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DIE FURCHE 04.01.2024

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DIE FURCHE · 1 22 Wissen 4. Jänner 2024 Von Manuela Tomic MOZAIK Journalistenreise Mit 22 wollte ich Auslandskorrespondentin werden. So flog ich mit einer berühmten deutschen Journalistin nach Sarajevo, um von ihr zu lernen. Bereits im Flieger mussten wir uns auf die ersten Interviews vorbereiten. Wir dürfen keine Zeit verschwenden, sagte sie mit unerbittlicher Miene. Doch als wir in Sarajevo landeten, ging alles schief. In den Islamschulen, den madrasas, hatte ich zu enge Kleidung an, beim Übersetzen stotterte ich, und ein bellender Schäferhund brachte mich eines Nachts vor der taffen Reporterin zum Weinen. Nach wenigen Tagen wurde ich krank. Beim Rückflug erklärte mir die Journalistin, dass ich für den Job der Auslandskorrespondentin völlig ungeeignet sei. Ich blickte aus dem kleinen Fenster des Flugzeugs, und die Lichter Sarajevos blinzelten mir nervös zu. Vier Jahre lang schrieb ich keine einzige Reportage mehr. In Sarajevo war ich bis heute nicht. Was, wenn mir die deutsche Journalistin mit Mappen voller Recherche am Gate auflauert, um mich anzubellen? FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Illustration: Rainer Messerklinger „Das Problem mit der zähen Zeit“ (30.8.2018): Martin Tauss über das Potenzial der Langeweile in der digitalen Welt, auf furche.at. Je älter man wird, desto schneller scheinen die Jahre zu vergehen. Was steckt hinter dem Phänomen der gefühlten Zeit? Und wie kann man diese Wahrnehmung verändern? Der große Blick zurück Von Andrea Krieger Der Jahresbeginn ist ein guter Anlass, um über das eigene Leben nachzudenken. Zu hören ist dabei oft folgende Bemerkung: „Unglaublich, wie die Zeit vergeht!“ Dieser Satz ist mehr als eine Plattitüde. Tatsächlich vergeht die gefühlte Zeit mit zunehmendem Alter tendenziell schneller, so viel ist amtlich. Wissenschaftliche Befragungen von 2000 Menschen in Österreich, Deutschland, den Niederlanden und Neuseeland – in Städten und in ländlichen Gebieten – bestätigen dies. Mit dieser Wahrnehmung geht zuweilen auch das Unbehagen einher, dass das eigene Ende mit größer werdenden Schritten näher rückt. Warum aber unterscheidet sich die gefühlte Zeitdauer derart von der gemessenen? An den 365 bzw. 366 Tagen „ Emotionsgeladene Premieren werden besonders gut in der Erinnerung abgespeichert: zum Beispiel der erste Schultag, der erste Kuss, die Matura oder die erste eigene Wohnung. “ eines Jahres ist ja schließlich nicht zu rütteln. Eine gängige Mutmaßung lautet, dass eine Zeitspanne von zum Beispiel zehn Jahren gemessen am Alter immer kürzer wird. Für eine 60-Jährige ist es gerade mal ein Sechstel, für eine 30-Jährige immerhin ein Drittel ihrer Lebenszeit. Diese Begründung klingt plausibel, die Psychologie weiß es heute aber besser, allen voran Marc Wittmann. Der deutsche Psychologe hat der Zeitwahrnehmung bereits etliche Jahre gewidmet und sein Wissen im Sachbuch „Gefühlte Zeit: Kleine Psychologie des Zeitempfindens“ (C. H. Beck, 2016) laiengerecht aufbereitet. „Zahlreiche Studien aus der kognitiven Psychologie zeigen“, so der wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Grenzbereiche der Psychologie und Psychohygiene der Uni Freiburg, „dass im Rückblick Zeiträume umso länger erscheinen, je mehr Erlebnisse in Erinnerung geblieben sind.“ Das gilt besonders bis Mitte 20, wo es nur so von „ersten Malen“ wimmelt. Das erste Fahrradfahren ohne Stützräder, der erste Schultag, der erste Urlaub ohne Eltern, der erste Kuss, die Matura, die erste eigene Wohnung: Derlei emotionsgeladene Premieren werden besonders gut abgespeichert. Abgesehen davon, dass die Entwicklung vom Kind zum Jugendlichen und weiter Illustration: iStock/alisher9 (Bildbearbeitung: RM) zum Erwachsenen per se eine riesige Veränderung bedeutet. Naturgemäß kehrt danach mehr Routine ein, was auch weniger Erinnerungspunkte und daher eine gefühlt kürzere Zeitdauer bedeutet. Fast visionär verglich Thomas Mann bereits vor 100 Jahren in seinem Bildungsroman „Der Zauberberg“ das veränderte Zeitempfinden im Laufe des Lebens mit einem Urlaub. Am Anreisetag ist alles neu. Tags darauf wird die Gegend ausgiebig erkundet. Doch bald kehrt eine gewisse Routine ein – und die letzten Tage vergehen für gewöhnlich wie im Flug. Wie aber ist es zu erklären, dass bei Langeweile, dem Gipfel der Monotonie, die Zeit fast schon schmerzhaft schleichend zu vergehen scheint? Müsste es nach Wittmanns Argumentation nicht umgekehrt sein? Hier kommt das sogenannte Zeitparadox ins Spiel, wie der Psychologe erklärt: „Ein und dieselbe Zeitdauer wird unterschiedlich bewertet – abhängig davon, wann das Zeiturteil gefällt wird. Ist nichts wirklich Interessantes passiert, wird man sich in der Rückschau an kaum etwas erinnern. So verkürzt sich der Zeitraum retrospektiv zu einer vernachlässigbaren Größe.“ Auch im Alter noch Neues angehen Tatsächlich haben israelische Forscher gezeigt, dass Jobs mit großem Routineanteil im Nachhinein als schnell vergangen beurteilt werden. Gilt dies auch für die Coronajahre mit ihren großen Verboten? Wittmann verneint: „Da ist letztendlich unheimlich viel noch nie Dagewesenes geschehen: zuerst die Bilder aus China, bald danach aus Bergamo, dann die Lockdowns mit Homeoffice und erstmals Home-Schooling: Diese Zeit kommt den meisten rückblickend sehr lange vor.“ Wie lange, hänge letztendlich von emotionalen Faktoren ab: „Ob man etwa sozial isoliert war oder seinen Job verloren hat“, so der hörbar aus Bayern stammende Wissenschafter, der selbst 57 Lenze zählt. Er weiß: Noch drei Lebensjahre, dann wird die Sache mit der gefühlten Zeitwahrnehmung statistisch gesehen nochmals interessant: „Denn mit circa 60 Jahren ist das Plateau erreicht, da hat man sich in seinen Routinen eingependelt. Danach findet keine weitere gefühlte Beschleunigung mehr statt.“ Ebenso tröstlich: Ein Stück weit lässt sich die gefühlte Zeit auch selbst beeinflussen. „Die Befragungen zeigen eine große Streuung im Antwortverhalten“, so Wittmann. Eine Rundreise mit täglich neuen Eindrücken erscheint rückblickend länger als ein Strandurlaub, wechselnde Reiseziele ebenso. Es geht darum, sich zu fordern und auch im fortgeschrittenen Alter noch Neues zu tun: zum Beispiel ein In strument oder eine Sprache zu lernen, den Bekanntenkreis zu erweitern etc. Je stärker gefühlsbehaftet solche Erlebnisse sind, desto eher bleiben sie im Gedächtnis. „Bewusstes Wahrnehmen“: So lautet der Rat des US-Physikers Adrian Bejan zum Thema. „Gute Voraussetzungen dafür sind ausreichend Schlaf“, betont der Professor an der Duke University in North Carolina. Er hat sich aus physikalisch-biologischer Sicht mit dem Phänomen der beschleunigten Zeitwahrnehmung befasst. 2019 legte er in einer Studie dar, dass Kinder Bilder schneller wahrnehmen und verarbeiten als Erwachsene und sich mit dem Alter der Fluss elektrischer Signale generell verlangsamt. Bis zu einem gewissen Grad könnte also auch pure Physik für das Aufnahme- und damit auch Erinnerungsvermögen eine Rolle spielen. Und damit auch für die gefühlte Zeit.

DIE FURCHE · 1 4. Jänner 2024 Wissen 23 Von Adrian Lobe Vor einigen Jahren betrat ein wütender Kunde eine Filiale der US-Supermarktkette Target in einem Vorort von Minneapolis. Was dem Unternehmen denn einfiele, seiner Tochter Rabattgutscheine für Babykleidung und Krippen zu schicken, sie sei ja noch in der Highschool, schnaubte der Mann. „Versuchen Sie etwa, meine Tochter schwanger zu machen?“, fragte der verärgerte Vater. Er wolle sofort den Chef sprechen. Der herbeigerufene Marktleiter reagierte perplex und schaute im Postverteiler nach. Offensichtlich ein Irrtum, man bedauere den Vorfall. Tage später griff der Filialleiter zum Hörer, um sich erneut zu entschuldigen. Der Vater, der in der Zwischenzeit mit seiner Tochter gesprochen hatte, erwiderte am Telefon trocken: „Es stellte sich heraus, dass in meinem Haus Aktivitäten stattgefunden haben, derer ich mir nicht vollständig bewusst war. Sie hat im August den Geburtstermin. Ich bitte um Entschuldigung.“ Der Versand der Coupons war also kein Missverständnis. Die Statistiker von Target hatten mithilfe von Algorithmen riesige Datensätze (unter anderem Kundendaten und Kaufhistorie) ausgewertet und dabei 25 Produkte identifiziert, die Schwangere kaufen. So laden werdende Mütter in den ersten 20 Wochen der Schwangerschaft verstärkt Lotionen und Nahrungsergänzungsmittel wie Kalzium und Magnesium in den Einkaufswagen. Auf dieser Grundlage entwickelten die Datenwissenschafter ein Wahrscheinlichkeitsmodell. Die Supermarktkette wusste dann mit großer Sicherheit, dass die junge Frau schwanger war, noch bevor der Vater davon erfuhr. Suche nach statistischen Mustern Der Target-Fall hat Eingang in jedes Big-Data-Lehrbuch gefunden. Einzelhändler durchforsten heute massenhaft Daten, um herauszufinden, welches Produkt Kunden als Nächstes kaufen werden. Wirtschaft hat ja viel mit Prognose und Risikomanagement zu tun. Landwirte müssen wissen, wie das Wetter in den nächsten Tagen wird, um die Ernte rechtzeitig einzufahren; Einzelhändler, welche Kleider im Frühjahr in Mode sein werden; Lebensversicherer, welches Sterberisiko die Menschen haben, um die Prämien zu berechnen. Auch der Staat musste in den letzten Jahren wichtige Vorhersagen treffen, etwa über Krankheitsverläufe bei der Pandemiebekämpfung, die Implikationen für die Wirtschaft hatten: Wenn die Regierung einen Lockdown verhängte, musste der Gastwirt zusperren. Bis sich im 19. Jahrhundert die Meteorologie als Wissenschaft etablierte und in Zeitungen die ersten Wettervorhersagen abgedruckt wurden, griffen Landwirte auf Bauernregeln zurück oder gewannen fragwürdige empirische Erkenntnisse aus der Beobachtung von Fröschen in Einmachgläsern (daher auch der Begriff „Wetterfrosch“). Das Versicherungswesen ging dagegen schon früh methodisch vor: Die ersten Lebensversicherer, die im 18. Jahrhundert in England entstanden, stützten sich auf Sterbetabellen, um auf dieser Grundlage Prämientabellen zu erstellen. Durch die Vernetzung internetfähiger Geräte wie Smartphones oder Autos stehen heute viel mehr Daten zur Verfügung, aus denen sich mit KI-gestützten Werkzeugen ganz neue Erkenntnisse gewinnen lassen. Schon vor Jahren sagte der Chef der Social- Media-App Foursquare anhand von Checkin-Daten seiner Smartphone-Nutzer der Schnellrestaurantkette Chipotle einen Illustration: iStock/M-A-U Umsatzeinbruch voraus. Amazon hat bereits ein vorausschauendes Logistiksystem patentieren lassen, bei dem Waren verschickt würden, noch bevor der Kunde auf den Bestellknopf gedrückt hätte. Der Unternehmer Igor Tulchinsky und der Genetiker Christopher E. Mason schreiben in ihrem neuen Buch „The Age of Prediction“ (MIT Press, 2023), dass die Menschheit in ein neues Zeitalter eintrete: das Zeitalter der Vorhersage. „Wir leben heute in einer Welt, die zunehmend durch Milliarden prädiktiver Algorithmen vernetzt ist, einer Welt, in der fast alles vorhergesagt werden kann und Risiko und Unsicherheit aus fast allen Lebensbereichen zu verschwinden scheinen.“ Algorithmen, die statistische Muster in Datensätzen erkennen, könnten immer präziser genetisch bedingte Krankheiten, Pandemien oder Migrationsströme prognostizieren. Natürlich lässt sich in einer komplexen, kontingenten Welt, wo Individuen teils irrational handeln und der Faktor Zufall eine große Rolle spielt, nicht alles vorhersagen: Wie das Wetter am 13. März 2025 sein und wo der Deutsche Aktienindex an diesem Tag stehen wird, steht in den Sternen. Doch je genauer die Prognosen werden, desto besser lassen sich Risiken managen. „Risiko wird nicht mehr länger ein reines, auf der Vergangenheit basierendes Gruppenphänomen sein, sondern ein Echtzeit-Datenstrom aus Ihrem Auto von Ihrem Ob Kaufentscheidungen, Krankheiten oder Wetterereignisse: Mit Big Data und Künstlicher Intelligenz scheint die Zukunft immer präziser berechenbar. Das aber birgt neue Risiken. Das Zeitalter der Vorhersage Fahrverhalten, Aktivitäten im Haus, Social-Media-Posts und sogar der Fitness-Kontrolle Ihres Körpers“, schreiben die Autoren. Versicherungen könnten auf Basis von Wearable-Daten und Gentests personalisierte Tarife anbieten. Hat der Versicherte über die Ferien ein paar Pfunde zugelegt und ist sein Blutdruck gestiegen, könnte die Versicherung die Prämien erhöhen oder Kurse für das nächstgelegene Fitnessstudio anbieten. Schon seit einiger Zeit bieten Kfz-Versicherungen Telematik-Tarife für Kunden an, die ihr Fahrverhalten überwachen lassen. Wer langsam fährt und wenig beschleunigt, spart Geld. Künftig könnten sich Polizzen noch stärker an individuellen Risikoprofilen orientieren, etwa der Bonität, Neigung zum Sport oder Wahrscheinlichkeit für Starkregen am Wohnort. Strom von Echtzeitdaten „Die neuen Weissagungen“ (21.2.2019): Martin Tauss über das boomende Geschäft der Zukunftsforschung, auf furche.at. „ Kfz-Versicherungen bieten bereits Telematik-Tarife für Kunden an, die ihr Fahrverhalten überwachen lassen. Wer weniger beschleunigt, spart Geld. “ Glaskugel Im Buch „The Age of Predic tion“ (2023) sehen US-Genetiker Christopher Mason und Co-Autor Igor Tulchinsky eine neue Epoche heraufdämmern: „Wir leben heute in einer vernetzten Welt, in der fast alles vorhergesagt werden kann – und Risiko und Unsicherheit aus fast allen Lebensbereichen zu verschwinden scheinen.“ Die Reduktion von Risiken führt aber zu mehr Komplexität im System, was neue Risiken produziert. Wer weiß, dass er ein genetisch niedriges Risiko für Lungenkrebs hat, greift vielleicht eher zur Zigarette und geht damit neue Risiken ein. Wie die verringerte Unsicherheit das Verhalten der Menschen verändere, sei noch völlig unklar. Zumindest könnte es sich nachteilig auf das Geschäftsmodell von Flughäfen auswirken. Das jedenfalls behaupten die Ökonomen Ajay Agrawal, Joshua Gans und Avi Goldfarb in ihrem Buch „Power and Prediction“ (2022). Der Grund: Passagiere reisen in der Annahme langer Wartezeiten bei der Gepäckabfertigung und Sicherheitskontrolle früher an und verbringen die Zeit dann mit Konsum: Essen, Trinken, Shoppen etc. „Versteckte Unsicherheit“ nennen das die Ökonomen. Wenn jedoch Apps auf Basis von Echtzeitdaten die genaue Wartezeit pro gnostizierten, würde diese Unsicherheit reduziert. Fluggäste müssten nicht mehr so lange warten und würden ergo weniger Zeit mit Konsum verbringen. Und das wiederum würde den Geschäften schaden, die gar kein Interesse an reibungslosen Abläufen haben. In Zukunft könnte KI das Reiseerlebnis noch entspannter und bequemer machen. Wenn der Flug Verspätung hat, würde der smarte Reiseagent automatisch eine E- Mail an die Autovermietung schicken und den reservierten Tisch im Restaurant auf eine spätere Uhrzeit umbuchen. Microsoft- Gründer Bill Gates orakelte: Das KI-Wettrennen werde derjenige gewinnen, dem es gelinge, einen persönlichen Assistenten zu entwickeln. Und der wüsste dann wohl auch als Erstes, wenn man schwanger ist.

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