DIE FURCHE · 18 6 Das Thema der Woche Was uns bewegen wird 4. Mai 2023 Von Wolfgang Machreich Dübendorf im östlichen Speckgürtel von Zürich ist ein gutes Pflaster für Visionen. Winston Churchill übernachtete im Bahnhofshotel, bevor er vom Flugplatz Dübendorf nach London flog. Davor hatte der britische Staatsmann mit seiner Züricher „Let Europe arise“-Rede im September 1946 den Samen für „eine Art Vereinigte Staaten von Europa“ ausgestreut: „Wir alle müssen dem Schrecken der Vergangenheit den Rücken kehren und uns der Zukunft zuwenden.“ Eine Viertelstunde Fußweg von Churchills Nachtquartier entfernt wird heute an der Umsetzung einer Vision zukünftiger Mobilität gearbeitet, die zunächst so utopisch wie Churchills Europaentwurf erscheint. Doch das dahinterliegende Konzept ist altbekannt und bewährt: Die Hyper loop-Technologie folgt dem Modell Rohrpost, dessen praktische Grundlage sich seit der Erfindung des Blasrohrs nicht verändert hat. Anstelle von Pfeilen oder Post sollen mit Hyperloop jedoch Reisende in Transportkapseln durch Vakuumröhren an ihr Ziel geschossen werden. Die Schussmetapher ist nicht übertrieben, Lorenzo Benedetti spricht von 1000 km/h Geschwindigkeit und mehr, mit der Hyperloop-Passagiere von A nach B kommen. Testlauf, wo Churchill schlief Benedetti ist Forschungsdirektor der Euro Tube-Stiftung, die – als Forschungseinrichtung von nationaler Bedeutung vom Schweizer Bundesrat anerkannt – die Entwicklung der Vakuumtransporttechnologie zur Marktreife führen soll. Um zu zeigen, wo die erste superschnelle Hyperloop-Kapsel flitzen wird, führt Benedetti den FURCHE-Besucher an ein parallel zur Bahnstrecke nach Zürich führendes Abstellgleis. Zwei Kilometer entfernt schlief einst Churchill; in einer demnächst hier verlegten, 120 Meter langen DemoTube soll der erste Schweizer Vakuumtransporter vom Hyperloop-Stapel gehen. „Man kann sich das wie ein Puzzle vorstellen“, sagt EuroTube-Kommunikationschef Steffen Hartmann vor der Gleisbesichtigung bei einem Rundgang durch das Labor, in dem Bauteile und Techniken entwickelt und getestet werden, und findet einen stimmigen Vergleich für den aktuellen Stand des Projekts: „Wir haben alle Teile, sie müssen nur so zusammengesetzt werden, dass das System sicher, umweltfreundlich und wirtschaftlich zu betreiben ist.“ „ Das ist wie ein Puzzle: Wir haben alle Teile – sie müssen nur so zusammengesetzt werden, damit das System sicher, umweltfreundlich und wirtschaftlich betreibbar ist. “ In „Churchill beschreibt Churchill“ erklärt Karl Schwarzenberg am 21. Dezember 1972, warum die Churchill- Ahnenforschung wichtig ist; nachzulesen auf furche.at. Der Kern der Hyperloop-Technologie kann größtenteils bereits aus anderen Industriefeldern übernommen werden, sagt Benedetti und zählt auf: Große Vakuumsysteme werden in der Chipherstellung und bei Raumfahrtanwendungen eingesetzt; Linearmotoren gibt es in Aufzugsystemen, Achterbahnen, Karussells oder anderen Fahrgeschäften von Vergnügungsparks; Zugdesigns in Japan und China sowie Logistiksysteme verwenden Magnetschwebetechnik, und druckdichte Passagierkabinen sind in heutigen Flugzeugen Standard. „Unser Ansatz ist, verfügbare Produkte zu testen und zu qualifizieren“, beschreibt Benedetti die Entwicklungsstrategie: „Wir haben Hunderte von Komponenten in unserem Labor getestet und viele vielversprechende Ergebnisse gesehen.“ Dass die Schweiz eine Vorreiterrolle in der Hyperloop-Industrie einnehmen will, entspricht ihrem Selbstverständnis als Eisenbahn- und Mobilitätsmusterland. Ein Reisen im Vakuum Der Luftwiderstand bremst Hochgeschwindigkeitszüge und kostet viel Energie. Die Hyperloop-Technologie gleicht dieses Manko durch Vakuumröhren aus. Hyperloop will die Vorzüge von Flugzeug und Eisenbahn vereinen: hohe Geschwindigkeit bei geringem CO2-Ausstoß. Ein Besuch im Schweizer Testzentrum. Flugpostschnell durchs Rohr weiterer Startvorteil ist, dass seit 1974 bereits unter dem Namen „Swissmetro“ ein futuristisches Schweizer Transportsystem ähnlich heutigen Hyperloop-Plänen im Land diskutiert wird. Die Idee, mithilfe von Vakuumtechnologie so schnell wie ein Flugzeug, aber mit einem kleineren ökologischen Fußabdruck als die Eisenbahn unterwegs zu sein, hat sich aber mittlerweile europäisiert und globalisiert: Für ein Hyperloop-Projekt entlang der Strecke von Venedig nach Padua läuft die Ausschreibung. Das deutsche Bundesland Niedersachsen und die Provinz Groningen in den Niederlanden schlossen sich zur Hyperloop-Entwicklung zusammen. Weitere Projekte gibt es in den USA, Kanada, auf der arabischen Halbinsel und in Indien. Besonders aber die Ambitionen Chinas sollen die EU-Kommission zu einem Rechtsrahmen für Hyperloop im Arbeitsprogramm für 2023 motiviert haben, „um für diese Hochgeschwindigkeits- und kohlenstoffarme Transportlösung gerüstet zu sein“. Geburtshelfer Elon Musk Damit die Hyperloop-Idee aus ihrem Dornröschenschlaf geholt wurde, brauchte es aber niemand Geringeren als Elon Musk. Der Mobilitätsvisionär schrieb vor zehn Jahren Wettbewerbe zur Entwicklung hyperschneller Reisekapseln aus. Studenten der ETH Zürich nahmen erfolgreich daran teil. Einer davon war Lorenzo Benedetti. Im Unterschied zu Musk, der seine Reisepläne ins Weltall ausweitete, blieb Benedetti aber bei der Vakuumröhre – und weiß auch schon, wo die Hyperloop-Reise nach dem Prototyp Visualisierung: Eurotube in Dübendorf hingeht: Im Unterwallis, im flachen Land südlich des Genfersees, werden gerade die erforderlichen Baubescheide und Umweltverträglichkeitszeugnisse für eine drei Kilometer lange Hyperloop-Trasse eingeholt. „Mit dieser AlphaTube kommen wir schon sehr nahe an ein finales System heran“, sagt Benedetti. Neben der freien Fahrt im Vakuum ist er aber vor allem damit beschäftigt, einen Weg durch den Behördenund Bewilligungsdschungel zu finden. Auf die Frage nach dem Lärm, den ein Hyperloop-Transportsystem für die Umgebung verursacht, hat er eine validierte Antwort parat: „Der Lärmpegel der Vakuumpumpen ist vergleichbar mit dem einer Bäckerei.“ Amazon-Paket aus der Röhre Wie groß die Brötchen sind, die von der Hyperloop-Technologie einmal gebacken werden sollen, rechnet Kommunikationschef Hartmann vor: „Konservative Modelle gehen in den nächsten zwei Jahrzehnten von einer Verdopplung der Passagierzahlen und damit der Anzahl der Flugzeuge, der Starts und Landungen und den damit verbundenen Emissionen aus. Hier kann der Hyperloop wirklich einen Unterschied machen.“ Vor allem auch im Frachtbereich sieht Hartmann große Möglichkeiten für die Vakuumrohrpost, die eine klimafreundliche Alternative zu hunderten Transportflugzeugen von Amazon Prime oder anderen Zustellern bietet. Zudem ermöglicht der Lastentransport viele Gelegenheiten, die Vakuumtechnologie ohne Risiko für Leib und Leben von Passagieren zu testen. Wobei prognostizierte Reisezeiten von einer Stunde zwischen Zürich und Berlin samt Anbindung an zentrumsnahe Bahnhöfe für Reisende verlockend klingen. Benedetti betont, dass Hyperloop ein neues Verkehrsmittel mit separater Infrastruktur ist: „Wir wollen nicht die Eisenbahn oder den Langstreckenflugverkehr ersetzen. Aber mit dem heutigen Netz werden wir niemals die Nachfrage von morgen decken können, geschweige denn auf nachhaltige Weise.“ Um Fehler der Vergangenheit bei diesem neuen Verkehrssystem zu vermeiden, soll bereits bei der Entwicklung auf ein „universelles Infrastruktur design“ geachtet werden: „Es kann nicht sein“, sagt Benedetti, „dass wir am Ende vier verschiedene Systeme auf einem Kontinent haben, die nicht miteinander kompatibel sind.“ Eine Herausforderung, an deren Lösung wahrscheinlich sogar ein Visionär wie Churchill gezweifelt hätte. Aber in Dübendorf haben schon ganz andere Utopien einen guten Ausgang genommen. Nächste Woche im Fokus: Am 14. Mai wird in der Türkei der Präsident gewählt. Für den Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan, der seit mehr als 20 Jahren an der Macht ist, könnte es eng werden. Ein Fokus über eine erdoğanisierte Gesellschaft und ihren (Un-)Willen zum Wandel.
DIE FURCHE · 18 4. Mai 2023 Politik 7 Nach der Wahl in Salzburg, wo die ÖVP nun mit der FPÖ verhandelt, befragt die Sozialdemokratie bis 10. Mai ihre Mitglieder. Wie soll sie sich programmatisch ausrichten? Ein Gastkommentar. SPÖ: Neuer Kurs oder neue Partei? Von Trautl Brandstaller Die Wahlen in Salzburg samt Einzug einer Liste „KPÖ plus“ in den Landtag haben nicht nur in Salzburg selbst, sondern bundesweit ein Erdbeben ausgelöst. Sogleich tauchten Mutmaßungen über die Renaissance von Marxismus-Leninismus und Planwirtschaft auf, als ob die ehemals Jungen Grünen, die sich der Strukturen der KPÖ bedienen, mit einer Wiederbelebung des 1989 untergegangenen Kommunismus gesiegt hätten. Sämtliche Wahlanalysen haben gezeigt, dass die neue Partei mit einem einzigen Thema ihren Wahlerfolg erreicht hat: mit dem Wohnungs- und Mietenthema, das die anderen Parteien sträflich vernachlässigten. Dienstag dieser Woche hat die Salzburger ÖVP nun einstimmig beschlossen, mit der FPÖ über die nächste Landesregierung zu verhandeln (siehe Seite 16). Das wird in der SPÖ erneut die Frage befeuern, wie man bei den Nationalratswahlen Schwarz-Blau und einen Kanzler Kickl verhindern kann. Die meisten Debattenbeiträge gehen hier von einer falschen Analyse aus: Die FPÖ gewinnt nicht wegen des Ausländer-, Asyl- und Migrationsthemas; Untersuchungen des SORA-Instituts haben gezeigt, dass die tiefere Ursache die allgemeine soziale Unzufriedenheit ist, die Ausländerhetze ist nur ein Ventil. Die FPÖ ist heute zur größten Arbeiterpartei geworden. Seit 30 Jahren Niedergang In ihrer derzeitigen Verfassung ist die SPÖ nicht imstande, diese sozialen Ursachen zu analysieren und danach zu handeln. Die Funktionäre ignorieren die existenziell wichtigen Fragen und haben den Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern verloren, sie sind eine geschlossene Clique, fixiert auf Intrigen und eigenes Einkommen. Das erbärmliche Schauspiel, das die Partei derzeit bietet, der Kampf zwischen der Parteichefin und ihren beiden Herausforderern samt allen Pannen bei der Vorbereitung der Mitgliederabstimmung (vierte Alternative: „Keiner“) ist an Absurdität nicht zu überbieten. Falsch wäre es, die Fehler für das Desaster allein an der politischen Hilflosigkeit von Pamela Rendi-Wagner oder dem kommunikativen Antitalent ihres Geschäftsführers, Christian Deutsch, festzumachen. Beide sind nur Symptome für den Niedergang der einst mächtigen Arbeiterbewegung, ein Niedergang, der vor 30 Jahren begann. Die österreichische Sozialdemokratie hat, wie die meisten europäischen Sozialdemokraten, die Entstehung eines ganz neuen Kapitalismus nach 1989 weder zur Kenntnis genommen noch seine sozialen Folgen verhindert. Im „Washington Consensus“ von 1990 haben US-Ökonomen zusammen mit Bankern die drei Forderungen des neuen, neoliberalen Kapitalismus formuliert: Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung. Mit anderen Worten: mehr privat, weniger Staat. Helmut Schmidt, nicht gerade als Linker in der SPD verschrien, sprach bald vom „Raubtierkapitalismus“ und warnte vor dessen Folgen. Inzwischen gibt es unzählige Analysen dieser Entwicklung, die offenkundig nicht bis in die Löwelstraße vorgedrungen sind. Erfolgloser „Dritter Weg“ Die Sozialdemokraten übernahmen einen Großteil der neoliberalen Forderungen – auf dem „Dritten Weg“, den Tony Blair in Großbritannien und Gerhard Schröder in der Bundesrepu blik propagierten. 1998 beschloss die SPÖ ein Parteiprogramm, das den Schröder-Blair-Kurs propagierte. Er brachte den Sozialdemokraten freilich nicht die erhofften Wahlerfolge; im Gegenteil, die Sozialdemokraten bauten seit Franz Vranitzky von Wahl zu Wahl ab. Die Wählerzustimmung halbierte sich in 30 Jahren von 42 auf 21 Prozent. Kreisky war mit 47 Prozent 1983 noch zurückgetreten, die Vorsitzenden seither dachten trotz permanenter Verluste (Ausnahme: Alfred Gusenbauer 2006) niemals an Rücktritt. Und Christian Kern, der den Parteivorsitz 2018 entnervt und ohne Begründung hinschmiss, will jetzt wieder zurück auf die politische Bühne. Der Niedergang hat viele Ursachen. Zentral ist und bleibt die Frage einer gerechten Gesellschaft. Alle empirischen Untersuchungen belegen, wie krass sich die Einkommens- und Vermögensunterschiede entwickelt haben: oben „ Wenn die SPÖ nicht eine klare linke Wende vollzieht, wird sie überflüssig – und andere Parteien werden diese Wende einleiten. “ eine relativ schmale Schicht von etwa zehn Prozent, die reich und reicher werden, unten die untersten 30 Prozent, die immer ärmer werden – und als neues Phänomen die Verarmungstendenz, die KLARTEXT Die Welt ist böse immer mehr die Mittelschicht zu erfassen beginnt. Wer also Schwarz-Blau verhindern will, muss beim Thema Ungerechtigkeit beginnen und die derzeitige Zweiklassengesellschaft, das Ergebnis des „Dritten Wegs“, bekämpfen. Solange die SPÖ diesen Weg nicht verlässt, bleibt sie auf dem Verliererweg. Sie kann dem Thema Mindestlöhne, Vermögensund Erbschaftssteuern nicht länger ausweichen. Auch nicht dem Thema Arbeitszeitverkürzung, also schrittweise Einführung der 30- oder 32-Stundenwoche, branchenweise und nicht sofort. Der aktuelle Arbeitskräftemangel spricht übrigens nicht dagegen, er wird durch eine geregelte und notwendige Zuwanderung bald beendet sein. Der Kampf um den Achtstundentag stand am Anfang der SPÖ-Geschichte. Und jede technologische Foto: APA / Florian Wieser Mobilisiert Mehr Menschen als zuletzt kamen zur 1.-Mai-Kundgebung auf den Wiener Rathausplatz. FPÖ-Chef Herbert Kickl stellte derweil in Linz den Kanzleranspruch. Revolution – vom Fließband über Automatisierung bis zur Digitalisierung – hat zu einer Arbeitszeitverkürzung geführt. • Die offenste Baustelle ist derzeit Wohnen und Mieten. Aber wenn die SPÖ dieses Thema aufgreift, fehlt ihr jede Glaubwürdigkeit. Denn die Stadt Wien erhöht gleichzeitig die Mieten in Gemeinde- und Genossenschaftswohnungen. • Das zweite Thema bildet Gesundheit und Pflege, wo sich eine Zweiklassenmedizin entwickelt hat, festgeschrieben im „Wahlarztsystem“, das besser „Zahlarztsystem“ hieße. • Das Thema Zuwanderung wurde viel zu lange den konservativen bis rechten Kräften am äußeren Rand überlassen, statt zu erklären, dass Österreich dringend Zuwanderung braucht. • Außenpolitik wird von der derzeitigen SPÖ in gröbster Weise ignoriert, obwohl zu Kreisky-Zeiten Neutralität und Friedenspolitik zentrale Themen waren. • Dramatisch sieht auch die Situation im Bildungsbereich aus, nicht nur wegen des aktuellen Lehrkräftemangels. Die Sozialdemokratie hat als Bildungs- und Kulturbewegung begonnen. Heute bleibt vom alten Elan kaum etwas übrig, obwohl das gesamte Bildungssystem auf den Prüfstand gehört, um es fit für das 21. Jahrhundert zu machen. • Ein leer gelassenes Politikfeld ist auch die Alterssicherung. Es wäre Aufgabe der SPÖ, eine Grundsicherung im Alter für alle zu fordern und erfolgreiche Modelle aus dem Ausland in die Diskussion einzubringen. Im Kampf der drei „Lager“ – Rendi-Wagner, Doskozil und Babler – tauchen zwar vereinzelt die wichtigen Themen auf. Eine Gesamtkonzeption mit neuem Programm als Alternative zum „Dritten Weg“ fehlt jedoch. Wenn die SPÖ aber nicht eine klare linke Wende vollzieht, wird sie im politischen System überflüssig. Stattdessen werden neue Parteien die linke Wende einleiten, die nicht nur die SPÖ, sondern das ganze Land braucht. Die Autorin – Journalistin und Politologin – war 1967 FURCHE- Redakteurin, später ORF-Redakteurin, Dokumentar filmerin sowie FURCHE-Kolumnistin. In der Ära Kreisky trat sie der SPÖ bei. Von Manfred Prisching Jüngst habe ich mir von einer Wutbürgerin ihr Modell der Welt erklären lassen – frappierend, diese säkularisierte Primitivreligion. Erstens: Viele könnten annehmen, die Welt sei von Unsicherheit, Steuerungslosigkeit, Machbarkeitsschwund gekennzeichnet. Für sie ist das Gegenteil wahr: Es sei in Wahrheit alles machbar, steuerbar, lenkbar. Alles ruht in mächtigen Händen: Denn Krisen seien beabsichtigt. Zweitens entstünden Krisen nicht aus Hilflosigkeit, Unkenntnis, Versagen. Wahr sei: Es gebe (im Verborgenen) Machthaber, die alles im Griff hätten. Man kann sich eine Komplexität der Welt nicht vorstellen, in der es von Zufällen und unintendierten Fern- und Wechselwirkungen wimmelt, vielmehr herrscht klassisches Personifizierungsdenken: Anonyme Kräfte waren früher Götter und Dämonen, doch die diesseitigen Akteure entstammen derselben Denkfigur. Drittens seien nicht die großen Machtfiguren, nicht Biden oder Macron, entscheidend. Wahr sei: Von den wirklichen Machthabern kann man sich kein Bild machen, aber gerade wegen ihrer Unsichtbarkeit sind sie besonders gefährlich. Im Vordergrund seien ja nur die Büttel sichtbar, in Politik, Medien, Kunst und Wissenschaft. Die Drahtzieher wüssten hingegen alles. Sie ließen die Menschen in Krisen schlittern, durch Inflation enteignen, durch Impfungen drangsalieren, durch Kriege bedrohen. Viertens findet meine Wutbürgerin hinter den Ereignissen (Krieg, Epidemie, Inflation, Klima, Energie) keinen sinnhaften Zusammenhang, kein Interesse, kein Steuerungsziel. Sie macht ihr Modell nur an der mächtigen „Elite“ und ihren unermesslich bösen Absichten fest. Um das Böse zu exorzieren, tendiert man zum „Gegen-Bösen“: dem linken oder rechten Diktator, der durchschlagskräftig das wahre Wollen des Volkes verkörpert. Der Autor ist Professor für Soziologie an der Uni Graz.
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