlose in Frankreich erfroren. Mit der Aktivistin Lucie Coutaz gründete er die Organisation Emmaus, die sich um Obdachlose, Haftentlassene und andere Bedürftige kümmert und heute in 40 Ländern tätig ist. Bei seinem Tod 2007 war Abbé Pierre der beliebteste Franzose. Der französische Regisseur Frédéric Tellier setzt in der Film-Hagiografie „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“ dieser Jahrhundertgestalt ein Denkmal. Mit Bernard Lavernhe in der Titelrolle und Emmanuelle Bercot als Lucie Coutaz hat er die Protagonisten perfekt besetzt. Die zweieinviertel Stunden bieten ausführlich Gelegenheit, die Leistungen und Verdienste, aber auch die Tiefen und Zweifel dieses modernen „Heiligen“ breit und mit entsprechendem Pathos zu erzählen. Tellier folgt im Großen und Ganzen der Historie, aber das Narrativ ist das einer modernen Heiligenvita. Konflikte und (Glaubens-)Zweifel werden insoweit thematisiert, als Abgründe zum Leben eines großen Menschen gehören. Andere Unbequemlichkeiten – wie das Eintreten für die Priesterweihe von Frauen oder die Ablehnung des Pflichtzölibats für Priester, die von seiner Kirchenleitung nicht goutiert wurden – kommen im Film folgerichtig nicht vor. Man lernt hier viel über Abbé Pierre, aber der Nachgeschmack, hier werde eine männliche Mutter Teresa gezeichnet, bleibt. Diese ist bekanntlich längst eine Heilige der katholischen Kirche – wurde von Abbé Pierre aber ob ihrer Blindheit gegenüber den politischen Gründen für Armut ganz und gar nicht geschätzt. (Otto Friedrich) Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre (L‘Abbé Pierre: Une vie de combats) F 2023. Regie: Frédéric Tellier. Mit Benjamin Lavernhe, Emmanuelle Bercot. Einhorn. 138 Min.
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