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DIE FURCHE 04.04.2024

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DIE FURCHE · 14 18 Literatur 4. April 2024 Stadt der Liebe Paris ist der Ausgangspunkt in Anne Webers (*1964) Roman „Luft und Liebe“. Seit 1983 lebt die gebürtige Deutsche in Frankreich, wo sie als Autorin und Übersetzerin tätig ist. Von Rainer Moritz Eine in Paris lebende Schriftstellerin von Anfang 40 schreibt einen Roman über eine in Paris lebende Schriftstellerin von Anfang 40. Natürlich, so erfährt man auf den ersten Seiten, verbirgt sich hinter dem Titel „Luft und Liebe“ eine Liebesgeschichte. Und natürlich zeigt das Buchcover klassische Pariser Häuserfronten, und natürlich stellt sich prompt die Angst ein, man könnte es mit einer der zahllosen Schmonzetten zu tun haben, die das parfum- und croissantgetränkte Flair von Seine, Jardin du Luxembourg und Montmartre heraufbeschwören, um beseelte Buchhändlerinnen oder Straßenmusikanten durch die in sattsam bekannten Pastellfarben präsentierte „Stadt der Liebe“ streifen zu lassen. Doch keine Sorge, die Autorin heißt Anne Weber, wurde 2020 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet und ist nicht dafür bekannt, ihre Leserinnen und Leser mit Konfektionsware zu bedienen. Folglich erzählt sie uns eine Geschichte, die mit allen postmodernen Wassern gewaschen ist, und beim Geschichtenerzählen ständig darüber reflektiert, was es heißt es, eine selbst gemachte Erfahrung durch das Ich-Pronomen vermeintlich zu beglaubigen. Anfangs, so gibt die raffinierte Ich-Erzählerin, die Ähnlichkeiten mit der Autorin Anne Weber zu haben scheint, an, dass sie eine Stellvertreterfigur namens Léa er- Neu aufgelegt: In ihrem Roman „Luft und Liebe“ erzählt die 2020 mit dem Deutschen Buchpreis geehrte Autorin Anne Weber leichtfüßig von Liebesverrat und geplatzten Träumen. Einstürzende Schlösser funden und diese in ein Manuskript namens „Armer Ritter“ gesteckt habe. Doch dieser Trick führte nicht zum erhofften Erfolg, der Text landete prompt im Papierkorb, und Léas Geschichte wird auf die Ich- Erzählerin rücküberführt, die genau weiß, dass das Ich die „Person“ ist, „die einem am ehesten abgenommen wird“. „ Aus dem Leben einen Text zu machen, das könnte die einzig mögliche Rettung sein. So entstehen Luftschlösser, die allen realen Schlössern weit überlegen sind. “ Anne Webers Roman (die Titelei verzichtet anders als der Umschlag eigentümlicherweise auf diese Gattungszuschreibung) erschien zuerst 2010, und seine durch den Verlagswechsel der Autorin von S. Fischer zu Matthes & Seitz bedingte Neuauflage liest sich nun als kluger Beitrag zum in letzter Zeit bis zum Überdruss verwendeten Begriff des Autofiktionalen. Was es heißt, als Autor oder als Autorin eigenes Erleben (oder ein Erleben, das so tut, als sei es ein eigenes) in Literatur zu überführen, das lässt sich in „Luft und Liebe“ gut nachvollziehen. Denn in der Literatur gehe es, „wenigstens, wenn sie sich auf das eigene Leben stützt“, um die „geglückte Verwandlung von Tiefpunkten in Höhepunkte“. Illustration: Rainer Messerklinger Tiefe Täler hat die Erzählerin in diesem Roman einige zu durchschreiten und das anfängliche Liebesglück verwandelt sich, das wird früh verraten, in sein Gegenteil. Alles beginnt damit, dass die in einer bescheidenen Wohnung im zweiten Pariser Arrondissement lebende Erzählerin ein Interview gibt. Ihr Gesprächspartner ist ein nicht mehr ganz junger Mann, der den altertümlichen Namen Enguerrand trägt. Sechs Jahre vergehen, bis der Zufall die beiden wieder zusammenführt, und mit einem Mal scheint klar, dass nichts anderes als ein Liebespaar aus ihnen werden kann. Enguerrand empfängt die Geliebte auf seinem leicht maroden Schloss, das vielleicht in der Normandie oder aber in der Bourgogne liegt. Man spricht von Heirat, macht sich – die biologische Uhr der Erzählerin tickt – hurtig daran, für Nachwuchs zu sorgen, und richtet trotz akutem Geldmangel ein Kinderzimmer im Schloss ein. Keine Mühen werden gescheut, als der Zeugungsakt mit klassischem Sex nicht zum Erfolg führt. Die Reproduktionsmedizin soll helfen, den sehnlichen Kinderwunsch zu erfüllen. Der Märchenprinz als Mogelpackung Doch wehe: Der Schlossherr erweist sich als Mogelpackung, der ein Doppelleben führt. Damit konfrontiert, plant die Erzählerin einen Rachefeldzug, der den perfiden Schlossherrn in aller Öffentlichkeit bloßstellen soll. Der Traum vom Dasein als Märchenprinzessin ist ausgeträumt, und die schöne Vorstellung, von Luft und Liebe zu leben, zerplatzt wie eine Seifenblase. Ja, Anne Weber erzählt ungeachtet aller eingestreuten Reflexionen eine Geschichte, die „abscheulich“ und „peinlich“ ist. Doch all das verändert sich durch die Niederschrift, verliert so seine Abscheulichkeit und Peinlichkeit. „Kann es sein, dass das Leben keinen anderen Sinn hat, als erzählt zu werden?“, heißt es im Schlusskapitel, das trotz allem einen leichten Ton anschlägt. Die von Enguerrands Betrug gebeutelte Erzählerin scheint bei ihren Gängen durch Paris nicht resignieren zu wollen. Ihr ist, als hätte sie den „Tod gesehen“, und vielleicht ist es gerade diese Erfahrung, die neue Hoffnung nährt. Aus dem Leben einen Text zu machen, das könnte die einzig mögliche Rettung sein. So entstehen Luftschlösser, die allen realen Schlössern weit überlegen sind. Luft und Liebe Roman Von Anne Weber Matthes & Seitz 2023 188 S., geb., € 20,60 LEKTORIX DES MONATS Leben zwischen zwei Welten Buchpreis von FURCHE, Stube und Institut für Jugendliteratur Kanak Kids Halb angepasst und voll dazwischen Von Anna Dimitrova Arctis 2024 384 S., geb., € 19,60 Von Alexandra Hofer Dessi trägt Jogginghosen, eine braune Lockenmähne und lässt sich von niemandem den Mund verbieten. Daisy trägt kurze Röcke, blaue Kontaktlinsen, blonde Haare und ist darauf bedacht, was ihr Umfeld von ihr hält. Dessi und Daisy sind dieselbe Person, führen aber unterschiedliche Leben; mal entscheidet sie sich für den Döner „ohne Zwiebel“ und mal lacht sie andere dafür aus. Anna Dimitrova erzählt aus einer konsequenten Innenansicht, wie zwei Seelen in einem Körper wohnen. Dass im Münchner Brennpunktviertel Neuperlach viele Menschen auf engem Raum wohnen und dabei heteronormative Ansichten und Werte vertreten werden, ist nicht verwunderlich. Dass in der Innenstadtschule und im Münchner Villenviertel nicht verstanden wird, dass es Alltagsrassismus auch gegenüber Osteuropäern gibt, hingegen weniger. Ausgerechnet eine gefakte Liebesbeziehung zwischen Dessi und dem queeren Bo aus derselben Gegend ist der Weg, mit dem sich die beiden Jugendlichen ein Stück Freiheit schaffen, sich mit ihren echten Partnern und Partnerinnen treffen, sie selbst sein können und zugleich ihre Herkunft ein Stück weit verraten. Dabei nimmt sich die abseits der Normen agierende Dessi selbst nie ganz ernst, überspielt mit Witzen Unsicherheiten und träumt von einer Comedykarriere. Bei all den humoristischen Einschüben, die das Lesen überaus kurzweilig gestalten, verbleibt das Thema der Problematik von Anpassung – in beide Richtungen – vorherrschend: Alltagsrassismus, mit Foto: iStock/finwal dem Menschen in der zweiten oder dritten Generation konfrontiert werden, bleibt stets präsent, wenn die Autorin überzeugend zwischen zwei Welten und Sprachstilen changiert und dieserart die Lebensrealität vieler Menschen nachzeichnet. Dabei beweist sie ein feines Gespür für den Situationston, holt gesprochene Sprache inklusive sprachlicher Verkürzungen und grammatikalischen Fehlern schonungslos in den Text und stellt dieserart zwei Realitäten gegenüber, die in der Protagonistin gebündelt werden. Ohne zu moralisieren, wird dabei die Notwendigkeit von Akzeptanz und Toleranz in der Mehrheitsgesellschaft deutlich. Dass die Schnittstelle zwischen den beiden Welten am Ende über die Liebe entsteht und alle glücklich und verständnisvoll sind, tut der Stimmigkeit des Romans keinen Abbruch, wenn Dessi am Ende selbstsicher der inneren Zerrissenheit ein Stück weit entgegentritt: „Zu wem du gehörst, darfst du von Tag zu Tag neu entscheiden.“

DIE FURCHE · 14 4. April 2024 Literatur & Theater 19 Vor 80 Jahren, am 4. April 1944, wurde Robert Schindel in Bad Hall geboren. Nur knapp entkam er als Kind jüdischer Kommunisten der Deportation durch die Nationalsozialisten. Die Vergangenheit ist auch in seinem jüngsten Lyrikband „Flussgang“ präsent. Das Knistern des Daseins Von Maria Renhardt Mit seinem 1992 erschienenen Roman „Gebürtig“ ist der 1944 in Oberösterreich geborene und in Wien lebende Autor Robert Schindel bekannt geworden. Als Kind jüdischer Kommunisten war er dem Schrecken der Nazizeit unter Lebensgefahr ausgesetzt. Nur knapp ist er als Kind einer Deportation entkommen. Seine Mutter hat das KZ überlebt, sein Vater nicht. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit lässt ihn, der sich von seiner Jugend an als politischer Mensch begreift, sein ganzes Leben auch in der Literatur nicht mehr los. Herzstück seines Schaffens Obgleich Schindel einiges an Prosa und neben Essays und Reden sogar ein Theaterstück publiziert hat, kann man die Lyrik als Herzstück seines Schaffens betrachten. Die letzte Veröffentlichung, der Lyrikband „Scharlachnatter“, liegt bereits Jahre zurück. Nach dieser langen Pause hat Schindel bei Suhrkamp nun erneut Gedichte herausgebracht, „55 hochpersönliche“, wie es in der Verlagsankündigung heißt, mit dem Titel „Flussgang“. In sieben Kapiteln durchstreift Schindel scheinbar alltägliche Themen wie Natur, Zeit, Liebe, Alter, Vergangenheit oder Sprache – und das noch immer mit Tiefe und Originalität. Bereits die erste Kapitelüberschrift birgt ein Paradox in sich: „In alter Haut fühl ich mich splitterneu“. Das Alter und eine Ahnung vom Tod haben sich zwar in diesen Gedichten etwas breit gemacht Foto: © Rafaela Pröll/Suhrkamp Verlag. „ In London gedenkt das lyrische Ich der einst Vertriebenen, die hier ‚Exul‘ gefunden haben. Auch die ‚Glasnacht‘ ist als traumatische Erinnerung präsent ... “ und blitzen gerne auf, aber so richtig nachhaltig vermag das Jenseits nicht in Schindels Lyrik sinken, auch wenn „Teile des eigenen Gedächtnisses als Eisscholle“ davonschwimmen und das Schreiben stockt, weil Worte fehlen. In einem schönen Bild des Kreisels verdichtet sich die vergehende Zeit, Widrigkeiten des Lebens, Winde und Regengüsse, setzen dem Kreisel zu, bis er „brüchig“ wird: „Als Tränenrost häufelt es mich in den Daseinsecken“. Die Zeit beginnt hinauszufließen und die Rückschau auf das Gewesene hinterlässt ein gutes Gefühl. Auch wenn das lyrische Ich zuweilen „das Sterben“ anrauscht und die Gedanken fortgleiten zu den Sternen, sich wiegend „auf der Deichsel des Großen / Wagens“ auf dem Weg zu den „Lichtern“, ist da immer noch diese „Freude“ der „späteren Jahre“: „Der Sternenhimmel der augustene über mir / Die Heimstatt das dunkle Lächeln / Das Pochen / All das Gegenwärtige / Greift“ und „das Dasein“ knistert. In London gedenkt das lyrische Ich der einst Vertriebenen, die hier „Exul“ gefunden haben. Auch die „Glasnacht“ ist als traumatische Erinnerung präsent, taucht aus der Vergangenheit mit dem Bild der Galgen auf, während Robert Schindel Der Lyriker, Autor und Regisseur war Wortführer der Studentenbewegung „Kommune Wien“ und Mitbegründer der Gruppe „Hundsblume“. Petra Öllinger zitiert am 8.5. 2013 in „Bücher auf dem NS- Scheiterhaufen“ Schindels Mahnung, aktuelle Barbareien nicht zu übersehen: furche.at. die Täter von damals straflos ein hohes Alter erreicht haben. Und noch immer ein „Blutmeer“ in Lemberg. Robert Schindel gibt dieser Lyrik ein fast experimentelles Design. Wenn er die Worte verrückt, wachsen sie zu kühnen, erstaunlichen Bildern zusammen, sodass sich neue Resonanzräume auftun. Bleibt noch sein Blick auf die Natur, der immer wieder verdichtete poetische Gedankenketten auslöst: „Jede Dämmerung eine / Schubertsinfonie jede Nacht / Verhüllt Alberichverhältnisse aber / Jeder Morgen mit Rotkehlchen bevölkert“. R OBERT SCHINDEL FLUSSGANG GEDICHTE SUHRKAMP Flussgang Gedichte von Robert Schindel Suhrkamp 2023 96 S., geb., € 24,70 THEATER Eine Möwe versinkt in Pathos Geplagtes Ensemble: Claudius von Stolzmann (Boris A. Trigorin), Günter Franzmeier (Jewgeni Sergejewitsch Dorn), Sandra Cervik (Irina Nikolajewna Arkadina). Foto: Moritz Schell Von Christine Ehardt Möwe“ ist in Anton Tschechows gleichnamigem Stück „Die als Vogel präsent, symbolisiert das Freiheitsgefühl der jungen Schauspielerin Nina und die Hoffnung auf eine neue Kunst für den Dichter Kostja; natürlich müssen in dieser schwarzen Tragikomödie schlussendlich alle drei dran glauben, da macht auch Regisseur Torsten Fischer in seiner Neubearbeitung für die Wiener Kammerspiele keine Ausnahme. Bereits vor zwei Jahren hat er damit in nahezu gleicher Besetzung den Beginn der Intendanz Maria Happels bei den Festspielen Reichenau eingeläutet. Als Premierengast ist sie jetzt dabei, ihr werden von einigen Medienvertretern bereits gute Chancen auf die Nachfolge Herbert Föttingers eingeräumt. Fischer versetzt den Theaterklassiker optisch und sprachlich in die Gegenwart und reichert Tschechows Text mit zusätzlichen Zitaten aus dessen Werk an, lässt Adornos Ausspruch über Auschwitz einfügen und beschwört gar den Dritten Weltkrieg angezettelt von Russland herauf. Ein bisschen viel des Guten und ein bisschen viel für das geplagte Ensemble, das sich mit all den bedeutungsschwangeren Textzusätzen abzumühen hat. Der vielbeschworene See um den sich die larmoyante Upperclass-Gesellschaft scharrt, flimmert als Videoprojektion die gesamte Aufführung über auf der Bühnenwand. Bisweilen spielen sich hier vorab aufgenommene Szenen inklusive des letalen Gewehrschusses am Ende ab, aber auch witzige Momente, etwa wenn sich Sandra Cervik als alternde Schauspielgöttin Irina per Boot auf die Suche nach ihrem polyamorösen Ehegatten Boris (Claudius von Stolzmann) macht. Auf der ansonsten kargen Bühne wechseln sich von Beginn an die Liebespaare im Bettgeflüster ab, Neo-Autor Kostja (Nils Arztmann) raschelt dazwischen nervös mit den Vorhangstoffen, während er mit Noch-Freundin Nina (Paula Nocker) darauf wartet, seiner Mutter Irina die Vision einer neuen Theaterform zu präsentieren. Fischer stellt die dysfunktionale Mutter-Sohn-Beziehung inklusiver inzestuöser Anspielungen in den Mittelpunkt des Stücks, lässt aber auch interessanten Nebenfiguren wie der unglücklich verliebten Mascha (Johanna Mahaffy) Platz zur Entfaltung. Tschechow wollte seine Möwe als Komödie verstanden wissen, die in den Abgrund führt, und beklagte einst die Rührseligkeit der Uraufführung von 1896. Fischer entscheidet sich für eine salomonische Lösung. Die erste Hälfte wirkt beschwingt und mit Verve inszeniert, der zweite Teil nach der Pause verfällt in übertriebene Melodramatik. Zwischen Leichtigkeit und Pathos zu changieren gelingt nicht jedem so bravourös wie Arztmann als verzweifeltem Muttersöhnchen und Martin Schwab als dessen alkoholkrankem Onkel Pjotr, der es sogar noch am Sterbebett schafft, Schwung in die Aufführung zu bringen. Insgesamt ein durchwachsener Abend, der mit charmanten Inszenierungseinfällen startet, doch am Ende nicht ganz zu überzeugen vermag. Die Möwe Kammerspiele der Josefstadt, 4., 5., 15.4.

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