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DIE FURCHE 04.01.2024

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DIE FURCHE · 1 18 Geschichte & Literatur 4. Jänner 2024 Susanne Gregor 1981 in Žilina (Tschechoslowakei) geboren, zog sie 1990 mit ihrer Familie nach Österreich. 2011 erschien ihr Debütroman „Kein eigener Ort“. FORTSETZUNG VON SEITE 17 neffen, den dortigen Herrscher Arghun, heiraten soll. Die Rückreise durch den Indischen Ozean blieb voller Fährnisse. Skorbut wütete an Bord, nur wenige überlebten. Die Flotte segelte über Sumatra, Ceylon und Indien nach Hormus in Persien, wo Kokejins Bräutigam inzwischen gestorben war und die Prinzessin stattdessen mit dem Sohn vermählt wurde. Über Trapezunt, Konstantinopel und Euböa gelangten die Polos schließlich 1295 nach Venedig, wo sie zunächst kaum wiedererkannt wurden. Drei Jahre später, als die Feindseligkeiten zwischen Venedig und Genua wieder aufflammten, zog Marco Polo als Kommandant einer Galeere in die Seeschlacht von Curzola und geriet in Gefangenschaft. Seinen Reisebericht diktierte er dem Schriftsteller Rustichello da Pisa in die Feder, als beide ein Jahr lang als Kriegsgefangene in Genua ausharrten. Sie nannten das Buch „Le Devisement du monde“: „Die Wunder der Welt“. Der Zusatz „Il Milione“, „Erzähler der tausend Wunder“, kam später. Seine Stilsicherheit verdankt es gewiss vor allem der Erfahrung des konspirativen „Aufschreibers“ Rustichello, der als Verfasser von Ritterromanen aus dem Artuskreis die Geläufigkeit des literarischen Kompositeurs einbrachte. Nur die Hälfte erzählt Es ist belegt, dass Marco Polo in späteren Jahren in den Großen Rat des Dogen berufen wurde. Er starb am 8. Jänner 1324. Er habe nur die Hälfte dessen erzählt, was er erlebt habe, bekundete der 70-Jährige auf dem Sterbebett. Von Anfang an wurde seinen Berichten immer wieder die Glaubwürdigkeit abgesprochen. Goethe hielt das Buch „für Wahrheit, wenngleich vieles märchenhaft erscheinen möchte“. Vor einigen Jahren monierte die China-kundige britische Historikerin Frances Wood das Fehlen von Einzelheiten: Die Große Mauer komme nicht vor. Ebenso nicht das Teetrinken. Oder das Verbinden der Frauenfüße in der Kindheit. Aber jeder Reisende hat seine eigene Selektion der Wahrnehmung. Viele Einwände gelten mittlerweile als entkräftet. So wurde beispielsweise die Mauer in ihrer heutigen Größe erst in der Ming-Dynastie, Jahrzehnte nach Marco Polos Rückkehr, errichtet. „Darf man einem Autor vorschreiben, was er gesehen haben müsste?“, fragt der renommierte Sinologe Tilman Spengler zurück. Marco Polos jüngste Biografin, die Literaturwissenschafterin Marina Münkler, pflichtet ihm bei, wie die meisten ihrer Kollegen. „Abgesehen von den fantastischen Erzählungen sind die Berichte Marco Polos, die auf eigenen Erfahrungen beruhen, außerordentlich lebendig und anschaulich“, hält der britische Biograf Cottie A. Burland fest. „Sie wurden durch Darstellungen späterer Reisender, sowohl aus dem Orient als auch aus Europa, bestätigt und stimmen vielfach auch mit den lokalhistorischen Überlieferungen überein.“ Von sich selbst gibt Marco Polo nur wenig preis. Wäre es ihm um die Selbstdarstellung gegangen, hätte er sich bei der Schilderung über sich und die Seinen nicht so viel Zurückhaltung auferlegt. Stattdessen wendet er sich fast ausschließlich der Beschreibung von Land und Leuten und ihren überraschungsreichen Eigenheiten zu. Dazu gehört auch seine weitblickende Wertschätzung der Steinkohle, deren ökonomischen Nutzen er als erster Europäer erkannt haben mag, ebenso wie jenen des Erdöls, das er in Täbris, am Fuß des Kaukasus, zum ersten Mal sprudeln sah. „Der größte Reisende aller Zeiten“ Für Alexander von Humboldt war der Venezianer schlichtweg „der größte Reisende aller Zeiten“. Unbestritten bleibt die Wirkungsgeschichte von Marco Polos „Il Milione“. Khubilai Khan, der 1294 starb, hatte von 1260 an das größte zusammenhängende Landimperium der Weltgeschichte regiert, von 1271 an auch als Kaiser von China, und damit die Yuan-Dynastie begründet. Mit dem Zusammenbruch der mongolischen Macht 1368 gingen auch die europäischen Handelswege nach dem Osten verloren, doch die Kunde von fernen Ländern blieb lebendig. Das Ziel der Seefahrer wurde Indien. Vasco da Gama entdeckte es 1498 bei seiner Fahrt um das Kap der Guten Hoffnung wieder – bereits 1426 war eine Kopie des „Milione“ nach Lissabon gelangt. Und der Genueser Christoph Kolumbus nahm Marco Polos Bericht in lateinischer Ausgabe zur Grundlage seiner Expedition, die Schätze Indiens auf der Westroute zu entdecken. Die Fortschrittsgeschichte Europas wurde nicht in höfischen Kabinetten oder auf wechselnden Schlachtfeldern entschieden, sondern auf Handelsstraßen und Schifffahrtsrouten. Aufbrüche ins Ungewisse, Forscherneugier und Wagemut lenkten die Schritte entdeckungsfreudiger Kundschafter weit über die bekannten Grenzen des Kontinents hinaus. So beginnt die Stunde der Neuzeit in Wahrheit nicht mit der Entdeckung Amerikas, sondern mit Marco Polos rastloser Reise bis ins Kaiserreich China. Il Milione. Die Wunder der Welt Von Marco Polo Illustr. Jubiläumsausgabe. Übers. aus altfranz. und latein. Texten von Elise Guinard. Nachwort von Tilmann Spengler. Manesse 2023 442 S., geb., € 47,50 Foto: Barbara Wirl Kann man als Migrant, als Migrantin jemals ankommen und neue Wurzeln schlagen? Das fragt Susanne Gregor in ihrem Roman „Wir werden fliegen“. „Anatomie dieser Neuanfänge“ Von Maria Renhardt Die gebürtige Slowakin Susanne Gregor ist als Kind mit ihrer Familie nach Österreich gekommen. Die fremde Sprache hat sie schnell erlernt. In einem Werkstattgespräch erläutert sie, dass für sie Integration und Assimilation von Anfang an kompromisslos und selbstverständlich waren. Damit habe sich ihre „Migrationserfahrung nach innen verlegt … und [sei] unsichtbar geworden“, hat sie in der Zeit erklärt. Das Thema Mi gration ist daher schon lange zum Herzstück ihres Schreibens geworden. In ihrem Roman „Wir werden fliegen“ setzt sie in vier Kapiteln die Geschichte eines Geschwisterpaares fort, das unterschiedliche Wege wählt, um sich dem Leben mit all seinen Herausforderungen zu stellen. Man kennt Alan und Misa bereits aus ihrem früheren Roman „Das letzte rote Jahr“. Das heimliche Sich-aus-dem-Staub-Machen Alans am Schluss, seine Flucht nach Hamburg, kann ihm Misa nie verzeihen. Geblieben sind Angst, Enttäuschung und das Bewusstsein, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. „ Ein Stück Weggehen, Ankommen, Suchen, Sehnen und Festhalten an der Zukunft – leichtfüßig und authentisch erzählt. “ Beulen im scheinbar geradlinigen Leben Das Motiv des Verschwindens greift Gregor hier als Rahmenklammer auf. Alans Schritt hat die Familiengeschichte mit großen Emotionen unterfüttert und ihn für Misa gewissermaßen auch zu einem Fremden gemacht. Als die Seinen auf legalem Weg nach Österreich kommen, ist er plötzlich wieder da, macht ein Medizinstudium und wird ein karriere bewusster Orthopäde mit konsequent verfolgten Zielen und Plänen. Den Fokus auf Karriere und overachieving führt Gregor der Zeit gegenüber auf die Prägung durch den Kommunismus zurück. Vordergründig schlägt nur Alans „Herkunft Beulen in sein scheinbar so geradliniges Leben“. Misa hingegen ist orientierungslos, auf der Suche und scheut sich vor dem „konventionellen Leben“ in der traditionellen Reihenfolge „Abschluss, Job, Heirat, Kind“. Nach einem Intermezzo in der Slowakei bei ihrer Großmutter fragt sie sich, ob es ihr überhaupt irgendwo möglich sein wird, „einen Ort zu finden, den sie klaglos annehmen konnte, in den sie sich so nahtlos einfügen konnte“. Und doch hat sie „irgendwann genug vom freien Fall“, während ihr Bruder wieder aus der kapitalistischen Bahn kippt. Er, „der Experte für die Anatomie dieser Neuanfänge“, erkennt, dass die „Währung Freiheit“ im Leben die kostbarste ist. Nebenbei treiben komplizierte Beziehungen den persönlichen Entwicklungsprozess der beiden voran. Gregor zeichnet ein mannigfaltiges, sensibles und auch brüchiges Bild von Lebensentwürfen im Spiegel kultureller Dichotomien und Erfahrungen, die von einer großen Wellenbewegung getragen sind. Dazu gehören Details wie das unberührbar machende Eindeutschen des Namens, die Doppelung von Fremdheit bei der Rückkehr in die ursprüngliche Heimat, Zugänge zu Konsum und Arbeit, Verluste und dann wieder Leichtigkeit: Ja, „wir werden fliegen“! Bleibt die weise Erkenntnis, dass „jedes Ende […] bloß der Beginn einer noch längeren Geschichte ist und dass das Überschreiten von Grenzen noch keinen neuen Menschen aus einem macht“. Ein Stück Weggehen, Ankommen, Suchen, Sehnen und Festhalten an der Zukunft – leichtfüßig und authentisch erzählt. Wir werden fliegen Roman von Susanne Gregor Frankfurter Verlagsanstalt 2023 252 S., geb., € 25,50 Ein ausführliches Werkstattgespräch mit Susanne Gregor findet sich im Band „Übers Schreiben sprechen“ – (Sonderzahl 2022). Darin sind Gespräche mit 18 Autorinnen und Autoren über das Schreiben nachzulesen, die FURCHE- Feuilleton-Chefin Brigitte Schwens-Harrant geführt hat.

DIE FURCHE · 1 4. Jänner 2024 Literatur 19 Über 600 Songs hat er geschrieben. Die „American Recordings“ gehören zu den sensationellsten Comebacks der Musikgeschichte. Nun erinnert der Bildtextband „The Life in Lyrics“ an Johnny Cash. Legende in Schwarz Von Rainer Moritz Wer sich vor einem halben Jahrhundert für Country-Music begeisterte und nicht in Nashville, sondern in Heilbronn oder St. Pölten lebte, erntete oft ein mitleidiges Lächeln von denjenigen, die auf harten Rock oder Pop standen. Country, das galt als urkonservatives Genre, als unbelehrbare Heraufbeschwörung des sogenannten Wilden Westens, für die sich vor allem jene interessierten, die TV-Serien wie „Bonanza“ oder „Die Leute von der Shiloh Ranch“ für ein realistisches Abbild amerikanischer Geschichte hielten. Selbst der 1932 im Süden der USA, in Arkansas, geborene John R. Cash brauchte lange Zeit, um sich aus der Country-Schublade zu befreien und seinen bis heute währenden Ruf als einer der großen, mythisch verehrten Musiker Amerikas zu erlangen. Zwanzig Jahre nach seinem Tod liegt nun der monumentale, auf Deutsch sogar ein paar Monate vor der US-Ausgabe erschienene Band „The Life in Lyrics“ vor, der – angereichert durch persönliche (nicht sehr tiefschürfende) Erläuterungen seines Sohnes John Carter Cash – die Facetten seines Werks zeigt und sich nicht scheut, das Auf und Ab eines intensiven Lebens nachzuzeichnen. „I Walk the Line“ Über 600 Songs hat Cash in seinem Leben geschrieben, 125 davon – bekannte, verkannte und vergessene – dienen als Basis für „The Life in Lyrics“ und erlauben es, einmal chronologisch, einmal thematisch angeordnet, die Höhe- und Tiefpunkte einer langen Karriere nachzuvollziehen. Diese begann bereits Mitte der 1950er Jahre, als Cash beim kleinen Sun-Records-Label erste Erfolge feierte. „I Walk the Line“, die so klare wie simple Aufforderung, seinen eigenen Weg zu gehen, stammt aus dieser Zeit. „The Life in Lyrics“ ist für Cash-Kundige und für Cash-Novizen konzipiert. Der Band druckt zahlreiche der mitunter in wenigen Stunden entstandenen Songs als Faksimile ab, in Cashs klarer Handschrift, und zeigt neben weitverbreiteten Pressefotos seltene Aufnahmen, die einiges vom Innenleben des Porträtierten bloßlegen. Grandios zum Beispiel das Foto mit seiner Mutter Carrie, die 1968 ungläubig die Platte „From Sea to Shining Sea“ in Händen Über Country- Musik schrieb zuletzt Bruno Jaschke am 29.11.2023: „Mitski: Country und der Duft der Prärie“, zu lesen auf furche.at. hält und von ihrem berühmten Sohn ebenso ungläubig angestarrt wird. Verräterisch das gestellte Familienfoto mit seinen drei Töchtern und seiner ersten Frau Vivian, deren eingefrorener Gesichtsausdruck davon kündet, dass diese Ehe nicht mehr lange halten wird. Johnny Cash verfolgte Themen, die sich wie rote Fäden durch sein Schaffen ziehen. Da sind die endlosen Straßen, die Züge und Eisenbahndepots, diese Symbole des Aufbruchs, da ist das Eintreten für die indigenen Völker Amerikas und für gesellschaftliche Außenseiter, als deren Anwalt sich der „Man in Black“ verstand. Unvergessen seine Gefängniskonzerte in Folsom und San Quentin, die Texte von einmaliger Schärfe hervorbrachten: „But I shot a man in Reno, just to watch him die“ oder „San Quentin, may you rot and burn in hell“. Cashs Karriere glich einer Achterbahnfahrt, und nicht selten schien es so, als könnte er sich aus dem Abgrund von Medikamenten- und Alkoholabhängigkeit nicht mehr befreien. Doch wer ihn abschrieb, sah sich getäuscht: Cash stand wieder auf, experimentierte mit musikalischen Strömungen und legte Konzeptalben vor, die nicht auf den schnellen Dollar schielten. Als Kraftquelle diente ihm seine zweite Frau June Carter, selbst eine gestandene Musikerin, Spross der Carter Family, des „Hochadels der Country-Music-Szene“. Johnny Cash „ Da sind die endlosen Straßen, die Züge und Eisenbahndepots, da ist das Eintreten für die indigenen Völker Amerikas und für gesellschaftliche Außenseiter. “ Foto: Getty Images /Redferns / GAB Archive Der US-amerikanische Sänger wurde am 26. Februar 1932 in Kingsland, Arkansas, geboren und starb am 12. September 2003 in Nashville, Tennessee. Deren Rolle würdigt „The Life in Lyrics“ auf schöne Weise. Früh galt Cash auf der ganzen Welt als (Country-)Ikone. Gerade im deutschsprachigen Raum hielten ihm seine Anhänger unbeirrt die Treue. Als junger Soldat der Air Force verbrachte er mehrere Jahre in Landsberg am Lech, und da es eine Zeitlang für ausländische Interpreten opportun war, ihre Lieder auf Deutsch einzusingen, beugte sich auch Cash dem Willen seiner Produzenten. Seine deutsche Fassung von „Five Feet High and Rising“ trägt so den Titel „Wo ist zu Hause, Mama“ und zählt zu den kaum zu überbietenden Kuriositäten der Unterhaltungsmusikgeschichte. Nicht minder aufwühlend und zur Fremdscham auffordernd seine Aufritte in „Wetten, dass …?“ oder 1992 in der Peter-Alexander-Show. Wie Cash sich nicht davon bringen ließ, mit dem wie stets quietschfidelen Alexander Wiener Lieder zu intonieren, lässt sich auf YouTube nachhören – und ist ohne größere Mengen Grünen Veltliner schwer zu ertragen. Schuld und Vergebung als Themen Die verblüffendste Kehrtwende in Cashs an Kehrtwenden reichem Leben ereignete sich Anfang der 1990er Jahre, als er dem Produzenten Rick Rubin begegnete, der wie ein „ultimativer Hippie“ aussah und „wie ein alter Säufer“ angezogen war. Dennoch kamen die beiden Männer zusammen, und Rubin erfand die Marke „Johnny Cash“ neu. Die Alben der „American Recordings“ zeigen einen zunehmend von Alter und Krankheit gezeichneten Sänger, der sich auf seine oft religiös grundierten Urthemen wie Schuld und Vergebung besinnt und in klarer Schlichtheit die ergreifendsten Lieder singt. Cashs Comeback zählt zu den sensationellsten der Musikgeschichte und brachte ihm eine neue, jüngere Zuhörerschaft ein – mit der Folge, dass die „American Recordings“ sein früheres Werk heute fast zu überschatten drohen. „The Life in Lyrics“ ist das Dokument einer legendären Laufbahn. Es lädt dazu ein, sich Evergreens wie „Ring of Fire“, zu Volksliedern gewordene Songs wie „Forty Shades of Green“, charmante Kleinigkeiten wie „Tennessee Flat-Top Box“ oder nicht zu Chartsehren gekommene Antikriegsappelle wie „Route 1, Box 144“ (wieder) anzuhören. Und wer damals, vor einem halben Jahrhundert, in Heilbronn und St. Pölten auf Johnny Cash schwor, darf sich längst rehabilitiert fühlen. The Life in Lyrics Von Johnny Cash/ Mark Stielper Übersetzt aus dem Amerikan. von Alexander Wagner Btb 2023 374 S., geb., € 49,40 LEKTORIX DES MONATS Das Schaf im Wolfspelz Buchpreis von FURCHE, Stube und Institut für Jugendliteratur Der Wolfspelz Von Sid Sharp Aus dem Englischen von Alexandra Rak NordSüd 2023 136 S., geb., € 22,70 ab 6 Jahren Von Franz Lettner Bellwidder lebt ganz allein in einem Häuschen am Waldrand – und kommt damit offenbar gut zurecht. Nächstens träumt das freundliche Schaf von Blumen, die es am Morgen munter – vor Blümchentapete – zum Frühstück verspeist, um dann fröhlich hineinzutanzen in den Tag. Den es ebenso bezaubernd findet wie sich selbst. Alles gut also? Nun ja, nur so lange, bis aus dem Wald ein schreckliches „AUUUUUUU“ herübertönt und die Schatten auf der Blumenwiese beim verstohlenen Blick aus dem Fenster lange Krallen haben und grässliche Zähne im aufgerissenen Maul. Allein die Vorstellung von einer Begegnung mit Wölfen lässt dem Schaf vor Angst die Knie schlottern, ein trotziger Versuch, sich in den Wald zu wagen, endet mit panischer Flucht zurück ins Haus. Weil aber die Brombeeren knapp werden und Bellwidder den Duft der Blumen und das Singen der Vögel so sehr vermisst, überlegt er sich eine Strategie: Mit einem selbstgenähten Wolfskostüm will er zum Schein die Seiten wechseln, als Schaf im Wolfspelz will er ungefährdet den Wald durchstreifen, sich nicht mehr fürchten müssen, sondern eher selbst Angst und Schrecken verbreiten. Der Plan scheint aufzugehen: Als Bellwidder auf seiner Suche nach Brombeeren einem Rudel Wölfe begegnet, erkennen die ihn als ihresgleichen und wollen mit ihm zusammen den Mond anheulen … Die Umkehrung des Motivs vom Wolf im Schafspelz ist der Erzählkern von Sid Sharps Debüt „Der Wolfspelz“, das mehr Comic ist als Bilderbuch. Auf 136 Seiten und in sechs Kapiteln wird – einer Spannungsdramaturgie verpflichtet – eine Geschichte über Identität, Angst und Selbstermächtigung erzählt. Dabei ist der von Alexandra Rak aus dem Englischen übersetzte Text maximal reduziert, viele Doppelseiten kommen ganz ohne Worte aus. Die Bilder sind von einer kraftvollen und Illustration von Sid Sharp © 2023 NordSüd Verlag kontrastreichen Farbigkeit, Dynamik entsteht auch durch den Wechsel der Seitenarchitektur: Einmal füllt eine Illustration eine ganze oder gar Doppelseite, dann wieder wird das Tempo mit zwei, drei oder vier Panels pro Seite erhöht. In hellen Momenten ist der Schauplatz dieses Abenteuers gut ausgeleuchtet, auf strahlenden Grüntönen blühen rote Blumen. Aber es gibt hier viel Schatten, und auch der Gegensatz zwischen dem Weiß des Schafspelzes und der tiefen Schwärze des Waldes sorgt für erheblichen Grusel. Am Ende immerhin geht die Geschichte für Bellwidder gut aus, und er kann wieder ganz er selbst sein. „Der Wolfspelz“ ist eben nicht nur ein spannendes Kinderbuch, das bestens unterhält, sondern auch eine Ermutigung für seine Leser und Leserinnen, an sich zu glauben und der Welt so zu begegnen, wie man ist.

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