DIE FURCHE · 27 2 Das Thema der Woche Der Staat und wir 4. Juli 2024 AUS DER REDAKTION Eigentlich wäre jetzt Ferienzeit. Eigentlich sollte man jetzt reisen – oder einfach die Spatzen pfeifen lassen. Doch es ist kein gewöhnlicher Sommer: Er liegt zwischen einer Europawahl, die die Extreme stärkte – und vor einem nationalen Urnengang im Herbst, der offene Feinde des „Systems“ an die Spitze spülen könnte. Umso wesentlicher ist, die Zeit für Reflexionen zur Stärkung des „Systems“, der liberalen Demokratie, zu nutzen. In der siebenteiligen Serie „Sommer der Demokratie“ möchten wir das – gemeinsam mit Christoph Konrath, Marianne Schulze und weiteren namhaften Denkerinnen und Denkern – tun. Ergänzt wird dieser Auftakt mit einem Fokus von Manuela Tomic auf das Phänomen Staatsbürgerschaft – samt Interview mit der Migrationsforscherin Judith Kohlenberger. Eine zusätzliche Facette bringt das Gespräch mit Othmar Karas ins Spiel, Co-Buchautor von Kohlenberger und scheidender Erster Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Dass extreme Rechte erstarken, sieht er als Folge des Versagens der Mitte. Wie sehr sich dies auch derzeit in den USA zeigt, beschreibt Andreas G. Weiß im Kompass. Hier finden Sie auch Näheres über den jüdisch-christlichen Dialog – und ein Interview mit der Fußballerin Viktoria Schnaderbeck. Bei der EM sind wir im Out, in der Literatur aber war und ist DIE FURCHE durch Brigitte Schwens-Harrant im Zentrum. Sie wurde einmal mehr zur beliebtesten Bachmannpreis-Jurorin gewählt. Auch das bringt er, der Sommer! (dh) Von Christoph Konrath und Marianne Schulze ist ein System organisierter Unsicherheit.“ Das ist für „Demokratie den Politikwissenschafter Adam Przeworski eine der einfachsten und umfassendsten Beschreibungen von Demokratie. Sie schafft den Rahmen, dass Menschen in Freiheit zusammenleben können. Sie ermöglicht, dass Neues erprobt und Herausforderungen unter Beteiligung vieler begegnet werden kann. Damit das gelingt, braucht es ein stabiles Gefüge, dem Menschen vertrauen. Viele Demokratien wirken arg zerzaust. Ihre Selbstverständlichkeit scheint dahin. Die Sicherheit, die sie vielfach vermitteln konnten, wird schleichend und auch brachial mit der Sehnsucht nach einer oft martialisch aufgeladenen Version ersetzt. Im Sog individueller Überforderung, Ungleichheiten, Klimanotstand, Pandemien, Kriege, ist die „einfache Lösung“ näher als die Komplexität, die Anstrengung und auch die Mit-Verantwortung, die Demokratie erfordert. Lesen Sie dazu von Christoph Konrath auch den Text „Das Parlament darf nicht zur Fassade werden“ (16.9.2020) auf furche.at. Was angesichts multipler Bedrohungen das Zusammenleben im liberalen Rechtsstaat stärkt. Zum Start der neuen FURCHE-Sommer-Serie. Aus-Zeit für Demokratie? Unverzichtbare Einübung Die Teilhabe vieler ist Grundbedingung von Demokratie, das ist komplex, manchmal frustrierend und immer mit Kompromissen verbunden. Die Fragilität organisierter Unsicherheit wird unterspült, wenn in Zeiten wachsender individueller Unsicherheit die Kräfte und die Geduld für das Aushalten von Enttäuschungen, Widerspruch, Paradoxien und Gegensätzen schwinden. Unstimmigkeiten und Streit sind Teil der Demokratie. Die dafür notwendige Kultur braucht Aufmerksamkeit und damit Übung, niemand wird in sie hineingeboren. Sie braucht Bewusstsein des Einzelnen, um die Wirkmacht im Alltag zu verstehen und den Wert als Sicherheitsgarant anzuerkennen. Vieles davon, wie Demokratie seit langem erklärt wird und wie Unterstützung für sie gesichert werden soll, baut auf der Erzählung einer Erfolgsgeschichte auf. Es geht um Wohlstand und um effiziente Politik und Verwaltung, nicht um Streit. Wenn Menschen aufhören, sich als Teil dieser Erzählung zu begreifen, wird Demokratie schnell zu einer Abstraktion, die wenig persönliche Relevanz hat. Die organisierte Unsicherheit, für die Demokratie steht, wird dann mit Unterstellungen vom deep state untergraben oder mit anti-demokratischen Zuspitzungen ausgehöhlt. Das Argument, dass der demokratische Rechtsstaat auf starken Institutionen aufbaue, die sich durch populistische oder extreme Bewegungen nicht erschüttern lassen, riskiert aber, dass ohnehin schon stark ausgeprägte Misstrauen gegenüber „Eliten“ zu verstärken. Diese, so die Mär, wollen die Macht des Volks einschränken. Widersprüche und Enttäuschungen über Demokratie, Politik und das Rechtssystem werden damit deutlicher und die gefühlte persönliche Irrelevanz verstärkt. Appelle, den Wert der liberalen Demokratie mit ihren vielen Institutionen, Regeln, Expertinnen und Experten hochzuhalten, sind zu abstrakt und verfehlen die individuelle Berührbarkeit. Es fehlt vielen Menschen schlicht an – bewussten – positiven Erfahrungen. Die feinen Unterscheidungen zwischen Institutionen, Ämtern und Personen gehen in polarisierten Konflikten unter. Die Bereitschaft sinkt, die Herausforderungen, die diese bringen, gemeinsam zu tragen. Vielleicht auch deshalb, weil wir einander lange erzählt haben, „ Die organisierte Unsicherheit, für die Demokratie steht, wird mit Unterstellungen vom ,deep state‘ untergraben oder mit anti-demokratischen Zuspitzungen ausgehöhlt. “ dass es reicht, gut funktionierende Regeln und Menschen, die diese anwenden können, zu haben. Für jene, die diese Entwicklungen kritisch beobachten, scheint der Herbst der Demokratie nahe, ein langer Winter der Demokratie wahrscheinlich. Wann kippt „das System“? So wie die Jahreszeiten mittlerweile ineinander übergehen, kann es schwierig werden, jenen Punkt zu bestimmen, an dem die Demokratie zu einem anderen Herrschaftssystem wird. Weiterhin werden Parlamente gewählt, Gesetze erlassen und Gerichtsverfahren durchgeführt. Aber das soll möglichst so passieren, dass Veränderungen minimal ausfallen. Wenn es gelingt, einen gewissen Lebensstandard für einflussreiche Gruppen einer Gesellschaft sicherzustellen, kann man damit rechnen, dass auch neue – potenziell weniger demokratische – Umstände akzeptiert werden. Dabei kann man aus der Geschichte Westeuropas nach 1945 lernen, wie eng politisches Handeln mit dem Versprechen materieller Sicherheit verbunden war. Kann es da noch einen Sommer der Demokratie geben? Eine Zeit für Erneuerung, Wachsen und Reifen? Eine Zeit zum Ausrasten, für Gedankenspiele? Die Anerkennung, dass Wandel auch für das Gelingen organisierter Unsicherheit unabdingbar ist und aushaltbar, machbar ist? Wenn wir uns Zeit nehmen, könnten uns zwei Zugänge auf neue Ideen bringen. Die eine beruht darauf, Demokratie weniger als ein abstraktes System von Regeln und Prinzipien zu sehen und mehr als konkrete Lebensform zu begreifen, die wir im Alltag üben. Der Historiker Till van Rahden erinnert, wie es nach den Erfahrungen von Krieg und Totalitarismus gelungen ist, Formen, Konventionen und Regeln zu schaffen, die es „ermöglichen, auch mit jenen moralischen Konflikten zu leben, die wir nicht lösen, sondern nur aushalten können.“ Demokratie als Lebensform zu verstehen, bedeutet auch, Sinn für das eigene Leben darin finden zu können. Die Auseinandersetzung mit Ideen kann eine Möglichkeit bieten, über Alltagserfahrungen hinauszudenken und über Enttäuschungen hinwegzukommen. In einer Demokratie besteht die Herausforderung darin, dass möglichst viele Menschen Collage: R M (unter Verwendung von Bildern von iStock/spastonov, /sasar, /JacobH, /Luftklick, / Ralf Geithe, /Alfonso Sangiao und /D-Keine) ein Verständnis für ihre Grundlagen entwickeln. Theorie muss also, und hier schließt sich der Kreis zum Alltag, so vermittelt werden können, dass viele sie verstehen. Sofia Näsström, die politische Theorie lehrt, fragt, welcher Geist Demokratie prägt. Mit Geist spielt sie auf den Philosophen Montesquieu an, der vor 300 Jahren versucht hat, die Frage zu beantworten, was politische Lebens- und Herrschaftsformen bestehen lässt, und woran sie scheitern. Er hat den Zusammenhang zwischen Regeln und Motivation betont. Mit Demokratie hat sich Montesquieu nie befasst. Sein Interesse galt der Monarchie, der Republik und der Despotie – alles Herrschaftsformen, in denen konkrete Menschen im Mittelpunkt stehen und traditionelle Beziehungen bewahrt werden. Geist der Emanzipation In einer Demokratie gibt es hingegen keinen (Allein-)Herrscher mehr. Was sie im Sinne Näsströms trägt, ist der Geist der Emanzipation, die Überzeugung, dass immer wieder ein Neuanfang, eine Weiterentwicklung möglich ist. Wenn es aber keinen Herrscher gibt, dann müssen politische Entscheidungen gemeinsam getroffen und politische Institutionen gemeinsam getragen werden. Gemeinsam kann dann auch bedeuten, dass Demokratie nicht mehr nur von „einem Volk“ oder der Gruppe der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger allein gedacht werden kann. Das ist in Staaten wie Österreich, in denen der Zugang zur Staatsbürgerschaft mit hohen Hürden verbunden ist (vgl. rechts), von großer Bedeutung. Hier schrumpft die Zahl jener, die sich beteiligen können. Die Gruppe jener aber wächst, die keine Aussicht auf demokratische Mitbestimmung und Repräsentation haben. Sie bleiben ohne demokratische Perspektive. Das alles ist nicht einfach, aber möglich. Es braucht Zeit zum Nachdenken und zur Begegnung mit Menschen, die darüber nachdenken. Und es braucht ein kritisches Bewusstsein dafür, wie wichtig und gleichzeitig komplex die Abgrenzung zu Neigungen ist, die das demokratische Gefüge unterlaufen. Wir wollen uns hier in den nächsten Wochen gemeinsam mit der FURCHE und Menschen, die in Österreich und darüber hinaus über Demokratie nachdenken, diese Zeit nehmen. Wir wollen den Sommer der Demokratie feiern, auch um daraus Kraft und Perspektiven zu schöpfen, die die organisierte Unsicherheit im Herbst stärken. Christoph Konrath ist Jurist und Politikwissenschafter. Marianne Schulze ist Menschenrechtsexpertin und Co-Initiatorin des Gründungsvereins Demokratiestiftung Österreich.
DIE FURCHE · 27 4. Juli 2024 Das Thema der Woche Der Staat und wir 3 Wer ist Österreicher und wer darf es werden? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger. Sie sagt, das österreichische Staatsbürgerschaftsrecht bilde die Realität nicht mehr ab. Inzwischen wird die demografische Lücke im Land immer größer. „Wählen muss man trainieren“ Das Gespräch führte Stefan Schocher Judith Kohlenberger ist Migrationsforscherin an der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie ist zudem Autorin zahlreicher wissenschaftlicher Bücher und Beiträge zum Thema. Ihr Buch „Das Fluchtparadox“ (Kremayr & Scheriau) war das „Wissensbuch des Jahres“, wurde für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert und mit dem Bruno-Kreisky-Anerkennungspreis ausgezeichnet. Zusammen mit dem auf EU-Ebene hoch angesehenen ehemaligen ersten Vizepräsidenten des EU-Parlaments, Othmar Karas (siehe S. 6), hat sie zudem das Buch „So schaffen wir das“ verfasst. DIE FURCHE: Staatsbürgerschaft, Zuwanderung, Migration. Das sind ja an sich sehr bürokratische Themen. Wieso sind die politisch so dermaßen aufgeladen? Judith Kohlenberger: Weil es um die Frage geht: Wer ist Österreicher und wer darf es werden? Es ist menschlich und vollkommen nachvollziehbar, dass diese Frage mit Emotionen verbunden ist. Und es ist auch deshalb ein starkes Thema, weil Österreich erst spät zu der Einsicht gelangt ist, ein Einwanderungsland zu sein. Ein immer größerer Anteil der hier lebenden Menschen hat Migrationshintergrund. Österreich hat jedoch ein Staatsbürgerschaftsrecht, das immer weniger mit seiner Migrationsrealität korreliert – was eigentlich anachronistisch ist. DIE FURCHE: Wie meinen Sie das genau? Kohlenberger: Unser rechtliches Rahmenwerk wäre vielleicht vor einigen Jahrzehnten noch sinnvoll gewesen. Aber heute bilden unsere Einbürgerungsgesetze die Realität nicht mehr ab. Wir haben eine demografische Lücke, die jedes Jahr größer wird. Das betrifft vor allem Kinder, die hier aufwachsen, aber die Staatsbürgerschaft eines Landes besitzen, zu dem sie kaum tatsächlichen Bezug haben. Das hat Folgewirkungen. DIE FURCHE: Welche sind das? Kohlenberger: Studien zeigen positive Auswirkungen auf die Erwerbssituation und die soziale Inklusion, wenn die Verleihung der Staatsbürgerschaft bald nach Ankunft erfolgt. Wenn die Einbürgerung aber erst nach sechs, sieben oder gar zehn Jahren erfolgt, verpufft dieser Effekt. Das jedoch scheint von der Politik so gewünscht. Der Erwerb der Staatsbürgerschaft soll der krönende Abschluss des Integrationsprozesses sein. Dann aber nutzt man den integrativen Effekt der Einbürgerung nicht mehr. Und dann wären da noch die demokratiepolitischen Folgen. In Wien hat etwa 30 Prozent der Bevölkerung kein Wahlrecht. Damit ist nicht nur die migrantische Bevölkerung im Wahlergebnis unterrepräsentiert, sondern auch die jüngere und urbane. Ältere Wähler am Land dagegen sind überrepräsentiert und das hat Auswirkungen auf die Themensetzung der Parteien. Vom Ausgang einer Wahl betroffen sind aber alle. DIE FURCHE: In der Debatte rund um Migration tun sich immer die politischen Ränder hervor. Wieso ist es bei dem Thema so kompliziert, pragmatische Ansätze zu finden? Kohlenberger: Auf der einen Seite hat das wohl ganz banale Hintergründe: Wenn ich vor dem aktuellen Elektorat darum werbe, den Zugang zu erleichtern, dann lasse ich Leute darüber abstimmen, die dieses Recht ja schon haben. Ich muss also darauf setzen, dass Wähler über das eigene Interesse hinaus und aus gesellschaftspolitischen und demokratiepolitischen Gründen sagen: Das ist wichtig. Auf der anderen Seite: Migration, Anerkennung, Staatsbürgerschaft eignen sich wie kaum andere Themen zur Emotionalisierung. Da braucht man keine Lösungen, es geht eher darum, das Problem zu erhalten und zu bespielen. Politische Überspitzungen sind in diesem Themenfeld allgegenwärtig, kurzsichtige Antworten ebenso. Das sieht man allein am vorherrschenden Narrativ, die Staatsbürgerschaft müsse man sich „verdienen“. Was habe denn ich als „autochthone“ Österreicherin dafür geleistet, außer hier geboren worden zu sein? Die Idee der Leistung oder der Staatsbürgerschaft als „hohes Gut“ suggeriert auch, dass „uns“ etwas weggenommen wird, wenn andere sie bekommen. Dabei ist das Gegenteil der Fall. DIE FURCHE: Geht es da auch darum, die Komfortzone der Wählerschaft nur ja nicht anzutasten? Spielt da auch Neid eine Rolle? Kohlenberger: All die Argumente für niederschwelligere Einbürgerung verfangen nicht, weil es leichter ist, auf die Erzählung „wir gegen die anderen“ zu setzen. Und praktischerweise kann man „die anderen“ damit ja auch tatsächlich „anders“ – eben nicht-österreichisch – halten. Schwierige Einbürgerungsprozesse halten den Ausländeranteil hoch, und der dient wieder der Stimmungsmache. Für diesen Zweck muss man Neuankommende möglichst lange „ausländisch“ lassen. DIE FURCHE: Zugleich braucht das Land ja Migration. Wohin führt eine solche Politik letztlich? Kohlenberger: Die demokratiepolitische Schere zwischen Wohnbevölkerung und „ Es gibt harte Indikatoren für den Integrationserfolg: Etwa die Erwerbsquote von Migranten. Umgekehrt kann man aber kaum sagen, dass ein Österreicher, der nicht arbeitet, nicht integriert ist. “ Foto: Valerie Maltseva Lesen Sie dazu auch „Geschichte der Flucht: Das Land und die Spinne“ von Manuela Tomic, vom 13.10.2021 auf furche.at. Problematisches Narrativ „Die Idee der Leistung oder der Staatsbürgerschaft als ‚hohes Gut‘ suggeriert auch, dass ‚uns‘ etwas weggenommen wird, wenn andere sie bekommen“, sagt die Migrationsexpertin Kohlenberger. Wahlbevölkerung geht auf. Das hat Auswirkungen auf Inhalte. Wieso soll eine politische Partei Interessen von migrantischen Menschen vertreten, wenn viele von ihnen nicht wählen dürfen? Parteien rechts der Mitte befürchten oft, dass Migranten nur links der Mitte wählen würden. Das stimmt aber nicht. Unabhängig von den Parteipräferenzen würden Migranten zu einer relevanteren Wählergruppe werden. Alle wahlwerbenden Parteien müssten sich überlegen, was sie dieser Gruppe anbieten können. Derzeit sind diese Interessen kaum abgebildet. DIE FURCHE: Was hat das zur Folge? Kohlenberger: Das kann desintegrativ wirken. Denn wenn man an migrantische Kinder und Jugendliche solche ambivalente Signale sendet – integriere dich und leiste, aber so richtig dazugehören wirst du nie – dann kann das dazu führen, dass sich manche von ihnen von der Mehrheitsgesellschaft abwenden. Das Gefühl der Zugehörigkeit, das gerade Heranwachsende in der Identitätsentwicklung suchen, finden sie dann mitunter bei extremistischen Kräften. Das stärkt sicher nicht den sozialen Zusammenhalt. Und aus der Forschung ist bekannt, dass Menschen, die nicht wahlberechtigt sind, sich weniger informieren und auch andere Formen der politischen Partizipation weniger nutzen. Das wiederum setzt sich fort: Wenn die Kinder dieser Menschen die Staatsbürgerschaft erhalten, sehen wir bei ihnen einen höheren Anteil an Nichtwählern. Wählen muss man wie einen Muskel trainieren und im familiären Umfeld lernen. Nichtwählen dagegen wirkt ansteckend. DIE FURCHE: Was ist eigentlich Integration? Die autochthone Gesellschaft in Österreich ist ja auch keineswegs homogen. Kann man Integration messen? Kohlenberger: Es gibt harte Indikatoren für den Integrationserfolg: Etwa die Erwerbsquote von Migranten. Umgekehrt kann man aber wohl kaum sagen, dass ein Österreicher, der nicht arbeitet, nicht integriert ist. Bei der politischen Integration ist der harte Indikator eben die Staatsbürgerschaft. DIE FURCHE: Orten Sie denn zumindest Ansätze einer pragmatischen Debatte? Kohlenberger: Das sehe ich derzeit nicht. Irgendwann wird man wohl aufgrund der größer werdenden Kluft eine gesetzliche Anpassung vornehmen müssen. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund – also selbst zugewandert oder mit Eltern, die zugewandert sind – liegt in Österreich über 25 Prozent. Das ist keine Minderheit. DIE FURCHE: Was Sie schildern, ist eine Kluft zwischen Evidenz und Realpolitik. Welche Rolle spielt denn Wissenschaftsfeindlichkeit bei diesem Thema? Kohlenberger: Beim Thema Integration und Migration haben Empirie und wissenschaftliche Erkenntnis von jeher eine untergeordnete Rolle gespielt. Da geht und ging es mehr darum, Stimmungsmache zu betreiben.
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE