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DIE FURCHE 04.04.2024

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DIE FURCHE · 14 20 Film 4. April 2024 DOKUMENTARFILM Hommage an eine Stadt der Moderne Es war eine Zeit des Aufbruchs, die in einer architektonischen Sternstunde gipfelte. 1947 hatte Indien die britische Kolonialherrschaft abgeworfen, 1950 beauftragte Jawaharlal Nehru, der erste Ministerpräsident, den französischen Architekten Le Corbusier mit der Planung der Stadt Chandigarh. Sie wurde zur Manifestation der Moderne und dem Glauben an die Wirkmacht der Architektur. „Kraft der Utopie“, der Film der Schweizer Dokumentarfilmer Karin Bucher und Thomas Karrer, feiert die Schönheit dieser Stadt und sucht in ihrer Planung nach zukunftsfähigen Antworten auf urbanistische Fragen der Gegenwart. Dunkelrote Ziegelmauern, weiße Wendeltreppen, rote, gelbe, blaue Fensterlaibungen, große Parks, tausende Bäume: „Welcome to Chandigarh, the City Beautiful.“ Selbst die Kanaldeckel sind mit einem abstrahierten Masterplan gestaltet. Fast alle, die zu Wort kommen, schwärmen von den räumlichen Qualitäten, der Großzügigkeit und Schönheit dieser grünen Stadt, die auch das Denken der Menschen befreit. Man sieht sie bei Gymnastik im öffentlichen Raum. Es gibt Kino, Kultur, Reihenhäuser und ein Regierungsviertel mit ikonischen Bauten. Seit 2016 zählt Letzteres zum Weltkulturerbe, Chandigarh droht museal zu erstarren. Die Zeit und der Wandel von einer idealistischen zu einer kapitalistischen Gesellschaft nagen an der Konzeption. Die Gartenstadt ist kaum zu verdichten, das treibt Immobilienpreise in die Höhe. Chandigarh wird für die untere Mittelschicht zunehmend unleistbar, immer mehr Reiche kommen, an den Rändern bilden sich Slums. Die indische Kultur überformt die Stadt, in dieser interkulturellen Transformation liegt ihre Zukunft.(Isabella Marboe) Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh CH 2023. Regie: Karin Bucher, Thomas Karrer. Polyfilm. 84 Min. Die indische Millionenstadt Chadigarh wurde ab 1950 vom französischen Architekten Le Corbusier geplant. Von Heidi Strobel Öffnet die Fenster für die taufrische Sonne! Lasst ein bisschen klare Luft herein mit dem Duft Neorealismus – von Gärten und erblühten Wiesen! Denn der Frühling ist da! So trällert in „Morgen ist auch noch ein Tag“ Fiorella Binis Stimme aus dem Off. Das Lied aus den 50er Jahren kommentiert nicht nur aber anno 2024 mokant die allmorgendliche Routine von Delia. Sondern es kündet zugleich von der vitalen tragikomischen Mischung, die diesen Film in Italien zum Publikumsmagneten machte. Es preist den Neuanfang, während sich doch alles wiederholt. Delia, die mit ihren vier Jobs ihre Familie über Wasser ob sie vielleicht mit dem Automechaniker satirisch-grotesken Biss durch Anleihen hält, macht das Frühstück und erhält von Nino durchbrennen sollte. beim Improvisationstheater der Commedia ihrem Ehemann Ivano dafür eine Watsche. Um das Herz des Publikums für die dell’arte und überträgt der Filmmusik (passgenau verantwortet von Lele Marchitelli) ei- So soll es wenigstens ihre Tochter Marcella Selbstfindung der umgänglichen Protagonistin zu öffnen, greift das Multitalent Corne Geschichte und Gegenwart vernetzende einmal besser haben als sie. Die italienische Regisseurin Paola Cortellesi, die zugleich in der Hauptrolle brilliert, media all’italiana zurück. Dieses beliebte de Ehemann Ivano nicht nur Züge des „bötellesi formal auf die sozialkritische Com- Funktion. So trägt der Delia drangsalieren- lässt ihr Debüt im Jahr 1946 in dem von den Genre, das sich in den 1950er Jahren herausbildete, befasste sich genau mit diesen argwöhnischen Figurentypus „Pantalone“; sen Nazi“, sondern auch des reizbaren und Alliierten befreiten Rom spielen, kurz bevor in einem Referendum entschieden wurde, ob Italien ein Königreich bleiben sollte. und Gesetzgebung jener Zeit, die gerade die paars phänomenal demonstriert, zwischen Themen, etwa mit der engstirnigen Moral er schwankt, wie eine Tanzszene des Ehe- Und so wie das Land vor einer wegweisenden Wahl steht, muss auch Delia entschei- dem in Schwarz-Weiß gedrehten Film auch Derart kreiert Cortellesi eine bewegende, Frauen benachteiligte. So erkennt man in Sadismus und Gönnerhaftigkeit. den, ob sie ihre Unmündigkeit, ihre Ehe mit Personal und Schauplätze des Neorealismus wieder, welche die Regisseurin jedoch zipationsgeschichte, die gerade auch Lina rhythmisch abwechslungsreiche Eman- dem sich als Alleinherrscher aufspielenden Ehemann (Valerio Mastandrea überzeugt im Brecht’schen Sinne verfremdet. Cortellesi frischt das Genre auf, schärft seinen von Belang. Bis heute sind Frauen, nicht nur Wertmüllers Erbe glänzend fortführt. Sie ist als brutaler Widerling) aufrechterhält, oder in Italien, männlicher Gewalt ausgeliefert. Morgen ist auch noch ein Tag (C’è ancora domani) I 2023. Regie: Paola Cortellesi. Mit Paola Cortellesi, Valerio Mastandreai. Tobis. 118 Lina Wertmüllers Erbe glänzend fortführt. “ Min. „ Paola Cortellesi kreiert eine bewegende und rhythmisch abwechslungsreiche Emanzipationsgeschichte, die gerade auch Rom, offene Stadt 1946 Nach der Befreiung durch die Alliierten spielt „Morgen ist auch noch ein Tag“, in dem Paola Cortellesi nicht nur Regie führt, sondern auch die Hauptrolle der Delia spielt. In „Morgen ist auch noch ein Tag“ greift Multitalent Paola Cortellesi auf die Commedia all’italiana zurück. DOKUMENTARFILM Die gut geölte Maschine namens Tourismus Zwischen der Urlaubswelt, wie wir sie kennen, und der Arbeitswelt, die sie ermöglicht, liegt in „Vista Mare“ maximal ein Schnitt. Der Dokumentarfilm von Julia Gutweniger und Florian Kofler bewegt sich an den Stränden der Adria, zwischen Lignano und Riccione – nur unweit von Venedig, doch so weit, dass die Lagunenstadt lediglich einen Auftritt als Fahrgeschäft hat: Ein paar des Sonnens müde Urlauber dümpeln, untermalt von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ aus dem Lautsprecher, durch eine nachgebaute Fassadenlagune. Unmittelbar dahinter: Laubwerk und, wenig lagunenhaft, Personal, das einen Fahrweg entlang radelt. Auch das eigentliche Zentrum der Betrachtung, der Strand, findet sich dort als Miniaturversion, und wie am realen Vorbild muss an ihm geschraubt werden. Gerahmt von einem durchaus dystopisch-minimalistischem Soundtrack verfolgen Gutweniger/Kofler den Jahreslauf der Tourismusmaschine: von den Vorbereitungsarbeiten, wenn Badeplätze aufgeschüttet, Sonnenschirme auf Funktion getestet oder Arbeitskräfte angelernt werden, über den Betrieb in der Hochsaison bis hin zum Einmotten im Herbst. Mit anthropologischem Blick widmen sie sich den Schritten, die das nur in panoramischen Einstellungen festgehaltene Massenvergnügen ermöglichen: der Zimmerreinigung und den Handgriffen in der Wäscherei, der Wartung und Befüllung von Automaten in einer Spielhalle, dem Zusammenbau des Eiswagens, damit der Mitarbeiter umherziehen und nasal schnurrend sein „Coccobello!“ anpreisen kann. „Vista Mare“ untersucht die Funktion dieser Maschinerie beziehungsweise dokumentiert die Eingriffe, die alles im Fluss halten – selbst die Badegäste in ihren Schwimmreifen. Der Ernstfall wird geprobt, wird antizipiert. Die Rädchen in dieser Maschine, das Heer der Saisonkräfte, bleibt namenlos, doch sickern bei aller dokumentarischer Distanz immer wieder vielsagende menschliche Momente durch. Damit verfolgen die Filmemacher konsequent den Weg, den sie mit ihren sehenswerten ersten langen Arbeiten „Brennero/Brenner“ und „Sicherheit123“ eingeschlagen haben. Auch bereiten sie in dieser Form ein vielschichtiges Feld für die Diskussion, was genau diese Maschine ausmacht und was der Preis dafür ist – und das nicht erst durch die Szenen einer Gewerkschaftsdemo gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen, die irgendwo am Rand eines dieser Orte durch die Straßen zieht, sorgsam begleitet von den Carabinieri und wahrgenommen nur von einer Handvoll Gäste, bis sie wieder wie ein Spuk verschwindet. Kein Ernstfall – die gut geölte Maschine namens Tourismus fließt weiter. (Thomas Taborsky) Vista Mare A/I 2023. Regie: Julia Gutweniger, Florian Kofler. Filmladen. 81 Min. „Vista Mare“ bewegt sich an den Stränden der Adria, zwischen Lignano und Riccione.

DIE FURCHE · 14 4. April 2024 Film & Medien 21 Matteo Garrone macht in „Ich Capitano“ aus der Flucht zweier senegalesischer Teenager wenig mehr als ein großes, weichgespültes Abenteuer. Ein zwiespältiger Film. Hochglanz-Kino Ein grundlegendes Problem von „Ich Capitano“ ist schon die Perspektive des Films, wenn ein Europäer ungebrochen aus afrikanischer Sicht erzählt. Matteo Garrones Ziel „anstatt wie üblich von Europa nach Afrika zu blicken, schauen wir von Afrika nach Europa“ ist von vornherein zum Scheitern verurteilt – oder als Akt kultureller Aneignung zu bezeichnen –, denn Garrone („Gomorrha“, „Das Märchen der Märchen“) ist nun mal Italiener und kein Afrikaner und kann nicht so leicht die Perspektive wechseln. Perfekt gecastet sind zwar die Laiendarsteller und stark spielen der bei den Filmfestspielen von Venedig als bester Schauspieler ausgezeichnete Seydou Sarr und Moustapha Fall. Authentisch wirken sie als Cousins Seydou und Moussa, die der Traum von einer Karriere als Rapper in Europa zur heimlichen Flucht verleitet, doch folkloristisch wirkt die Schilderung der senegalesischen Hauptstadt Dakar. Armut und Not werden hier nicht spürbar, sondern vielmehr zeichnet Garrone in kräftigen Farben und perfekt ausgeleuchteten Einstellungen ein Bild des prallen Lebens. Negiert werden damit auch existenzielle Fluchtgründe, denn das Leben in Dakar erscheint als durchaus angenehm. Mit Ortsinserts wird die Reise vom Senegal über Niger und durch die Sahara bis Libyen strukturiert, doch „Ich Capitano“ beschränkt sich dabei auf die Abfolge zwar bildstarker, aber oberflächlicher Szenen, die durch den Hochglanz-Look das Flücht- „Ich Capitano“ erzählt die Geschichte der senegalesischen Cousins Seydou und Moussa, die die Strapazen der Flucht nach Europa auf sich nehmen. lingselend schönfärben und weichspülen. Da mögen die beiden Teenager zwar von Schleppern ebenso wie von Polizisten immer wieder abgezockt und schließlich auch gefoltert und quasi als Sklaven verkauft werden, so geht dieses Drama doch nie in die Tiefe. Verheerend ist auch der Musikeinsatz, durch den die im Grunde erschütternde Geschichte ebenso wie durch Luftaufnahmen der durch die Wüste rasenden Pick-ups, die Erinnerungen an „Mad Max“ wecken, zu einem Abenteuerfilm aufgeputscht wird. Ganz im Gegensatz zu Agnieszka Hollands in seinem rauen, quasidokumentarischen Gestus aufwühlenden „Green Border“ wird hier eine Migrationsgeschichte, die aufgrund ihrer Härte zutiefst erschüttern müsste, für ein breites Publikum konsumierbar gemacht. Es reicht nicht aus, die beiden Teenager immer wieder in schockierende Situationen zu bringen, sondern Härte müsste der Film auch durch eine harsche Form entwickeln. Intensive Szenen fehlen zwar nicht, doch diese werden durch die glatte Erzählweise abgeschwächt und angesichts des realen Flüchtlingselends wirken poetische Traumsequenzen ebenso deplatziert wie das Finale, in dem diese Flüchtlingsgeschichte zur irrational optimistischen Entwicklungs- und Heldengeschichte Seydous wird. (Walter Gasperi) Ich Capitano (Io capitano) I/B/F 2023. Regie: Matteo Garrone. Mit Seydou Sarr, Moustapha Fal. Panda Film. 121 Min. Schon im Vorfeld wurde darüber spekuliert, wofür wohl das „X“ im Titel von „Godzilla x Kong: The New Empire“ steht. Ist damit ein Multiplikationszeichen gemeint, dann hat der Film seinen Zweck erfüllt: Neben dem Riesenaffen King Kong und der gigantischen Echse Godzilla gibt es noch mehr CGI-generierte Monster als im Vorgängerfilm zu bestaunen. Der kürzlich mit seinem Titel wesentlich bescheidener aufgetretene „Godzilla Minus One“ (2023) der japanischen Konkurrenz Toho ist sicherlich der bessere Film, Spaß macht dieser zweite vom US-Studio Legendary produzierte Godzilla/Kong-Film aber allemal. Die Menschen (u.a. Rebecca Hall) bleiben Statisten und dienen nur dazu, dem Publikum zu erklären, welches Monster gerade gegen welches kämpft beziehungsweise warum das Schicksal der Welt davon abhängt. Regisseur Adam Wingard lässt seine Indie- Horror-Wurzeln endgültig hinter sich und legt nach „Godzilla vs. Kong“ (2021) sein zweites sinnentleertes Actionspektakel vor, dem man einen gewissen Unterhaltungswert aber nicht absprechen kann. Wenn am Ende die Gravitation innerhalb der Hohl- FEDERSPIEL SCIFI-ACTION-FILM Monströse Multiplikation Zeitungszeugnistag erde außer Kraft gesetzt wird und sich gigantische Affen mit anderen Viechern im luftleeren Raum prügeln, gibt es keine Regeln mehr und es regiert einzig kindliche Zerstörungswut. Ein Popcornfilm für Junge und Junggebliebene. (Philip Waldner) Godzilla x Kong: Das neue Imperium (Godzilla x Kong: The New Empire) USA 2024. Regie: Adam Wingard. Mit Rebecca Hall, Brian Tyree Henry.Hottle. Warner. 115 Min. Die Ergebnisse der Media-Analyse (MA) 2023 erscheinen am Erscheinungstag dieser FURCHE. Dabei handelt es sich um eine Art Zeugnisverteilung für Zeitungen und Magazine. Seit 1965 erforscht die MA mit enormem Aufwand, wie viele Leser und Leserinnen die einzelnen Titel haben. Rund 15.000 Interviews dienen dazu. Die Kosten liegen mittlerweile bei fast drei Millionen Euro – getragen von den beteiligten Titeln, Werbe- und Mediaagenturen. Sie eint das Interesse an verlässlichen Daten. Selten wurden sie mit solcher Spannung erwartet wie am 4. 4. 2024. Denn die MA vollzieht die vielleicht aufwändigste Reform ihrer 60-jährigen Geschichte. Der digitale Info-Konsum zwingt dazu. Deshalb ermitteln die Lesermarktforscher nun erstmals nicht nur die Reichweiten für die Papierausgaben und E-Paper, sondern auch die Nutzung der Online-Auftritte. Dazu gibt es auch einen Abgleich mit der Web-Analyse (ÖWA), der wichtigsten Erhebung für Internet-Angebote. Die teilnehmenden Titel können dann eine Markenreichweite ausweisen (CMR, der Cross Media Reach). Das wird kein komplett neues Bild der Medienlandschaft zeichnen, könnte aber Positionen verschieben. So war bisher schwer nachvollziehbar, wie Der Standard gemäß seiner Auflage auf Papier und E-Paper nur Zehnter des Dutzends Tageszeitungen ist (bloß vor den Vorarlberger Blättern), seine Reichweite laut MA aber die viertgrößte nach Krone, Kleine und Heute sein sollte. Diese Überbewertung dürfte vor allem digitaler Stärke geschuldet sein. Solche Irritationen sollte die Markenreichweite verhindern. Langfristig wäre es für alle Medien wichtig, ihre Nutzung auch in einer gemeinsamen Studie abzubilden statt nur via MA, ÖWA, Teletest und Radiotest. Die MA war früher schon solch ein Sammelort. Sie sollte es wieder werden. Als vertrauensbildende Maßnahme – zwischen den Medien und zum Publikum. Der Autor ist Medienberater und Politikanalyst. Die gigantische Echse Godzilla prügelt sich mit dem Riesenaffen King Kong – ein Popcornfilm. Von Peter Plaikner KREUZ UND QUER MIT GOTT AN DIE MACHT – EVANGELIKALE EROBERN DIE WELT DI 9. | 16. | 23. APRIL | 22:35 Das evangelikale Christentum wächst weltweit rasant – ebenso wie sein politischer Einfluss: Die Anhänger:innen dieser fundamental-konservativen christlichen Bewegung haben so umstrittene Politiker wie Donald Trump an die Macht gebracht. Und sie arbeiten daran, dem ehemaligen US-Präsidenten in diesem Jahr eine zweite Amtszeit zu bescheren. „kreuz und quer“ spürt in einer dreiteiligen Dokumentation den Hintergründen des Evangelikalismus nach – und zeigt seinen Einfluss in den USA, in Südamerika und im Nahen Osten. religion.ORF.at Furche24_KW14.indd 1 25.03.24 09:22

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