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DIE FURCHE 04.04.2024

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13 · 28. März 2024

13 · 28. März 2024 DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 80. Jg. · € 6,– Ein Londoner Gericht hat entschieden, dass Julian Assange gegen seine Auslieferung in die USA erneut berufen darf. Der weltweite Protest zeigt offenbar Wirkung. Seiten 6–7 Es bleibt die Aufgabe der Kirche, zur Überwindung des Krieges aufzurufen – ohne „Ministrant“ des Aggressors zu sein, meint Wolfgang Palaver im „Diesseits von Gut und Böse“. Seite 15 Leben heißt sterblich sein. Das ist traurig und empörend, aber es ist so. Das Dom Museum Wien lädt mit alter und neuer Kunst zum Nachdenken über die Endlichkeit ein. Seite 17 FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic schreibt in ihrer Kolumne „mozaik“ über Flucht, Heimat und Identität. Nun sind die Miniaturen als Buch erschienen. Seite 19 Der neue Videogenerator Sora öffnet das Fenster in eine Zukunft, in der jeder zum Filmemacher wird. Führt das zum Abgesang auf eine alte Welt, die man einst Kino nannte? Seite 22 zum Durchbruch zu verhelfen. Solcher Populismus verhindert auch die gewiss nötige Auseinandersetzung zwischen Kunst und Glauben. Der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück versuchte eine kritische Bewertung der Arbeit – um den Preis, ins Fahrwasser angesprochener Ideologien zu geraten: „Die Allianz zwischen Kirche und Gegenwartskunst ist hier ein elitäres Projekt der Wenigen, bei dem das Votum der Vielen nicht gefragt ist“, so Tücks Verdikt auf communio.de. Solche Argumentation ist nicht hilfreich, Es mag da nur ein kirchliches Lüfterl sein, was weil sie populistisch vereinnahmt werden kann. sich dieser Tage rund um eine Kunstinstallation Zuletzt hatte – auch auf communio.de – Guido im Wiener Stephansdom abspielte: Dort hängt Schlimbach von der renommierten kirchlichen eine Fastentuchinstallation des kontroversiell Kunststation St. Peter in Köln die Wiener Installation aus künstlerisch-theologischem Blickwin- diskutierten Künstlers Gottfried Helnwein – unter anderem mit einem umgedrehten Kopf des kel kritisiert. Das ist etwas anderes, als mit einem wie immer gearteten „Volksempfinden“ das Turiner Grabtuchs. Das ab Karsamstag geplante Von Otto Friedrich Ostertuch Helnweins (auf dem ein Kind mit den Feld zwischen Kunst und Kirche neu zu belasten. Wundmalen Christi abgebildet ist) sowie ein für Das Skandalerl um St. Stephan wurde für alle Beteiligten eine Lose-Lose-Situation. Vielleicht Pfingsten gedachtes Abschlussbild werden nicht enn dieser Tage in den christ- Natürlich sind die massenpsychologischen aufgehängt: Das Domkapitel von St. Stephan hatte im letzten Moment kalte Füße bekommen. Besinnung zu kommen. Und statt realer oder vir- ein Anlass, gerade im Blick auf den Karfreitag zur lichen Liturgien landauf landab Formen im Zeitalter der Digitalisierung andere die Hinrichtung Jesu am Kreuz als in der Antike. Aber auch in den sozialen Medien ist eine global vernetzte Schar schnell mit Kampagne statt Kunst-Kontroverse tueller Zusammenrottung auf Dialog zu setzen. erinnert wird, ist selten von den politischen Implikationen die einem „Kreuzige ihn!“ zur Stelle, die Anonymität Die Ereignisse markieren kaum eine Kontroverse um Kunst und Kirche, sondern sind das Er- otto.friedrich@furche.at Rede, die in den Berichten der Evangelien auch der Menge ist gegeben – ob es sich um den realen enthalten sind: Eine aufgehetzte Menge forderte Aufruhr vor dem Palast des römischen Statthalters handelt oder um virtuelle Zusammenrottunten Kampagne. Insbesondere eine Petition der gebnis einer auf rechten Plattformen ausgespiel- den Kopf Jesu. Dass die Christen über Jahrhunderte diese Menge mit „den Juden“ identifizierten und so Antisemitismus legitimierten, der bis gesinnte verbreitet werden kann. vor, die die „satanische Bildsprache“ Helnweins gen, wo jeder verbale Unrat wider nicht Gleich- einschlägigen Plattform CitizenGO tat sich her- heute sein Unwesen treibt, ist eine dunkle Seite der Religionsgeschichte. Die Manipulierbartie sind so in Gefahr. Das ist evident. Was Elias dagegen ins Treffen führte. Schon 2023 hatte sie Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Recht und Gerechtigkeit, aber auch Demokra- brandmarkte sowie rund 8000 Unterschriften Retouren an Postfach 555, 1008 Wien keit der Masse – die Passionsgeschichte kann da Canetti Jahrhunderte später in „Masse und die Abhängung eines Fastentuchs in Innsbruck DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0 doch als Parabel herhalten – ist aber ein Menschheitsproblem, das vor 2000 Jahren ebenso viru- wieder, der zurzeit vielerorts grassiert. Dieser Das rechte Eifern gegen das Stephansdom- Macht“ analysierte, findet sich im Populismus erreicht, auf dem ein Schweineherz prangte. lent war wie heute. Und sie ist ein gefährliches setzt auch auf die Verführbarkeit von Massen Fastentuch ist ein – letztlich erfolgreiches – Unterfangen, mittels „Volkszorn“ ideologischen Po- politisches Phänomen, weil sie den gesellschaftlichen Frieden – damals wie heute – bedroht. tuellen Aufruhr, der nicht minder bedrohlich ist. sitionen gegen einen behaupteten und kanalisiert Unzufriedenheit vermehrt in vir- „Satanismus“ Anna Netrebko debütierte als La Gioconda, es tanzten unter anderem Mitglieder von SEAD (Salzburg Experimental Academy of Dance). Von Walter Dobner n Salzburg jagt eine Entscheidung die andere. Zuerst die Wahlen zum Gemeinderat, dann die Bürgermeister-Stichwahl, und in wenigen Tagen wird man wissen, wer ab Herbst 2026 die Geschicke der Salzburger Festspiele leiten wird. Bleibt Markus Hinterhäuser, kommt ein neuer Intendant? Die Anforderungen an den künftigen Festspielchef sind gewaltig. Ab Beginn seiner Tätigkeit steht für jedenfalls vier Jahre das Große Festspielhaus nicht zur Verfügung, das dringend saniert werden muss. Damit gilt es nach einem zusätzlichen Aufführungsort Ausschau zu halten. Denn die Felsenreitschule verfügt über weniger Plätze, und dass der Ansturm auf die Karten nachlassen wird, ist nach den Erfahrungen der letzten Festspiel- Sommer nicht zu erwarten. Sollte man anlässlich der neuen Intendanten-Kür nicht auch gleich darüber diskutieren, künftig die Osterfestspiele unter dem Dach der Festspiele zu vereinen, wie man es mit Pfingsten längst – und erfolgreich – gemacht hat? Da- trebko an der „Met“ nach wie vor unerwünscht ist, kamen Fans extra angereist. Am Ende der Premiere gab es frenetischen Applaus, Standing Ovations inklusive. Selbst wenn es einige Zeit dauerte, ehe die Primadonna assoluta unserer Tage zu außerordentlicher Form auflief. Kontraproduktive Inszenierung Hat die Entscheidung, diese in unseren Breiten wenig aufgeführte Oper auf die Bühne des Großen Festspielhauses zu bringen, sich also doch gelohnt? Dabei wäre in diesem Puccini-Jahr mindestens ebenso eine Oper dieses Komponisten denkbar gewesen. Freilich, Ponchielli war einer von Puccinis Lehrern, auch „La Gioconda“ enthält einige höchst effektvolle Arien, zudem das nicht zuletzt durch Walt Disney bekannt und populär gemachte Ballett „Tanz der Stunden“. Bei der Besetzung hat man jedenfalls keine Mühe gescheut. Neben der umjubelten Netrebko wirkten der seine bestens vorbereiteten Musiker glutvoll durch die Partitur führende Maestro Pappano, Luca Salsi als profunder Barnaba, die mit dem diesjährigen Herbert-von-Karajan-Preis ausgezeichnete, elegant phrasierende Eve-Maud Hubeaux als Laura und die souverän die Herausforderungen ihrer Aufgabe bewältigende Agnieszka Rehlis als Giocondas blinde Mutter mit. Jonas Kaufmanns um Strahlkraft bemühter Enzo und Tareq Nazmis Alvise fielen demgegenüber um einiges ab. Was aber hat diese „La Gioconda“ mit einem Missbrauchsfall zu tun? Das gibt weder das Libretto, mit könnte man die Opern von Ostern im Sommer wiederholen, sie zuvor gastierte Anna Netrebko punkt für dieses Rollendebüt gegisseur Oliver Mears wäre besser doppeltes Debüt zu feiern gab: Nie nicht reif. Jetzt sah er den Zeit- schon gar nicht die Musik her. Re- einem größeren Publikum offerieren. Wie immer die Antworten da- eine Art „Gegen-Bayreuth“ konsches Orchestra dell’Accademia in einer fahlen Venedig-Archi- bei diesem von Karajan einst als kommen. Weil diesmal sein römi- beraten gewesen, sich in seiner, zu ausfallen, es bleibt spannend. zipierten Festival, noch nie hatte sie die Titelrolle von Amilcare terfestival-Orchester engagiert fenden Inszenierung mehr um Nazionale di Santa Cecilia als Ostektur (Philipp Fürhofer) ablau- Mit besonderer Spannung wurde auch die diesjährige Opernproduktion der Osterfestspiele ergen, eine der Paraderollen ihrer genheit, nicht nur diesen Vierrung zu bemühen, vor allem die Ponchiellis „La Gioconda“ gesun- ist, ergab sich eine ideale Gele- Personencharakteristik und -fühwartet. Zumal es hier gleich ein großen Kollegin Maria Callas. akter erstmals an die Salzach Handlung textgetreu zu erzählen Schon vor Jahren gab es dafür Pläne, und zwar an Londons Netrebko für die Titelpartie zu ren. Vielleicht hätte man so eine zu bringen, sondern auch Anna und werkgetreu zu interpretie- Opernhaus Covent Garden. Damals riet der bis Ende dieser Sai- Finanziell hat sich dieser Coup wirken können. verpflichten. Renaissance dieses Ponchielli beson dort als Musikchef amtierende gelohnt, die Opern-Vorstellungen Antonio Pappano Netrebko davon sind restlos überbucht. Sogar aus La Gioconda ab, ihre Stimme sei dafür noch den Vereinigten Staaten, wo Ne- Großes Festspielhaus Salzburg, 1.4. Von Anton Thuswaldner Demidow gehörte dazu. Er arbeitete als zu schreiben, unmöglich gemacht worden, da ihm in Sibirien die Finger erfrobar erfundenen Schandtaten bekennt, indem er sich zu aberwitzigen, offen- Physiker in Charkiw und geriet 1938 in nter Putin wird der Schwerverbrecher Stalin rehabilitiert. Wer Damit war es für ein Leben in Norma- nehmen, dass die Texte nicht verscholstuft zu werden und sich damit einen die Fänge der Geheimpolizei. ren waren. Wir müssen es als Glücksfall setzt alles daran, um als Trottel einge- vom Virus der Geschichtsvergessenheit infiziert ist, nimmt das fraglos die Vernichtung der Persönlichkeit, gemacht werden. Das Buch ist Kafka im und Trug angelegtes System will er mit lität vorbei – auf alle Zeit. Es ging um len sind, sondern uns heute zugänglich Freibrief zu erschwindeln. Ein auf Lug hin. Schon deshalb ist es wichtig, dass Vergehen wurden einem angedichtet. realen Sozialismus. Ein Mann wird verhaftet, ohne zu wissen warum; die, die scheitert, wird zur tragischen Figur in dessen eigenen Mitteln schlagen. Er Bücher wie solche von der Art, wie sie Georgi Demidow (1908-1987) geschrieben der Kolyma im Nordosten Sibiriens un- ihn verhören, wissen es auch nicht. Das einer ohnehin durch und durch tragi- 14 Jahre musste er in einem Lager an hat, verfügbar gemacht werden. Nach ter extremer Kälte und unmenschlicher stört sie aber nicht, sie brauchen nur Geständnisse, und die kriegen sie sowieso, Was für ein Buch! Von kaltschnäuzischen Geschichte. Warlam Schalamow ist Demidow eine Behandlung durchstehen. weitere Entdeckung aus den finsteren Von den perfiden Methoden einer außer Rand und Band geratenen Macht er- Techniker, kommt in eine heillos überterarischer Kraft, ein kluges Gegengift wenn sie Menschen brechen. Rafail, ein ger Hoffnungslosigkeit und enormer li- Zeiten der Sowjetunion, als Intellektuelle und andere unbequeme Fragen- zählt der autobiografisch grundierte Roman „Fone Kwas“. Schreiben entdeckte vorsätzlich herbeigeführten Verwahrfüllte Zelle, erfährt die Schrecken der gegen grassierenden Totalitarismus. steller in einen Gulag verfrachtet und deren Werke verboten, wenn nicht gar Demidow als Möglichkeit, sich als losung ebenso wie Funken von Menschlichkeit in der Menge der allesamt Roman von Georgi Demidow Fone Kwas oder Der Idiot vernichtet wurden. Zwischen 1936 und Mensch neu zu definieren. 1980 wurden 1938, der Zeit des Großen Terrors, wurden unzählige als unzuverlässig ab- seine Schreibmaschine beschlagnahmt. Rafail versucht es mit einer List. In und Thomas Martin seine Manuskripte vom KGB konfisziert, schuldlos Verhafteten. Aus dem Russischen von Irina Rastorgueva qualifizierte Personen verfolgt. Georgi Damit war ihm jede Möglichkeit, weiter den Verhören spielt er scheinbar mit, Galiani 2023. 201 S., geb., € 23,50 DIE FURCHE · 14 16 Diskurs 4. April 2024 IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Danke für den Fingerzeig Es rottet sich zusammen Von Otto Friedrich, Nr. 13, Seite 1 Danke für diesen Leitartikel! Danke für diese klare, knappe Betrachtung der Zusammenhänge zwischen biblischer Überlieferung und heutigen politischen Phänomenen! Ich halte es für äußerst wesentlich, uns diese Zusammenhänge bewusst zu machen! Es ist nicht irgendetwas, was damals irgendwann (vielleicht) passiert ist, es ist etwas, das immer wieder neu passiert! Danke für den Fingerzeig! Angelika Delfs, via Mail Wie logisch ist Gott? GOTT. Ein Überlebender Von Theresia Heimerl, Nr. 13, S. 2 „Die Generation Z sieht im christlichen Gott tatsächlich eine Art historisches Artefakt…“ und „Selbst in der Theologie ist Gott eine Art weißer Fleck oder vielleicht auch ein schwarzes Loch…“: Zwei Sätze einer renommierten Religionswissenschaftlerin, die das bestätigen, was viele umfangreiche europäische Studien schon seit geraumer Zeit belegen. Der wissenschaftliche Fortschritt hat zu einem verstärkten Verständnis der Naturgesetze und der Funktionsweise des Universums geführt, was Zweifel an traditionellen religiösen Überzeugungen genährt hat. Insbesondere die Entdeckungen der Evolutionsbiologie und der Kosmologie haben viele dazu veranlasst, alternative Erklärungen für die Existenz des Lebens und des Universums zu suchen, die nicht auf einem göttlichen Schöpfer beruhen. Traditionelle religiöse Überzeugungen Das Thema der Woche Seiten 2–4 Gott - (k)eine Frage Gott – vielleicht eine Spur im Alltag? Im Bild „Life After Life 6“ (2021) des nigerianischen Künstlers Ameh Egwuh springt eine Figur leicht vor einem abstrahierten blauen Himmel. Zu sehen in der Ausstellung „Sterblich sein“ im Dom Museum Wien (vgl. Seite 17). Warum die Passionserzählungen auch politische Botschaften in Bezug auf die Aufhetzung von Massen transportieren. Und was das mit einer abgebrochenen Installation im Wiener Stephansdom zu tun hat. Es rottet sich zusammen W „ Ein wie immer geartetes ‚Volksempfinden‘ verhindert die gewiss nötige Auseinandersetzung zwischen Kunst und Glauben. “ Foto: © Ameh Egwuh and Rele Gallery, Foto: L. Deinhardstein DIE FURCHE wünscht allen ihren Leserinnen und Lesern ein frohes Osterfest. AUS DEM INHALT Strafe für die Wahrheit Ringen um gerechten Frieden „... nur ein Auf Wiedersehen“ Meine Kindheit, ein Märchen Die KI als Regisseur? furche.at werden kritisch hinterfragt, und immer mehr Menschen nehmen eine skeptische oder atheistische Haltung ein, die von wachsendem Vertrauen in die Vernunft und das individuelle Denken geprägt ist. Die vielen Skandale innerhalb religiöser Institutionen sowie Konflikte im Namen der Religion haben weiters dazu geführt, dass Menschen den Glauben an Gott und die Moralität der Religionen infragestellen. 2016 hat Papst Franziskus im Vatikan den weltberühmten Astrophysiker Stephen Hawking empfangen. Der Physiker bezeichnete Gott als „überflüssig“. Für das Entstehen des Universums, so Hawking, sei kein Gott als Erklärung nötig. „Man kann nicht beweisen, dass Gott nicht existiert (...). Aber die Wissenschaft macht Gott überflüssig“, so seine pointierte Meinung. Etwas anders und salopp formuliert: Papst Franziskus glaubt an Gott, Stephen Hawking glaubt an schwarze Löcher. Und dennoch kommt man um so manche Frage nicht herum. Eine davon stellte der Theologe, Autor und Journalist Johannes Röser: „Kann es sein, dass es Gott doch gibt? Dass er logischer ist als das pure Nichts, weil aus dem absoluten Nichts nichts entstehen kann außer Nichts? Aber das Nicht ist nicht. Welch ein Wunder!“ DI (FH) Franz Josef Dorn, BED 8733 St. Marein Wie Kriege überwinden? Vom Ringen um einen gerechten Frieden. Von Wolfgang Palaver Nr. 13, Seite 15 Ja, auch ich bin der Meinung, dass „Friedensethik“ bedeutet, sich jeder Normalisierung oder Naturalisierung des Krieges entgegenzustemmen und die vorrangige Option für die Gewaltfreiheit zu fördern. Und auch ich finde, dass es „sehr wohl die Pflicht der Kirche [ist], die Menschen zur Überwindung des Krieges aufzurufen“! Es ist im Fall der Ukraine so schwer zu argumentieren, aber grundsätzlich betont doch auch der Papst in Fratelli Tutti, dass die christliche Liebe nicht bedeutet, einen Unterdrücker einfach gewähren zu lassen, sondern es notwendig ist, „ihm jede Macht zu nehmen, die er nicht zu Nutzen weiß und die ihn als Mensch entstellt“. Nun, der Vatikan gehört zu den Erstunterzeichnern des 2021 in Kraft getretenen Atomwaffenverbotsvertrags, den 93 Länder unterzeichnet und davon auch 70 ratifiziert haben (in der EU gehören nur Österreich, Malta und Irland zu den Vertragsmitgliedern!). Politisch vielleicht naiv! Aber wie sonst lässt sich die österliche Perspektive, Kriege zu überwinden, fest im Auge behalten? DIE FURCHE · 13 24 Musik & Literatur 28. März 2024 I Ilse Kleinschuster Mitglied im Koordinationsteam des Aktionsbündnis für Frieden, Aktive Neutralität und Gewaltfreiheit www.abfang.org Geschichtsvergessenheit Nachrichten aus dem Inneren des Totalitarismus Wiedergelesen von Anton Thuswaldner. Nr. 13, Seite 24 Gesang und Tanz WIEDERGELESEN Erstmals gastierte Anna Netrebko bei den Salzburger Osterfestspielen und präsentierte sich dabei in der für sie neuen Titelpartie von Ponchiellis „La Gioconda“. Die Diva und viele offene Fragen „ Sogar aus den Vereinigten Staaten, wo Anna Netrebko an der ‚Met‘ nach wie vor unerwünscht ist, kamen Fans extra angereist. “ Nachrichten aus dem Inneren des Totalitarismus U „Unter Putin wird der Schwerverbrecher Stalin rehabilitiert. Wer vom Virus der Geschichtsvergessenheit infiziert ist, nimmt das fraglos hin“, schreibt Anton Thuswaldner. Ich denke, es ist auch bei uns in Österreich mehr als nötig, dem Virus der Geschichtsvergessenheit tatkräftig entgegenzuwirken. Der Verein „Lila Winkel“ (www.lilawinkel.at) ist seit 1999 in den Schulen in ganz Österreich aktiv. Die Anwesendenzahl (Schülerinnen, Schüler und Lehrende) bei den Zeitzeugengesprächen beträgt mehr als 267.000. Mehr als eine halbe Million haben die Ausstellungen vom Verein Lila Winkel gesehen, die die Menschenrechtsverletzungen unter dem NS-Regime aufzeigen. Es ist zu hoffen, dass auf diese Weise dem Virus der Geschichtsvergessenheit effektiv entgegengewirkt wird. Ing. Harald Schober, via Mail Bitte genau lesen! Rundumschlag Leserbrief von Christian Mertens zum Gastkommentar „Ein Stück des Weges“ gehen – aber welchen? Von Josef Christian Aigner Nr. 12, Seite 11 Foto: © Bernd Uhlig Prof. Mag. Mertens unterstellt mir zu meinem Kommentar, in dem ich den SPÖ-Vorsitzenden Babler u.a. gegen die Kritik an seiner umgangssprachlichen Ausdrucksweise verteidige, ich würde a) den Begriff „Bildungsbürgerkreise“ sehr negativ konnotieren und b) nicht auf politische Inhalte eingehen. Beides ist unwahr. Vielmehr bin ich a) selbst ein „Bildungsbürger“, was ja eine soziographische und keine moralische Kategorie ist, und b) habe ich sehrwohl und gleich mehrfach politische Inhalte genannt, denen gegenüber mir die nicht immer hochsprachliche Ausdrucksweise Herrn Bablers vernachlässigenswert erscheint. Prof. Dr. Josef Christian Aigner, Innsbruck Rot-schwarzer Grabenkampf wie oben Die ideologische Zielsetzung keineswegs verleugnende, aber trotzdem über die eigentliche Stammwählerschaft hinauswirkende Lichtgestalten wie Bruno Kreisky oder Franz Vranitzky sind nicht in Sicht. In Traiskirchen hat Andreas Babler geholfen, mit nachvollziehbaren Maßnahmen und hohem persönlichen Einsatz den durch Migration gefährdeten sozialen Frieden zu erhalten. Es sei ihm verziehen, sich nicht nach seiner Kür zum Bundesparteivorsitzenden (wie einst Lech Wałęsa) zum Bildungsbürger coachen zu lassen. Es war hoch an der Zeit, dass mit Josef Christian Aigner ein solcher Bildungsbürger vehement und fundiert für Babler in die Bresche sprang. Das von Christian Mertens als „Rundumschlag eines beleidigten Babler-Adoranten“ herabzuwürdigen, erinnert an längst überwunden geglaubte rot-schwarze Grabenkämpfe. Solches spielt letztendlich nur dem Hassprediger Herbert Kickl in die Hände und stärkt Bablers unrühmliche innerparteiliche Opposition. Unser Land ist auf dem besten Weg, mit der SPÖ eine tragende Säule der Demokratie zu verlieren. Prof. Dr. Gero Hohlbrugger, Wien Auf den Punkt gebracht Es ist ein Esel! Newsletter „Lesestoff aus dem FURCHE-Navigator“ Von Brigitte Quint, 22. März Selten habe ich einen Text mit so viel Freude gelesen! Ihre Ausführungen zum Palmsonntag kann ich (in Osttirol aufgewachsen) in allen Punkten so gut nachvollziehen. Sie haben es wunderbar auf den Punkt gebracht. Herzlichen Dank dafür – und für DIE FURCHE überhaupt. Mögen Sie weiterhin „so tiefe Furchen ziehen“. Elisabeth Kathrein, via Mail Tipp: Unsere Newsletter können Sie unter furche.at/newsletter abonnieren. Ausgezeichnetes Kunstsponsoring: „Filmpreis on tour“ Der diesjährige Maecenas prämiert die Kooperation der Akademie des Österreichischen Films mit den Österreichischen Lotterien. Gute Projekte zur Kunstförderung – damit beschäftigt sich das unabhängige Wirtschaftskomitee „Initiativen Wirtschaft für Kunst“ seit 1989 und vergibt dazu alljährlich den „Maecenas“-Preis. Für den Maecenas 2024 hat die Akademie des Österreichischen Films das Projekt „Filmpreis on Tour“ eingereicht. 2022 starteten die Akademie und die Österreichischen Lotterien ihre Sponsoring-Partnerschaft und hoben auch den Lotterien Tag mit dem „Filmpreis on Tour“ aus der Taufe. Dabei ermöglichen es die Österreichischen Lotterien, die beim Österreichischen Filmpreis ausgezeichneten Filme in ausgewählten Kinos aller neun Bundesländer gegen Vorlage eines beliebigen Lotterieprodukts bei freiem Eintritt zu sehen. Der 2023 zum zweiten Mal ausgetragene Lotterien Tag überzeugte die Jury: Sie prämierte die erfolgreiche Partnerschaft mit dem Maecenas in der Kategorie „Österreichische Kulturanbieter für erfolgreiche Engagements in Kooperation mit der Wirtschaft“. Erwin van Lambaart, Generaldirektor der Österreichischen Lotterien: „Der Maecenas ist eine wunderbare Bestätigung für die gemeinsame Erfolgsgeschichte des Filmpreis on Tour, die wir auch in diesem Jahr fortsetzen werden.“ (v.l.n.r.): Clara Thayer (Akademie), Eveline Strnad (Österreichische Lotterien), Katharina Albrecht (Akademie), Alexandra Valent (Projektleitung Österreichischer Filmpreis), Gerlinde Wohlauf (Österreichische Lotterien), Brigitte Kössner-Skoff (Initiativen Wirtschaft für Kunst) © Fotoatelier Christian Schörg IN KÜRZE RELIGION ■ H. J. Meyer (1936–2024) RELIGION ■ Verschwörung im Vatikan WISSEN ■ Selbstreinigende Wandfarbe WISSEN/INTERNATIONAL ■ „Austrian Overshoot Day“ Er war oberster Laie in Deutschlands katholischer Kirche, letzter Bildungsminister der DDR und 1990–2002 sächsischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst. Am Karfreitag ist Hans Joachim Meyer im Alter von 87 Jahren gestorben. Meyer wurde in Rostock geboren. Schon früh engagierte er sich zu DDR-Zeiten in der katholischen Kirche. In den 1970er Jahren gehörte der Professor für Sprachwissenschaft der Dresdner Pastoralsynode an. Nach der Wende engagierte er sich im gesamtdeutschen Laienkatholizismus. Von 1997–2009 war Meyer der erste Ostdeutsche, der dem Zentralkomitee der Katholiken Deutschlands vorstand. Von einer Verschwörung in der römischen Kurie hat Papst Franziskus im spanischen Interview-Buch „El sucesor“ (Der Nachfolger) berichtet, das in Barcelona erschienen ist: Darin spricht der Papst über die Dokumente, die ihm sein Vorgänger Benedikt XVI. am 23. März 2013 in Castel Gandolfo überreichte. Laut Franziskus wurde damals eine Verschwörung aufgedeckt, zu der vor allem Männer „aus der zweiten Reihe“ gehörten. Unter anderem habe sich dies gegen den Kardinal Pietro Parolin gerichtet. Die Verschwörer hätten verhindern wollen, dass dieser anstelle von Kardinal Tarcisio Bertone neuer Kardinalstaatssekretär wurde. Es war ein Durchbruch in der Katalyse-Forschung: Eine neue Wandfarbe kann sich durch Sonneneinstrahlung selbst reinigen und Schadstoffe aus der Luft chemisch abbauen. Einem Forschungsteam der TU Wien und der Universität Politecnica delle Marche (Italien) gelang es, spezielle Titanoxid-Nanopartikel zu entwickeln, die man kommerziell erhältlicher Wandfarbe hinzufügen kann, um ihr Selbstreinigungskräfte zu verleihen: Die Partikel sind photokatalytisch aktiv – sie können also das Licht der Sonne nutzen, um Substanzen aus der Luft nicht nur zu binden, sondern anschließend auch zu zerlegen. Am 7. April hat Österreich statistisch gesehen jene natürlichen Ressourcen verbraucht, die die Erde im gesamten Jahr regenerieren kann. Daran erinnert der „Earth Overshoot Day“ oder Erdüberlastungstag, der folgende Tatsache vermitteln soll: Wäre weltweit der Ressourcenverbrauch so hoch wie in Österreich, würde an diesem Tag die jährliche Biokapazität der Erde verbraucht. Die Drastik des weltweiten Ressourcenverbrauchs zeigt auch ein kürzlich veröffentlichter Bericht der Vereinten Nationen („Global Resources Outlook 2024“), der von einer dreifachen planetaren Krise aus Erderhitzung, Artenverlust und Vermüllung spricht.

DIE FURCHE · 14 4. April 2024 Literatur/Musik 17 Worte verbinden Literatur und Popmusik. Insofern ist es nicht unlogisch, dass sich Musiker hin und wieder auch als Schriftsteller versuchen. Manche wie Sven Regener sogar mit noch mehr Erfolg als in ihrem angestammten Metier. Von Bruno Jaschke habe mich nie der Illusion hingegeben, dass ich mit meinem Sound etwas herstelle, „Ich das die Welt noch nie gehört hat. Ich sehe das Wesen des Songschreibens wie das des Bücherschreibens: Geschichten zu erzählen.“ So definierte Robert Rotifer, in England lebender Journalist und Musiker Wiener Abstammung, 2014 im Gespräch mit dem Autor für die Wiener Zeitung, was für ihn Popmusik ausmacht. Damit unterstellt Rotifer, dessen Songs in gitarrenbetonten Arrangements ebenso den neoliberalen Zeitgeist und Brexit reflektieren wie sie von seiner Jugend in Wien und familiärem Widerstand gegen den Nazi-Terror erzählen, mehr oder weniger apodiktisch eine Affinität zwischen Pop und Literatur oder jedenfalls literarischen Ausdrucksmitteln. Dass Singer/Songwriter-Ikone Bob Dylan 2016 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, fügt sich da ins Bild. Genauso wie der dominante Stellenwert der Inhalte im rhythmischen Sprechgesang des Rap. Von speziellen, im Regelfall Avantgarde- oder Dancefloor-nahen Formen abgesehen gehören Worte wesenhaft zu Pop als kultureller Disziplin. Bis in die frühen 1960er Jahre galt für Texte von Pop-Songs ein unausgesprochenes, von namhaften journalistischen Meinungsmachern wie Nik Cohn oder Dave Marsh auch offensiv vertretenes Dogma der Selbstbescheidung. Dieser Denkschule zufolge ist Pop die Musik der Teens und erzählt davon, was es heißt, jung zu sein. Was jenseits dieses begrenzten, von Spaß, Liebe, Dates und Sex definierten Kosmos liegt, wird als aufgeblasener Bombast verworfen. Literarische Impulse Mit Bob Dylan, der an das Erbe von Folk-Heroen wie Woody Guthrie oder Pete Seeger anknüpfte, wurden Songs über Drogen, Außenseiter, Kriegstreiber und Ausbeutung mehrheitsfähig. Dass Dylan, der bürgerlich Robert Zimmerman hieß, seinen Künstlernamen vom walisischen Dichter Dylan Thomas bezog, verwies so wie seine bildstarke Textsprache aber auch auf literarische Impulse. Als Schriftsteller im engen Sinn hat sich Bob Dylan nur ein einziges Mal versucht: 1971 brachte er eine zwischen Lyrik und abstrakter Prosa irrlichternde Textsammlung mit dem Titel „Tarantula“ heraus. Zu dem Werk, dem er den Literaturnobelpreis ganz bestimmt nicht zu verdanken hat, Geschichten erzählen – so oder so beteuerte Dylan, dass es nie seine Absicht gewesen sei, ein Buch zu machen und sein ehemaliger Manager Albert Grossman ihn überrumpelt hatte. Der erste Popstar, der sich als Buchautor versuchte, war John Lennon. 1964 und 1965 brachte er zwei Bände mit Kurzgeschichten, Gedichten und lustigen Zeichnungen heraus, die bereits in den Original-Titeln „In His Own Write“ beziehungsweise „A Spaniard In The Works“ (nicht allerdings mit ihren deutschen Titeln „In seiner eigenen Schreibe“ und ein „Spanier macht noch keinen Sommer“) vermitteln, wo Lennons Stärke liegt, nämlich in der witzigen Wortverdrehung und Paraphrase vertrauter Wendungen. Im Sog der Beatlemania verkauften sich Lennons meist wohlwollend rezensierte Bücher gut, nämlich jeweils sechsstellig, lösten aber zunächst kaum eine Bewegung von Pop zur Literatur aus. Das änderte sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, als die Pop-Kultur langsam den Teenager-Jahren zu entwachsen und nicht zuletzt unter dem Einfluss von Drogen nach tieferen Themen zu suchen begann. Jefferson Airplane deuteten Lewis Carrolls Kinderbuch „Alice im Wunderland“ als Drogenvision, Velvet Unterground zitierten Leopold von Sacher-Masoch, die Steve Miller Band entlieh ihre „Brave New Word“ dem berühmten Roman Aldous Huxleys. Attraktives Poster-Gesicht Mit dem „Doors“-Sänger Jim Morrison bekamen literarische Ambitionen im Pop ein attraktives Poster-Gesicht. Morrison veröffentlichte neben seiner Arbeit für die „Doors“ zwei Lyrik-Bände, „The Lords & The New Creatures“ und „An American Prayer“, die ihm immerhin ein gewisses Grundtalent bescheinigen, das freilich für substanziellere Ergebnisse einer sorgfältigeren Sven Regener Der Sänger, Musiker und Autor bei einem seiner Konzerte im Tempodrom, Berlin, im Mai 2019. Pflege bedurft hätte, als es ihm Morrison in seinem kurzen, exzessiven Leben gewähren konnte. Es bleibt ein erstaunliches Paradoxon, dass über all die Jahre und Jahrzehnte im angloamerikanischen Raum kein Popmusiker nachhaltige Erfolge und Anerkennung als Autor einfahren konnte. Selbst Künstler, die wie Patti Smith und Leonard Cohen (oder hierzulande Ernst Molden) von der Literatur kamen und erst später in die Musik wechselten, konnten in ihrem ursprünglichen Fach nicht groß reüssieren. So wie auch der australische Psycho-Blues-Sänger Nick Cave mit seinen zwei Romanen die in ihn gesetzten Erwartungen letztlich nicht zu erfüllen vermochte. Es ist ein Phänomen des deutschen Sprachraums, dass hier Musiker als Literaten oft mehr Erfolg Foto: IMAGO / POP-EYE Hat Bob Dylan den Nobelpreisverdient? Daniela Strigl meinte am 20.10.2016: Ja. „Nobelpreis für Bob Dylan: Große Lyrik?“, furche.at. „ Es bleibt erstaunlich, dass im angloamerikanischen Raum kein Popmusiker Anerkennung als Autor einfahren konnte. “ haben denn in ihrem angestammten Metier. Reinhold Bilgeri und Michael Köhlmeier betrieben in den frühen 1970er Jahren ein satirisches Duo, das mit der Ländle-Hymne „Oho Vorarlberg“ sogar einen veritablen Hit hatte. Dann verschlug es die beiden in verschiedene Umlaufbahnen, indem sich Köhlmeier seinem vielfach ausgezeichneten schriftstellerischen Schaffen, Bilgeri aber einer Karriere als international ausgerichteter Rockstar widmete. Als diese versandete, landete Bilgeri 2005 mit seinem in eigener Regie verfilmten Roman „Der Atem des Himmels“ einen Bestseller. Max Goldt war zu Hochzeiten der Neuen Deutschen Welle Sänger der geistreichen Band „Foyer des Arts“. Nachdem deren Karriere nach zwei, drei kleineren Hits auf Grundeis gelaufen war, profilierte sich Goldt als scharfsichtiger, gerade in Wien besonders geschätzter Essayist. Fast obligatorisch haben sich auch Protagonisten der a priori schwer literaturaffinen Hamburger Schule – Dirk von Lowtzow und Jan Müller von „Tocotronic“, „Die Sterne“- Frontmann Franz Spilker, Jochen Distelmeyer von „Blumfeld“ – in Büchern verewigt. Herr Lehmann tritt auf Sie alle in den Schatten stellt Sven Regener. Mit seiner Band „Element of Crime“ hatte der heute 63-jährige gebürtige Bremer eigentlich alles, was ein Künstler- Ego begehren konnte: Verkaufszahlen jenseits der 100.000, eine eingeschworene Gefolgschaft und nicht zuletzt viel Anerkennung für seine virtuos-versponnenen, dabei nie überambitiösen Texte. Und dann kam 2001 sein Roman „Herr Lehmann“. Ursprünglich war dieser nur eine (bereits 1991 verfasste) Kurzgeschichte, in der die titelgebende Figur Frank Lehmann nächtens betrunken auf einen Hund trifft, der ihm den Weg versperrt und ihn zu allerlei Spekulationen und absurden Fluchtplänen inspiriert. „Bei mir sind Ideen meistens mit Figuren verknüpft. Ich fand den Typen interessant, und das hat mich in die Geschichte gezogen“, erklärte Regener in einem von mehreren Interviews dem Autor dieser Zeilen. Im ersten dieser Gespräche – da war „Herr Lehmann“, befeuert auch durch die Verfilmung von Leander Haussmann, millionenfach über die Ladentische gegangen und hatten auch die Prequels „Neue Vahr Süd“ und „Der kleine Bruder“ reißenden Absatz und Anerkennung im Feuilleton gefunden –, sagte Regener noch, dass er sich vorrangig als Musiker verstehe. Mittlerweile sind, nach sechs Variationen des „Lehmann“-Stoffs mit wechselnden Hauptfiguren, nach Arbeiten an Drehbüchern und fürs Theater, die Prioritäten anders gewichtet. Alles zu seiner Zeit, ist nunmehr der wichtigste Grundsatz: „Ich verfolge immer nur jeweils ein Projekt. Wenn ich an einem Drehbuch schreibe, kann ich nicht an einem Roman schreiben. Wenn ich einen Roman schreibe, nicht an einem Songtext.“ Die Abwechslung schätzt er indessen sehr. „Wenn man ein Buch fertig und alles, was daran hängt – Pressetermine, Lesungen – absolviert hat, dann macht es wieder Lust, neue Songs zu schreiben. Da ist man dann einer von vieren. Und danach hat man wieder Lust, etwas ganz allein zu machen...“.

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