DIE FURCHE · 18 4 Das Thema der Woche Was uns bewegen wird 4. Mai 2023 AUS DER REDAKTION Es freut mich sehr, dass Sie diese Zeilen lesen. In Zeiten, in denen mehr und mehr Menschen ihre Impulse bevorzugt aus (a)sozialen Plattformen, Google oder Youtube beziehen, ist das keine Selbstverständlichkeit. Ebenso wenig selbstverständlich ist freilich, dass es (Wochen-)Zeitungen wie DIE FURCHE weiterhin gibt. Zu digitaler Transformation, Teuerung und allgemeinem Misstrauen gegenüber Medien kommt nun noch ein neues Gesetz, das es für Private noch schwieriger macht, neben dem öffentlich-rechtlichen ORF zu bestehen. Aus Protest hat DIE FURCHE – wie fast alle Zeitungstitel dieses Landes – zum „Tag der Pressefreiheit“ am 3. Mai ihr Cover unbedruckt gelassen. So klein einzelne Medienmarken auch sein mögen, so wesentlich sind sie für die Meinungsvielfalt in diesem Land – und damit für die liberale Demokratie. Otto Friedrich hat diese Hintergründe nicht nur in seinem Leitartikel beschrieben – sondern in einem kenntnisreichen Nachruf auf den Wiener Weihbischof Helmut Krätzl auch deutlich gemacht, warum sich FURCHE-Lektüre nachhaltig lohnt. Und es gibt noch viele weitere – hoffentlich überzeugende – Argumente in dieser Ausgabe: etwa einen Fokus auf die Zukunft der Mobilität, einen tieferen Blick auf die SPÖ oder das geteilte Zypern, einen Essay über die „Himmelskönigin“ Maria, eine Würdigung des Philosophen John Stuart Mill oder eine Annäherung an die Dichterin Sarah Kirsch. Viel Freude mit diesen Besonderheiten – wir werden uns weiter darum bemühen! (dh) Das Gespräch führte Wolfgang Machreich Wie der Umstieg auf E-Mobilität gelingen kann, ist heftig umstritten. DIE FURCHE hat Bernhard Wiesinger, Leiter der Abteilung „Interessenvertretung“ im ÖAMTC, und Christian Gratzer, Pressesprecher des Vereins „VCÖ – Mobilität mit Zukunft“, zur Debatte geladen. Nur in einem Punkt sind sich beide einig: Klimaschutz hat Priorität. DIE FURCHE: Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) hat die Frage nach der Zukunft des Autos zur Chefsache erklärt und mit Aussagen gegen ein Verbrenner-Aus und für E-Fuels polarisiert. Welche Aussichten zur Zukunft der Mobilität haben sich Ihnen beim Autogipfel des Kanzlers eröffnet? Bernhard Wiesinger: Wenn sich die Politik auf höchster Ebene mit dem Thema Mobilität auseinandersetzt, ist das grundsätzlich gut. In Österreich geht es dabei um insgesamt 300.000 Arbeitsplätze, die vom Transformationsprozess der Autoindustrie betroffen sind. 50.000 davon direkt in der Antriebstechnologie. Das heißt, die Politik muss sich auch der Frage stellen, wie die Mobilitätswende gestaltet werden kann, damit diese Arbeitsplätze erhalten bleiben. Christian Gratzer: Die Automobilzulieferindustrie wird dann erfolgreich sein, wenn sie herstellt, was die Automobilhersteller künftig nachfragen. Die Autohersteller in Europa, in den USA und China gehen ganz klar in Richtung Elektromobilität. Ich bin zuversichtlich, dass die österreichische Automobilzulieferindustrie diese Umstellung sehr gut schafft. Vertreter der Zulieferindustrie bestätigen, dass sie darauf vorbereitet sind. Bild: iStock/fermate Welche Autopolitik reduziert Emissionen, ohne puncto Mobilität zu „verarmen“? Befeuert durch die Parteinahme des Bundeskanzlers für E-Fuels, liefern sich zwei Verkehrsexperten eine hitzige Debatte. „Aufhören, alles vom Auto aus zu denken“ DIE FURCHE: Von den Höhen des Auto gipfels in die Niederungen der politmedialen Ebene geschafft hat es vor allem die Diskussion über das Für und Wider von synthetischen Kraftstoffen, den E-Fuels. Was ist da Ihre Position? Gratzer: Die Klimaziele , zu denen sich die EU und Österreich vertraglich verpflichtet haben, betreffen nicht nur den Verkehr, sondern auch die Industrie, die Landwirtschaft, die Haushalte. Alle Sektoren müssen mit der vorhandenen Energie besser haushalten, Ener- Affekte bestimmen den Erfolg im Klimaschutz, argumentiert Martin Tauss in „Ökolust und Ökofrust“ (23.6.2021); auf furche.at. gieverschwendung vermeiden und die jeweils sinnvollste Methode einsetzen. Wir werden künftig E-Fuels brauchen – aber die brauchen wir in der Schifffahrt, im Flugverkehr und in der Industrie. Die dafür benötigten Mengen sind so groß, dass für Pkws, wo E-Fuels im Vergleich zum Elektromotor äußerst ineffizient sind, nichts übrigbleiben wird. Wiesinger: Ob sich E-Fuels für Pkws durchsetzen werden, wissen wir nicht. Wenn sie eine schlechte Idee sind, werden sie am Markt nicht bestehen. Aber wieso muss man sie verbieten? Das ist keine Technologieoffenheit. Dahinter steckt eine andere Agenda. Der klare Plan ist, „die Bösen“, die dann noch mit Verbrennerautos unterwegs sind, weil sie sich ein E-Fahrzeug nicht leisten können, zu bestrafen. Dagegen verwahren wir uns. Die Autohersteller sind nicht so engstirnig unterwegs, die sehen die Probleme, die sagen: „Unser Abschied vom Verbrenner „ Beim E-Auto-Zwang produzieren wir Mobilitätsarmut und nehmen Menschen Chancen, am sozialen und beruflichen Leben teilzunehmen – obwohl es andere Lösungen gäbe. “ Bernhard Wiesinger, ÖAMTC steht fest, aber es braucht E-Fuels insbesondere für den Bestand.“ Wir haben eine riesige Transformation vor uns und wollen nicht, dass jene, die es sich am wenigsten leisten können, zurückgelassen werden. Gratzer: Ich befürchte eher, dass wir ein soziales Problem bekommen, wenn man E-Fuels forciert, die drei bis vier Euro pro Liter kosten. Der Porsche-Fahrer kann sich das leisten, die große Mehrheit nicht. Wiesinger: Elektromobilität ist eine gute Sache, die sollte man so umfassend wie möglich machen. Wir haben aber derzeit in Österreich 5,1 Millionen Fahrzeuge angemeldet. Pro Jahr gibt es 220.000 Neuanmeldungen. Selbst wenn alle neu angemeldeten Fahrzeuge E-Fahrzeuge wären, gehen sich die Daumen mal Pi 2,5 Millionen Elektrofahrzeuge bis 2030 nicht aus, um die Hälfte der CO₂- Emissionen im Verkehr einzusparen. Daher wird es kurzfristig höhere Beimengungen aus dem biogenen Bereich und langfristig E-Fuels-Alternativen brauchen. Gratzer: Es geht hier nicht nur um ein politisches Ziel. Es geht darum, ob wir den zukünftigen Generationen eine lebenswerte Umwelt hinterlassen. Die Dramatik der Klimakrise ist einfach da. Die kann man nicht leugnen. Wir sind jene Erwachsenengeneration, die das noch richten kann. Wir sitzen alle im selben Boot, müssen alle tätig werden. Wiesinger: Dass wir Treibhausgase reduzieren und Klimaziele erreichen müssen, ist eine No-na-Aussage. Aber was mir beim Begriff „Verkehrswende“ nicht gefällt: Ich muss niemanden wenden und niemandem vorschreiben, was er zu tun hat. Die Zeiten sind vorbei, und ich hoffe auch nicht, dass sie wiederkommen. Ich muss Angebote schaffen, damit Verhaltensänderung möglich wird – aber keine Vorschriften machen. DIE FURCHE: Nimmt man die Klimaschutzverpflichtungen ernst, muss der Umstieg sehr schnell gelingen. Ist das allein mit Freiwilligkeit zu schaffen? Gratzer: Wir sehen, das Mobilitätsverhalten ist veränderbar. Das Gute ist, dass wir heute schon die Instrumente haben, um den Energiebedarf des Verkehrs und den Treibhausgasausstoß deutlich zu reduzieren. Wir sehen auch die Bereitschaft in der Bevölkerung, das umzusetzen. Mehr klimaverträgliche Mobilität bringt außerdem deutliche Zusatznutzen: Verkehrslärm nimmt ab, Lebensqualität und Gesundheitsnutzen steigen. Nahversorgung gewinnt, wir setzen Maßnahmen gegen das Dorfsterben … Wiesinger: Natürlich kann ich Veränderung im Mobilitätsverhalten fördern, aber wir wissen beide, dass das nur peu à peu möglich ist und wir nur in Zehntelprozentschritten vorwärtskommen. Den großen Wurf – und dann ist alles anders –, den gibt es nicht. Öffentlicher Verkehr funktioniert nur dann, wenn er die bessere Option
DIE FURCHE · 18 4. Mai 2023 Das Thema der Woche Was uns bewegen wird 5 ist. Mich stört, wenn man versucht, beim Autoantrieb eine Lösung vorzuschreiben. Noch dazu mit dem Wissen, dass sich das nicht ausgehen kann. Gegen diese Zwangsbeglückung sprechen wir uns aus. Wir sind für einen Wandel, den die Menschen auch mitgehen können, der über Angebote funktioniert und nicht über Zwang. Gratzer: In vielen Bereichen sind die betroffenen Gruppen schon deutlich weiter. Gerade im Mobilitätsbereich wird immer noch zu sehr in Schubladen gedacht: die Autofahrer, die Radfahrer, die Öffi-Fahrer, die Fußgänger – das stimmt so nicht, die Menschen sind in ihrer Mobilität vielfältig. Das ist eine große Chance, wenn wir Strukturen schaffen, in denen man jeweils das geeignetere Verkehrsmittel nutzen kann: für kurze Strecken das Fahrrad, für längere Öffis … Aber um das umzusetzen, müssen wir ins Tun kommen. Ein Beispiel: Wie wir drei in dieser Runde im Kindesalter waren, gab es das Ozonloch. Die Staatengemeinschaft hat damals FCKW-Treibhausgase verboten und sich für neue Technologien eingesetzt. Durch klare Vorgaben, bessere Technologie und Kooperation hat man dieses Problem gemeinsam gelöst. Ich denke, das schaffen wir auch bei der Klimakrise. Wenn wir wegkommen von der Haltung: Der oder die muss was tun – wir alle müssen was tun. Wiesinger: Bei den FCKWs hat man sich international zusammengesetzt, die FCKWs verboten und der Industrie gesagt: Sucht eine andere Lösung. Die Industrie hat diese gefunden. Bei der Mobilität gibt man aber gleichzeitig auch die scheinbar einzige Lösung vor: E-Mobilität. Das ist eine Zwangsgeschichte. Natürlich können und müssen wir den öffentlichen Verkehr verbessern, aber bis 2030 ist es nicht zu schaffen, die Kapazitäten auch für die Spitzenzeiten mehr als zu verdoppeln. Damit produzieren wir Mobilitätsarmut. Wir nehmen Menschen Lebenschancen, Chancen, am sozialen und beruflichen Leben teilzunehmen. Obwohl es andere Lösungen gäbe und die Politik sagen könnte: „Liebe Industrie, meine Vorgabe lautet: null Treibhausgas! Aber ihr seid diejenigen, die sich die technischen Lösungen überlegen – ob Wasserstoff, E-Fuels, Elektro, ist eure Entscheidung!“ Was man stattdessen seitens der Politik gemacht hat, ist im Stil von Planungskomitees à la Sowjetunion. Gratzer: Die Entscheidung für die E-Mobilität wurde auf EU-Ebene im Rahmen eines demokratischen Prozesses von EU-Parlamentariern aus 27 Ländern gemeinsam mit der EU-Kommission und den Regierungen der Mitgliedsstaaten – inklusive Österreich – getroffen. Diesen unterstellen Sie, dass sie das Ziel haben, den Menschen Autofahren zu verbieten und in einem Prozess wie im ehemaligen Kommunismus Menschen etwas vorzuschreiben? Ich finde das eine gewagte Aussage. Es gibt ja auch Autohersteller, die auf E-Mobilität setzen. Wiesinger: Zwangsweise. Gratzer: Nein, viele Hersteller sagen: Wir sind schon vor 2030 weg von den Verbrennern. Und ich bin absolut sicher: Im EU-Parlament, in der Kommission, in den Regierungen und bei den Autoherstellern gibt es sehr viele, die Autofahren toll finden und keinesfalls den Menschen das Auto wegnehmen wollen. Wenn wir die Diskussion so führen, geht das am zentralen Thema vorbei. Es geht darum: Wie bekommen wir die Verkehrswende hin, damit wir die extremen Treibhausgasemissionen, die Mobilität und Güterverkehr verursachen, reduzieren? Wiesinger: Klimaschutz hat Priorität, da sind wir uns einig. Aber es ist nicht das einzige Thema, das wir im Auge haben müssen. Neben dem Erreichen der Klimaziele müssen wir auch die Mobilität und ihre Leistbarkeit erhalten. Wir nennen das „magisches Dreieck“. Wir müssen immer alle drei Ziele gleichzeitig im Blick haben. Es darf nicht sein, dass ich den Menschen über den Preis ausrichte: Du sollst nicht Auto fahren, steige auf Öffis um! Damit schrän- Wiesinger: Ich kann bei vielen Themen durchaus mit. Dass wir Strukturprobleme haben, liegt auf der Hand. Aber die Frage ist doch: Wie schnell kann ich solche Strukturen ändern? Da muss man beispielsweise auch auf die Investitionszyklen von jenen Rücksicht nehmen, die ein Einkaufszentrum am Ortsrand gebaut haben. Ich habe in der Demokratie nicht die Möglichkeit, per Order zu sagen: Das und das wird gemacht. Ich möchte auch kein chinesisches System haben. Wir wissen, dass wir unsere Struktuke ich die Landbevölkerung in ihrer Mobilität und damit in ihren Lebensmöglichkeiten ein. Gratzer: Der Vorteil von klimaverträglicher Politik ist doch, dass sie sozialer und leistbarer ist. Wir leiden an den negativen Auswirkungen der extrem autozentrierten Siedlungs- und Verkehrspolitik der letzten Jahrzehnten. Und seit Jahrzehnten hören wir die Klage, die Menschen auf dem Land hätten keine andere Möglichkeit als das Auto. Ich meine: Diese Situation gehört jetzt endlich nicht mehr nur beklagt, sondern geändert. DIE FURCHE: Herr Wiesinger hat von einem „magischen Dreieck“ gesprochen, Sie sprechen die Endlosschleifen in der Diskussion über das Auto-Muss auf dem Land an. Wie kommen wir da raus? Gratzer: Zuerst einmal müssen wir aufhören, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Auf allen Ebenen gehört die energieeffizientere, sozial- und klimaverträgliche Variante gewählt. Wir müssen die Zersiedelung stoppen, die mit ihrem hohen Bodenverbrauch auch ein Treiber der Klimakrise ist. Die Ortskerne gehören gestärkt, und in den ländlichen Regionen müssen wir eine Infrastruktur für ausreichend Öffis und bewegungsaktive Mobilität schaffen. Es ist teuer, wenn Foto: Rita Newman „Das Mobilitätsverhalten ist veränderbar“, sagt Christian Gratzer, Pressesprecher des Vereins „VCÖ – Mobilität mit Zukunft“. Menschen ihre Einkäufe nicht zu Fuß erledigen können und aufs Auto angewiesen sind. Nicht der Anteil an Autohaushalten nimmt in Österreich zu, sondern der Anteil an Haushalten mit Zweit- und Drittwagen. Das sind Versäumnisse aus der Vergangenheit, die uns aus sozialer, ökonomischer und ökologischer Sicht sehr teuer kommen. „ Das Gute ist: Wir haben heute schon die Instrumente, um den Energiebedarf des Verkehrs und den Treibhausgasausstoß deutlich zu reduzieren. “ Christian Gratzer, VCÖ Foto: ÖAMTC „E-Mobilität ist eine Zwangsgeschichte“, sagt Bernhard Wiesinger, Leiter der ÖAMTC - Abteilung „Interessenvertretung“. ren ändern müssen. Es sind auch alle relevanten politischen Kräfte dafür, aber die Umsetzung dauert. Für die Zwischenzeit brauche ich Zwischenlösungen, die für die Menschen praktikabel und leistbar sind. DIE FURCHE: Was ist das größte Hindernis für ein attraktives Öffi-Angebot auf dem Land? Wiesinger: Einen akzeptablen Takt in einem 500-Einwohner- Dorf kann man nicht bezahlen. Aber auch die Menschen dort haben ein Recht auf Mobilität. Ohne dauerhafte Förderung funktionieren Sammeltaxis oder andere Varianten des Mikro-ÖV (öffentlichen Verkehrs) nicht. Damit sind wir mitten im Verteilungskampf: Rollt man Mikrosysteme aus, hat der traditionelle öffentliche Verkehr – zum Beispiel die Buslinie, die von A nach B bedient – Angst, dass vielleicht kein Geld mehr übrigbleibt. Damit sind wir tief in alten Strukturen, wo die eigenen Pfründe mit Hauen und Stechen verteidigt werden. Das ist die Realität. Gratzer: Regionen in Österreich und Südtirol beweisen, dass es sehr wohl möglich ist, auch in nicht so stark besiedelten Gebieten ein gutes Öffi-Angebot zu schaffen. Beispielsweise im Bregenzerwald. Wien hat in vielen Bereichen das 15-Minuten-Konzept schon geschafft. Das heißt, man kann innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad die alltäglichen Infrastrukturen erreichen: Geschäfte, Schule, Kindergarten. Wir brauchen solche Konzepte auch für die Regionen. Damit das gelingt, müssen wir aufhören, immer alles nur vom Auto aus zu denken. Das Auto ist ein wichtiger, aber nicht der einzige Bestandteil der Mobilität. Im Gegenteil, das autozentrierte Verkehrssystem bringt für viele auch Einschränkungen mit sich. Dort, wo wir die Bedingungen dafür schaffen, werden alternative Angebote auch genutzt. Diese Debatte müssen wir führen. Das Verkehrssystem der Zukunft muss sozial, inklusiv und barrierefrei sein. MOBILITÄTS-INNOVATIONEN Autokult recycelt und neu designt Während in der deutschen VW-Autostadt Wolfsburg die aktuelle Ausstellung „Future of Motion“ Zukunftsentwürfe von 15 Design- und Architekturschulen weltweit für eine Mobilität ohne (Verbrenner-)Individualverkehr liefert, schwelgte man am Wochenende im niederösterreichischen Eggenburg noch in VW-Käfer-Nostalgie. Ein Autokorso fuhr ins nahe Schloss Harmannsdorf, wo Bertha von Suttner „Die Waffen nieder!“ schrieb. „Neue Auto-Ideen hoch!“ passt stattdessen gut für den mobilen Zeitgeist. Hier drei der neuesten Entwicklungen aus der Autobranche: AUS FISCHERNETZ MACH AUTOSITZ Um Batteriesysteme von Elektroautos im großen Stil wiederverwerten zu können, hat Mercedes- Benz im März mit dem Bau einer Recyclingfabrik in Baden-Württemberg begonnen. Volkswagen sucht für sein „weltgrößtes Trainingscamp für Batterietechnologie“ in Salzgitter/Niedersachsen nach Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit chemischem Spezialwissen und will Chemie laboranten als Lehrlinge ausbilden. Auch bei der energieeffizienten Herstellung und Wiederverwertung von Aluminium und Stahl stehen die Weichen auf CO₂-Minimierung: Die Karosserie für den neuen Mercedes-Benz EQS besteht zu 80 Prozent aus rezykliertem Stahlschrott. Kunststoffgarne für Autositze und -teppiche stammen zunehmend von rezyklierten PET-Flaschen, Sicherheitsgurten und Textilresten. BMW sammelt weltweit in Häfen gebrauchte Fischernetze und Seile, um daraus Econyl- Garne für seine Autotextilien herzustellen. AUS E-MOBIL MACH AUTOGOTT Vollelektrisch angetriebene Hypercars sind in jeder fahrtechnischen Hinsicht extrem – und ein weiterer Beweis auf vier Rädern, dass mit E-Mobilität die Lust auf „schneller, schöner und teurer“ nicht abgedreht wird. Die Tendenz zu „grotesk hohem Leistungsvermögen“ ist im E-Sektor sogar ausgeprägter. Das österreichische Unternehmen Deus Automobiles schraubt gerade die Rekordmarken weiter nach oben: 1650 kW (2200 PS) wird ab 2025 im Zulassungsschein des Deus Vayanne (gesprochen Vienne) stehen; sein Drehmoment entspricht Schwer-Lkws. Damit lässt sich das viereinhalb Meter lange und 1810 Kilogramm schwere Auto in 1,99 Sekunden auf 100 km/h und bis zu einer Höchstgeschwindigkeit von über 400 km/h beschleunigen. Interessenten sollten trotz eines Kaufpreises von zwei bis drei Millionen Euro schnell sein – nur 99 Stück dieser teuflisch schnellen Deus-Hypercars werden gebaut. AUS AUTOJOBS MACH FAHRRADBOOM Der europäische Verband von Automobilzulieferern CLEPA rechnet bei der Umstellung auf Elektrofahrzeuge bis 2040 mit einem Nettoverlust von europaweit 275.000 Arbeitsplätzen. Derzeit sind in der EU 3,4 Millionen Menschen direkt und indirekt in der Autoindustrie beschäftigt. Angesichts dieser Prognose präsentiert sich der Fahrradsektor als Job-Alternative. Mit 16,1 Millionen produzierten Fahrrädern und E-Bikes ist die Fahrradproduktion in der EU derzeit auf dem höchsten Stand seit Beginn der Statistik im Jahr 2000. Ein Verantwortlicher der „European Cyclists’ Federation“ erklärte dem Nachrichtenportal Euractiv: „Die Fahrradindustrie in Europa kann Hunderttausende von neuen Arbeitskräften aufnehmen, die über die Fähigkeiten zum Schweißen, zur Elektrifizierung, zur Montage und zur Herstellung verfügen, die wir brauchen, um die Industrie wachsen zu lassen.“ (Wolfgang Machreich) Foto: Wolfgang Machreich Herbie, die Kino-VW-Käfer- Persönlichkeit mit Herz und Verstand, zeigt, dass für viele ein Auto nicht nur ein Auto ist. Auch die E-Mobilität versucht, auf diese emotionale Schiene zu setzen.
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