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DIE FURCHE 04.07.2024

DIE

DIE FURCHE · 27 14 Diskurs 4. Juli 2024 ERKLÄR MIR DEINE WELT Ist die Schule der richtige Rahmen für politische Bildung? Den gesamten Briefwechsel zwischen Johanna Hirzberger und Hubert Gaisbauer können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Johanna Hirzberger ist Redakteurin von „Radio Radieschen“ und freie Mitarbeiterin von Ö1. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast Sie sind Teil meiner Morgenroutine geworden. Zumindest an Tagen, an denen ich Ihnen eine Antwort schreibe. Ich setze mich auf meine Couch, öffne YouTube und wähle das Video „Relaxing Musics for Dogs“ aus. Der Track beginnt mit sanften Tönen, die mich an Morgentau erinnern: „tam, tam, taaaaaam…“. Spätestens bei der zweiten Wiederholung schlurft meine Junghündin ums Couch-Eck und legt sich auf meine Füße. Ich weiß nicht, wie sinnvoll es ist, dass sie sich an mich kuschelt, denn eigentlich ist die Musik Teil des Alleinsein- Trainings. Jedenfalls sind Sie heute indirekt auch Bestandteil dieser Übung – herzlich willkommen! In Ihrem letzten Brief kritisieren Sie, dass es ein neues Fach „Demokratie“ geben soll, als Zusatz zum Religionsunterricht, wie ich es verstanden habe. Natürlich gestalten Kinder und Jugendliche die Gesellschaft von morgen. Dass es dazu einen Ort und einen Stimulus braucht, kann ich nachvollziehen. Die Diskussionen darüber, was man noch alles Schülerinnen, Schülern und Lehrenden überstülpen kann, finde ich allerdings schwierig. Ich finde es super, wenn es gelingt, Demokratie und politische Bildung Kindern und Jugendlichen erlebbar zu machen. Wenn ich aber an meine Schulzeit zurückdenke, frage ich mich, ob der Rahmen Schule das hergibt. Wie Sie schreiben, sollte das neue Fach nicht „auf Kosten des kulturgeschichtlich unverzichtbaren Religionsunterrichts“ eingeführt werden. Deshalb möchte ich Ihnen heute von meinem Religionsunterricht erzählen. Ich kann mich an absolut gar nichts davon erinnern, zumindest, bis ich in der Oberstufe des Gymnasiums war. Also acht Jahre „Reli“ existieren nicht „ An die Erstkommunion und die Firmung kann ich mich erinnern, vor allem, weil ich dazu gezwungen wurde, mir Sünden zu überlegen. “ in meiner Erinnerung. Doch! An die Erstkommunion und die Firmung kann ich mich erinnern, vor allem, weil ich dazu gezwungen wurde, mir Sünden zu überlegen, die ich dann beichten durfte, um mich „gut“ zu fühlen. Aber da diese beiden Events eigentlich abseits des Unterrichts stattfanden (und irgendwie auch nicht), finde ich, zählen sie nicht so ganz. Dann kam die Oberstufe – und mit ihr ein mittelalter weißer Mann, dessen Selbstinszenierung mir extrem unangenehm war. Über die römischkatholische Kirche, wie über andere Religionen und Vereine, haben wir nicht gesprochen, zumindest habe ich auch dazu keine Erinnerungen. Was ich noch weiß, ist, dass er immer wieder betonte, er wolle für uns da sein, sei so offen und nutze es eher als „Ethikunterricht“. In einer dieser „Reli“-Stunden war meine Sitznachbarin sichtlich geistig abwesend. Er drängte sie mehrfach dazu, ihre Gedanken mit uns zu teilen, obwohl sie es nicht wollte. Irgendwann brach sie in Tränen aus und erzählte vom Suizid ihres Großvaters. Es war unglaublich beklemmend. Wenn ich darüber nachdenke, entstand bei mir der Eindruck, als wolle er „für uns da sein“, aber mehr, um in seine Rolle schlüpfen zu können, als um wirklich für uns da zu sein. Außerdem frage ich mich, ob diese Themen nicht besser bei einer Schulpsychologin aufgehoben gewesen wären. Doch um fair zu bleiben: Es gab auch Schüler und Schülerinnen, die seinen Unterricht mochten. Heute bin ich abgeschweift, eigentlich hätte ich Sie noch gerne zu Ihrer Meinung rund um Joe Bidens Auftritt und Kritik gefragt. Wie sehen Sie die Berichterstattung darüber? Ich freue mich auf Ihre Antwort! Von Johannes Kaup Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld begeisterte In FURCHE Nr. 26 Generationen von Studierenden für Philosophie und 3800 27. Juni 2019 Theologie. Am 1. Juli feierte er seinen 95. Geburtstag. Er verband Philosophie und Theologie wie kaum ein anderer: Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld. Johannes Kaup würdigte ihn bereits zu seinem 90. Geburtstag in der FURCHE. Ein Ausschnitt. Er ist ein stiller, öffentlichkeitsscheuer, aber gleichzeitig ein gründlicher und nachhaltig wirkender christlicher Denker: Der am 1. Juli 1929 im steirischen Gleinstetten geborene Philosoph und Theologe Karl Wucherer-Huldenfeld. Von 1974 bis 1997 lehrte er als Professor für christliche Philosophie und Mystik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Mit seinem lebensnahen existenziellen Denken befruchtete er mehrere Generationen Studierender aus den Bereichen Philosophie, Theologie, Medizin und Psychotherapie. Philosophie ist für ihn Lebenspraxis. Er ist ein phänomenologisch-hermeneutischer Denker. Die, die ihn kennenlernen durften, schwärmen noch heute von „Kawu“ – so sein Spitzname. Zwei Stunden lang schritt er als peripatetischer Philosoph auf dem Podium des prallvollen Hörsaals 47 hin und her. Aus dem Stegreif zog er seine Zuhörerschaft in den Bann der tiefsten metaphysischen Fragen. [...] Denn Denken ist Danken Eine [...] Auseinandersetzung mit seinem Vater erschütterte ihn so sehr, dass er das Gefühl hatte, ihm sei gerade der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Der Vater hatte das Christentum als „induziertes Irresein“, als bodenlose Illusion bezeichnet. Das väterliche Urteil ist für den Sohn wie ein Schlag in die Magengrube. Doch bereits am nächsten Tag entdeckt er seine Frage: Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts? - “Die Antwort, die mir kam, ließ mich zu Boden stürzen“, erinnert sich Wucherer-Huldenfeld. „Die Antwort war: ‚Es ist nämlich Sein.‘ Ich hatte unmittelbar das Gefühl, dass ich etwas Wunderbares, Unfassliches und Abgründiges erfahren habe. Das war meine unerschütterliche Grunderfahrung.“ In der Antwort „Es ist nämlich Sein“ ist auch sein Lebensmotiv verborgen. Denken wird für ihn zum Danken. Denn das menschliche Dasein entspringt – wie er sagt – einer Quelle, die man zwar nicht sehen, fassen und kontrollieren kann, aber deren Gegenwart sich dennoch abgründig bekundet. Entstellter Glaube Allerdings wird ihm dadurch später auch klar werden, wodurch der christliche Glaube vielerorts entstellt und verschüttet worden ist. Und Wucherer-Huldenfeld macht es sich zur denkerischen Lebensaufgabe, die Verfallsformen des Christlichen durch einen Rückgang auf die existenzielle Selbsterfahrung zu überwinden. Denn er ist überzeugt davon, dass nur so der religiöse Glaube ein unerschütterliches Fundament haben kann, der über Foto: Johannes Kaup den Verdacht einer infantilen Jenseits- Vertröstung erhaben ist. Christlich zu leben, bedeutet für Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld, pfingstlich zu leben. Das, was manchen zu fromm klingen mag, meint etwas Schlichtes: „Man kann sich nämlich durch Sammlung jeden Augenblick immer wieder neu in die lebendige Erfahrung der stillen Anwesenheit Gottes zurückrufen lassen.“ AUSGABEN DIGITALISIERT VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. 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DIE FURCHE · 27 4. Juli 2024 Diskurs 15 Statt ihre Leistungen herauszustellen, gefällt sich die Bundesregierung als politischer Kindergarten oder großes Kasperltheater. So kann man dem Rechtspopulismus das Wasser nicht abgraben. Das eigene Licht unter den Scheffel gestellt Auch wenn der Vergleich hinken mag: Wie sich die aktuelle Politik auf das Niveau einer Auseinandersetzung der lieben Kleinen im Kindergarten begibt, hat die aktuelle Bundesregierung in den letzten Wochen vorexerziert. Man ist auch versucht, Anleihen beim Kasperltheater zu nehmen, um die Wirren dieser Tage einordnen zu können: Die Klimaministerin stimmte bei einem EU-Umweltministerrat für die lang diskutierte und immer wieder adaptierte Vorlage des „Gesetzes über die Wiederherstellung der Natur“, sodass dem Projekt Renaturierung EU-weit ein rechtlicher Rahmen gegeben werden kann. Der Bundeskanzler warf sich daraufhin in die Pose eines äußerst Empörten – und der Ministerin Verfassungsbruch vor. Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft wegen Amtsmissbrauchs und eine geharnischte Beschwerde in Brüssel, dass die Zustimmung der Ministerin null und nichtig sei, folgten auf dem Fuß. Die näheren Umstände dieser Vorgänge müssen an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Auch dass die rechtliche Beurteilung des Abstimmungsverhaltens von Lore Gewessler geklärt werden muss, bleibt klar. Wobei der Ministerin zu konzedieren ist, dass sie nicht ohne rechtliche Expertise handelte – zuvor hatte sie eben wegen des einstimmigen Vetos der Landeshauptleute dem Renaturierungsgesetz nicht zugestimmt. Sondern sie wurde erst tätig, als Wien und Kärnten aus der Länder-Phalanx ausgeschert waren. Ob das juristisch hält, sollte gerichtlich entschieden werden. Popanz rund ums Renaturierungsgesetz Dabei ist es müßig, die von der Ministerin vorgelegten Gutachten, nachdem ihre Zustimmung rechtlich argumentierbar sei, mit dem Vokabel „Privatgutachten“ zu desavouieren, ohne sich mit deren Inhalten auseinanderzusetzen. Politik versucht seit jeher, den rechtlichen Rahmen voll auszuschöpfen – man erlebt ja sozusagen am eigenen Leib, wie ein dringend nötiges politisches Projekt weitergebracht werden muss (Stichwort: 16 Fußballfelder Bodenversiegelung pro Tag!), obwohl der eigene Koalitionspartner Obstruktion leistet, wo er nur kann. Man darf da schon darauf hinweisen, dass ebendieser jetzige Koalitionspartner in anderer Konstellation – etwa bei der Kürzung der Familienbeihilfe für EU-Ausländer – das Recht mehr als ausgereizt hat, obwohl unterschiedlichste Juristen gewarnt hatten, die Maßnahme sei mit EU-Recht nicht vereinbar. Was der EuGH schließlich auch verbindlich feststellte. Um die politischen Fragen geht es da längst nicht mehr, überhaupt, seitdem die ÖVP rund ums Renaturierungsgesetz einen Popanz aufgebaut hat, der mit der Sache immer weniger zu tun hat: Weder werden die Land- und Forstwirte aus dem Land gejagt, noch müssen sie ihre Zeit mit Schmetterlingszählen verbringen, ZEIT- WEISE Von Otto Friedrich „ Die Regierung hat die kalte Progression ohne viel Tamtam abgeschafft. Jahrzehntelang hieß es, das sei undurchführbar. “ noch wird die Bevölkerung ob des Gesetzes zu hungern beginnen. All dies prophezeien uns die Experten türkiser Couleur seit Wochen. Schon dies ist großes Kasperltheater, das durch die Empörungsrituale des Kanzlers noch verstärkt wurde. Eine Gorilla-Attitüde ohne Konsequenzen, denn man hält am koalitionären Status Quo fest – aus Staatsräson natürlich! Nur die ÖVP-Landesräte reden nicht mehr mit der Klimaministerin, weil sie immer noch böse auf sie sind. Das ist aber nicht einmal mehr Kasperltheater, sondern eben Kindergarten: Man darf sich dem entgegen von gewählten Politikern schon erwarten, dass sie professionell miteinander arbeiten – Dissens hin, Dissens her. Ja, es ist Wahlkampf, und das seinerzeitige Bonmot Michael Häupls, solcher sei eine Zeit fokussierter Unintelligenz, hat absolut nichts an Richtigkeit eingebüßt. Man darf sich dennoch wundern, dass vor lauter Identitäts- und Abgrenzungsneurosen die Regierungsparteien vergessen, ihrem Volk die eigenen Leistungen nahezubringen. Die kalte Progression – als ein herausstechendes Beispiel – hat ebendiese Regierung ohne viel Tamtam abgeschafft. Jahrzehnte haben Finanzminister zuvor weisgemacht, dass diese Maßnahme nicht durchführbar sei. Warum stellt diese Regierung aber solch eine Leistung so unter den Scheffel? Dem entgegen hofft man dort, mit politischem Theater dem heraufdräuenden Rechtspopulismus das Wasser abzugraben. Man ahnt, dass dies auf derartige Weise nicht gelingen kann. Theater um vegane Kochlehre Also befleißigt man sich weiter Kasperltheater- oder Kindergarten-Allüren: Die Grünen drangen zuletzt mit dem Vorschlag einer veganen Kochlehre durch. Nur darf der künftige Professionist, der in einer zunehmend fleischabstinenten Gesellschaft gewiss gebraucht wird, sich nicht „Koch“ nennen und auch „vegan“ darf in der Berufsbezeichnung nicht vorkommen. Also bildet man künftig „Fachkräfte vegetarischer Kulinarik“ aus. Man weiß nicht, ob man darüber lachen soll, dass durch derartige Aktionen der Gastronomie-, Fleischer- und Agrarlobby das frittierfetttriefende Schnitzel zum Teil der nationalen Identität stilisiert wird, sodass einer, der „Koch“ werden will, daran nicht vorbeikommen darf. Hier schließt sich ein Kreis: Denn auch diese kulinarisch-gewerbliche Posse unterstreicht den Befund, dass die konkrete Politik eine gesellschaftliche Vision nicht im Blick hat. Es gilt ebenfalls für alle, die sich für einen verantworteten Umgang mit der Natur einsetzen: Sie haben unter den politischen Akteuren (mit Ausnahme der Grünen) kaum mehr Verbündete. Der Autor war bis April 2024 stv. Chefredakteur der FURCHE. ZUGESPITZT Herr Eigentor geht um War es früher die Angst des Tormanns beim Elfmeter, ist es im heutigen Turbo-Fußball die Angst der Spieler vor dem Eigentor, die immer mitspielt. Ein falscher „Move“ – so schnell kann man gar nicht schauen, und die Kugel zappelt im eigenen Netz. Tatsächlich ist der „Herr Eigentor“ (TV-Kommentator Helge Payer) bei der EM 2024 bereits weit vorne auf dem Weg zum Torschützenkönig. Aber nicht nur im Fußball neigt man derzeit zur Selbstbeschädigung. Emmanuel Macron ist zwar Präsident einer ehrwürdigen Fußballgroßmacht, hat seinen eigenen Spielwitz aber arg überschätzt. Mit den Neuwahlen in Frankreich hat er einen Schuss abgepfeffert, der gefährlich nach hinten losgegangen ist. Damit nicht genug: In den USA ist es Präsident Joe Biden, der im TV-Match mit Trump für eine sensationelle Eigentor-Quote gesorgt hat. Wer holt so einen Spieler vom Feld? Wie man mit Eigentoren zurechtkommt, kann man sich von Österreichs Nationalelf abschauen. Die hat sich von diesem Missgeschick im Auftakt gegen Frankreich nicht davon abbringen lassen, mit Herz und (Rangnicks) Hirn zum Gruppensieg zu kommen. Und auch wenn das EM-Abenteuer nach dem Achtelfinale nun viel zu früh beendet ist: So leidenschaftlich unterzugehen, ist immer noch ein Gewinn. Martin Tauss NACHRUF Er erschloss sein Land der Weltliteratur Bis zuletzt haben seine Bewunderer und wohl auch er selber darauf gehofft, dass er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet werde. Literarisch verdient gehabt hätte er ihn zweifellos seit Jahren: Kein Autor seiner Generation hat derart schillernd, vielfältig und tiefgründig den Mythos und die Geschichte eines Landes in einen schier unerschöpflichen Erzählstoff verwandelt, wie es dem 1936 in Gjirokastra geborenen Ismail Kadare mit seiner Heimat Albanien gelungen ist. Dabei verstand es Kadare, immer wieder neu den tiefen Geschichtsbrunnen auszuschöpfen, den die wechselvolle Herrschaft im „Land der Skipetaren“ mit historischen Überlieferungen, Chroniken, Legenden, märchenhaften Mythen gefüllt hat. Mit der sicheren Hand des genuinen Erzählers griff er die Stoffe auf, ergründete ihre mythische Dimension und gestaltete sie nicht selten zu Parabeln über die unerkannte Sinnhaftigkeit geschichtlicher Prozesse um. Besonders die von ihm stets kritisch bewertete, fast ein halbes Jahrtausend währende osmanische Herrschaft über Albanien spielte ihm Erzählstoffe zu, aus denen er schreckensstarre Geschichten gewoben, balladeske Erzählungen geknüpft, Legenden vom Balkan eingesponnen und große epische Tapisserien entrollt hat. Zugleich erkämpfte der Zeitgenosse Kadare in einer Vielzahl von Romanwerken die literarisch herausragende Gestaltung jener Geschichte, die er selbst zwischen italienischer Fremdherrschaft in der Jugend und später jahrzehntelang unter der rigiden Herrschaft des Diktators Enver Hodschas erlebt hat. Das erforderte in einem Land, das fast 60 Jahre lang hermetisch von Ost wie West abgeriegelt war, einen Kurs, der nicht gänzlich ohne Zugeständnisse an die Macht abging. In sein Werk indes, am eindrucksvollsten wohl im Roman „Der Palast der Träume“, sind die Erfahrungen mit Willkür und Gewalt totalitärer Herrschaft so nachdrücklich wie detailreich eingeschrieben. Am stärksten verbunden blieb Kadare als Erzähler seiner Heimatstadt Gjirokastra, der er sowohl im (auch verfilmten) Roman „Der General der toten Armee“ als auch in dem historischen Stadtporträt „Chronik in Stein“ ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Am 1. Juli starb Ismail Kadare, ein Autor der Weltliteratur, 88-jährig in Albaniens Hauptstadt Tirana. (Oliver vom Hove) Foto: IMAGO/gezett Ismail Kadare ist 88-jährig gestorben. Oliver vom Hoves Würdigung zum 80. Geburtstag lesen Sie unter „Schleierzug für eine Frauenverfinsterung“ (28.2.2016) auf furche.at.

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