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DIE FURCHE 04.01.2024

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DIE FURCHE · 1 14 Diskurs 4. Jänner 2024 ERKLÄR MIR DEINE WELT Neujahr oder die Freude, sich zu entwickeln Den gesamten Briefwechsel zwischen Johanna Hirzberger und Hubert Gaisbauer können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Johanna Hirzberger ist Redakteurin von „Radio Radieschen“ und freie Mitarbeiterin von Ö1. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast Es hat mir schon ein bisschen gefehlt, Ihnen zu schreiben. Hoffentlich hat sich Ihr Postfach mittlerweile geleert und bedrängt Sie nicht mehr mit Weihnachtswünschen und Spendenbriefen. Jedes Jahr kommt mir vor, als versteckten sich die Menschen zwischen den Jahren. Das hilft mir selbst beim Aufatmen und In-mich-Kehren. Ja, ich gestehe: Ich liebe die Zeit vor Neujahr. Schon Wochen und Tage vor Silvester fülle ich seitenweise mein Tagebuch und schreibe mit Farbstiften auf A3-Malblöcken meine Gedanken und Wünsche für das nächste Jahr. In mir kribbelt’s, denn es scheint so, als wäre alles möglich. Auch Neujahrsvorsätze genieße und zelebriere ich. Es ist mir egal, ob sich die Fitness- und die Achtsamkeits industrie mit den Vorsätzen ein Goldnäschen verdienen; ebenso, dass ich theoretisch an jedem anderen Tag im Jahr genauso gut eine neue Routine beginnen könnte. Das mag beides wahr sein, aber inwiefern haben solche Argumente auch nur im Ansatz irgend etwas mit mir und meiner Freude zu tun? Manchmal habe ich dann das Gefühl, dass mein Gegenüber mir den Spaß, den ich daran habe, mich weiterzuentwickeln, bewusst verderben will. Vielleicht, weil er oder sie selbst gerade nicht ausreichend Energie hat, um etwas zu verändern – oder weil sich die Person gar selbst unter Druck setzt, auch etwas verändern zu müssen, um sich wertvoll zu fühlen. Anderen Menschen etwas schlechtzureden, um sich selbst besser zu fühlen – das passiert mir ja auch manchmal, aber ich finde es trotzdem grausig. Darum steht auch das auf meiner Liste, in der Kategorie „aufpassen und abgewöhnen“. „ Anderen Menschen etwas schlechtzureden, um sich selbst besser zu fühlen – das passiert mir auch manchmal. Aber ich finde es trotzdem grausig. “ Apropos sozialer Vergleich: Erst vor Kurzem kam mir eine Erinnerung an den Kindergarten in den Sinn. Damals habe ich ein ungeschriebenes Gesetz gelernt: „Wenn dich jemand zu seiner Geburtstagsfeier einlädt, dann musst du ihn oder sie auch zu deiner einladen.“ Im Laufe meines Lebens wurde diese Regel erweitert: Nicht nur Geburtstage, sondern auch Familienfeiern, Wandertage, Einweihungsfeste, Studienabschlüsse und so weiter zogen einen Rattenschwanz an sozialen Verpflichtungen nach sich. Aber warum? Gefühlt habe ich es schon lange, aber jetzt nehme ich mir vor, diese Verpflichtungen offen zu hinterfragen. Wer weiß, vielleicht können Sie mir ja auch bei dieser Überlegung weiterhelfen. Warum verletze ich eine Person, wenn ich sie nicht zu meinem persönlichen Ereignis einlade? In meinem erweiterten Freundeskreis wird gerade geheiratet. Die eine Gruppe der Betroffenen entschließt sich dazu, den Vertragsabschluss nur zu zweit oder in Anwesenheit der engsten Herkunftsfamilie zu vollziehen. Die andere Gruppe investiert Tausende von Euros für ein Fest, das ihnen Erinnerungen für die Ewigkeit schenken soll. Wenn ich im Fall A nicht eingeladen werde oder im Fall B nicht erscheine, bedeutet das dann, dass meine Freundschaft mit den Personen wertlos oder treulos ist? Muss ich mich, um ein würdevoller Mensch zu sein, dafür schämen? Meine Gedanken zur Scham als nutzlosem Gefühl möchte ich irgendwann noch einmal aufgreifen. Jetzt aber freue ich mich einmal auf 2024 und wünsche auch Ihnen einen freudigen Start! Von Christian Jostmann Wolfgang Schäuble, ehemaliger Bundestagspräsident, In FURCHE Nr. 37 deutscher Innenminister und CDU-Urgestein, ist 81- 3800 15. September 2022 jährig gestorben. Aus dem Porträt zum 80. Geburtstag. „Er war alles außer Kanzler“, hieß es in den Nachrufen auf Wolfgang Schäuble, der am 26. Dezember im badischen Offenburg gestorben ist. Tatsächlich hat der Christdemokrat und langjährige Mitarbeiter Helmut Kohls die deutsche und europäische Politik geprägt. Mit Leib und Seele war er Parlamentarier: 1972 zog er in den Bundestag ein, von 2017 bis 2021 war er dessen Präsident. Am 12. Jänner 2023 hielt er die – umstrittene – Festrede zur Eröffnung des renovierten österreichischen Parlaments. Laut denkender Adlatus Wolfgang Schäuble war stets bereit, in der politischen Arena sein Bestes zu geben. Als führendes Mitglied der „Kampfgruppe Kohl“ hatte Schäuble gewichtigen Anteil daran, dass der Pfälzer die Macht in der Bundes-CDU und 1982 auch in der Bundesrepublik eroberte. Helmut Kohl dankte es seinem Getreuen, indem er ihn zum parlamentarischen Geschäftsführer seiner Partei und später zum Chef des Bundeskanzleramtes machte. [...] Mit seiner Loyalität half Schäuble, ob wissentlich oder nicht, ein raffiniertes System illegaler Geldbeschaffung zu decken, das der Pfälzer über Jahrzehnte hatte aufbauen lassen [...]. Doch dann passierte das Unverhoffte: Die Mauer fiel, und Kohl ergriff beherzt seine historische Chance. [...] Inzwischen Innenminister, handelte Schäuble binnen Monaten den Einigungsvertrag aus. Bei einer Wahlveranstaltung am 12. Oktober 1990 schoss ihn ein psychisch kranker Attentäter nieder. Schon nach wenigen Wochen saß er wieder auf dem Podium – von da an im Rollstuhl. Weitermachen wurde für Wolfgang Schäuble zur Überlebensfrage. [...] Am 3. November 1999 erließ die Staatsanwaltschaft Augsburg Haftbefehl gegen den früheren CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep. Das war der Beginn der sogenannten Spendenaffäre, die das System Kohl über Nacht zum Einsturz brachte. [...] Die lachende Dritte hieß Angela Merkel. Für Schäuble war die mutwillige Zerstörung seiner politischen Existenz womöglich noch schmerzhafter als jener Moment, da er nach dem Attentat von 1990 aus dem künstlichen Koma erwachte und wusste, dass er nie wieder würde gehen können. Doch wieder gelang ihm ein [...] Comeback. 2005 berief Merkel Schäuble als Innenminister in ihre erste Regierung, wo der Badener bald erneut durch lautes Nachdenken darüber auffiel, wie man den Staat gegenüber seinen Bürgern stärken könne, [...] notfalls auch durch die präventive Tötung von Terroristen. Es hagelte Kritik. Schäuble steckte sie scheinbar gleichmütig ein, und Merkel muss gedacht haben, dass ihn solche Todesverachtung für einen aussichtslosen Posten qualifizierte: den Job des Finanzministers nach der Lehman-Pleite. Ab 2009 kämpfte Schäuble darum, ausgerechnet Kohls letztes Vermächtnis an die Deutschen, den Euro, zu retten. [...] Dass Foto: APA / AFP / Pool / Hendrik Schmidt er dafür von fast allen Seiten geschmäht wurde, von den griechischen Bürgern bis zu den Besitzern deutscher Sparbücher, schien ihn nicht anzufechten [...]. [Das Amt des Bundestagspräsidenten] war die Krönung von Schäubles Karriere, ist er doch [...] mit Leib und Seele Parlamentarier – und der längstdienende Abgeordnete aller deutschen Nationalparlamente seit der Paulskirche. AUSGABEN DIGITALISIERT VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. 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DIE FURCHE · 1 4. Jänner 2024 Diskurs 15 Bei Wohnen und Energie zu entlasten, hilft am wirkungsvollsten gegen das Abrutschen in die Armut: ein Plädoyer für eine Wohnbau-Investitionsbank und eine Energiegrundsicherung fürs neue Jahr. Endlich mehr Energie in gute Lösungen stecken! hab keine Energie mehr“, sagt Cordula in der Sozialberatung der Diakonie – und sie meint es im doppelten Sinne. Die junge Frau mit „Ich zwei Kindern ist gekommen, weil sie nichts mehr zu heizen hat. Sie wohnt am Wiener Stadtrand in einer kleinen Wohnung und kann nicht mehr. Der Wohn- und Energieschirm begleicht Rückstände und übernimmt eine notwendige Heizrechnung. Cordula ist da, um darum anzusuchen. Wäre Österreich ein Dorf mit hundert Einwohnern, lebten neun Menschen in feuchten, schimmligen Wohnungen. Wohnen heißt, mehr als vier Wände um sich herum zu haben. Wohnen bedeutet daheim sein, es warm haben, genießen, gesunden. Wohnen geht unter die Haut. Kälte auch. Neben dem Risiko für Herz- Kreislauf-Erkrankungen erhöht sich durch Kälte die Infektanfälligkeit. In dem Augenblick, in dem der Körper auskühlt, werden die Schleimhäute nicht mehr adäquat durchblutet – und dadurch öffnet sich die Eintrittspforte für Erreger. Menschen verursachen Feuchtigkeit, etwa durch Schwitzen, Ausatmen oder Kochen. So produziert ein Haushalt mit vier Personen rund zwölf Liter Wasser. Kalte Luft kann Feuchtigkeit nicht so gut aufnehmen wie warme Luft. Entsteht Schimmel, drohen Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen. Allergien und Atemwegserkrankungen können sich verschlechtern oder neu entstehen. Ständiges Frieren löst psychischen Stress aus, mindert die Leistungsfähigkeit und macht müde. Energiearmut geht unter die Haut Wohnen, Energie und Lebensmittel: Das sind die drei Hauptposten in Haushalten mit wenig Geld. Wohnen und Energie machen den größten Anteil aus, Lebensmitteleinkauf ist der kleinere Bereich. Wollen wir effektiv einkommensarme Haushalte entlasten, sind leistbares Wohnen und Energie am wirkungsvollsten. Wäre Österreich ein Dorf mit hundert Einwohnern, lebten sieben Menschen in zu engen, überbelegten Wohnungen. Wir brauchen mehr günstigen, leistbaren Wohnraum, mehr Investitionen in den öffentlichen und gemeinnützigen Wohnbau, da gibt es in vielen Teilen Österreichs noch großen Aufholbedarf, beson- Foto: Diakonie Österreich ders im Westen. Die Gründung einer Wohnbau- Investitionsbank könnte hier Ressourcen für neues günstigeres Wohnen schaffen. Sie würde Gelder bei der Europäischen Investitionsbank abholen und in Form von günstigen Darlehen an Wohnbauträger weiterleiten. Der Bund unterstützt mit einer Haftung. Diese Investitionen kämen jetzt gerade im drohenden Wirtschaftsabschwung richtig, wären gut für die Konjunktur. Gleichzeitig muss die Flächenwidmung mithelfen, günstigen Boden für sozialen und gemeinnützigen Wohnbau zur Verfügung zu stellen. Der ist zurzeit mancherorts viel zu teuer, um leistbare Mieten zu entwickeln. DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Martin Schenk „ Die ,Stromkostenbremse‘ sichert verbilligte Energie. Sie ist als Maßnahme aber weder sozial noch ökologisch. “ Wäre Österreich ein Dorf mit hundert Einwohnern, könnten es sich drei Personen nicht leisten, ihr zu Hause angemessen warm zu halten. Die sogenannte Stromkostenbremse, die Ende 2024 auslaufen wird, sollte zu einer Energiegrundsicherung weiterentwickelt werden. Damit wird jedem Menschen eine bestimmte Versorgung an Energie als Grundanspruch zugesichert. Die Stromkostenbremse sichert Haushalten verbilligte Energiekontingente zu. Was bisher fehlt, sind die Haushaltsgröße und die Haushaltseinkommen, um daraus sowohl eine soziale als auch ökologische Maßnahme zu machen. Eine Energiegrundsicherung muss neben Strom auch das Heizen miteinschließen. Die Ideen dazu sind in der Armutsforschung in den letzten zwanzig Jahren immer wieder diskutiert worden, erste Modelle wurden auf europäischer Ebene vorgeschlagen, auch Armutsnetzwerke in England und Belgien thematisierten einen kostenfreien Energieanspruch. Im Rahmen der „Right to Energy Coalition“ werden Energiegrundversorgungskonzepte als Menschenrecht verhandelt, denn: „Energiearmut ist keine bloß individuelle Last, sondern ein politisches Versagen.“ Die aktuelle Klima- und Energiekrise, vor allem aber die gestiegenen Energiepreise haben die Frage der Daseinsvorsorge mit neuer Wucht auf die politische Tagesordnung gesetzt. Eine Energiegrundsicherung stellt den Grundbedarf an Energie für alle Menschen sicher. Solch universelle Leistungen entlasten untere Einkommen stark, können unbürokratisch in Anspruch genommen werden, schützen die untere Mitte und wirken armutspräventiv, sind wichtig für die generelle Zustimmung zum Sozialstaat und stigmatisieren nicht. Wichtig ist hier die Verlässlichkeit von Maßnahmen, sprich strukturelle, nachhaltige soziale Sicherheit. Jetzt ginge es darum, vorliegende Modelle weiterzuentwickeln und ihre Umsetzung zu prüfen. 38 Prozent sind durch Wohnkosten belastet Cordula hofft, dass der Wohnschirm ihre Zahlungsrückstände übernimmt. Sie weiß aber auch, dass das keine Lösung für die Zukunft ist. Im Rahmen des Wohnschirms werden zwar teuerungsbedingte Mietrückstände übernommen, aber nur, wenn das Wohnverhältnis dauerhaft leistbar ist. Wenn Wohnkosten und Einkommen nicht mehr zusammenpassen, ist eine günstigere Wohnung nötig. Da schließt sich der Kreis mit der Wohnbau-Investitionsbank. Wäre Österreich ein Dorf mit hundert Einwohnern, berichteten in den letzten zwei Jahren 38 Menschen von einer schweren Wohnkostenbelastung, davon 18 dauerhaft. Da in gute Lösungen mehr Energie hineinzustecken, würde sich auszahlen. Gerade jetzt, im neuen Jahr. Der Autor ist Sozialexperte der Diakonie Österreich und Mitbegründer der Armutskonferenz. QUINT- ESSENZ Von Brigitte Quint Da geht noch was Kollege Oliver Pink von der Presse hat jüngst orakelt, wann heuer die Nationalratswahl stattfinden könnte. Längst werde gemunkelt, so Pink, dass die ÖVP den Mai präferiere. Für den Herbst spreche aus ÖVP-Sicht nur der Zeitgewinn. Der Sommer könne dafür genutzt werden, ein Rezept gegen Kickl zu finden. In meinem Kopf läuft ein Déjà-vu ab. Während der Corona-Pandemie palaverten vor den Ferien Hinz und Kunz über Schutzpakete und Maßnahmenpläne, die rechtzeitig zum Herbst „finalisiert“ werden würden. Alle Jahre wieder wurden alle Beteiligten von der neuesten Virusvariante kalt erwischt. Ähnlich lief es bei der Teuerung. Dass die Preissteigerungen auch und gerade in der Heizsaison einen Teil der Bevölkerung an seine finanziellen Grenzen bringen, schien die Regierenden zu überraschen. Ich bezweifle also, dass irgendein österreichischer Politiker den Sommer als Puffer zu nutzen wüsste. Bis auf Herbert Kickl vielleicht. Der würde bei seinen Bergtouren noch mehr Kraft für seine hetzerischen Reden tanken. Vielleicht fallen ihm sogar ein paar Feindbilder mehr ein. Ich finde ja, er lästert viel zu wenig über die Deutschen im Land. Schon klar, das widerspräche der Affinität zum Deutschtum im FPÖ-Programm. Aber da fände sich schon ein Weg. Kickl würde offene Türen einrennen. Die Studenten, die der heimischen Jugend die Studienplätze wegnehmen. Die Touristen, die einem echten Wiener einen Aufenthalt im Café Central verunmöglichen. Oder die deutschen Kinderbuchverleger, die ignorieren, dass das Wort „lecker“ einem Hochverrat am Österreichischen gleichkommt. Ich darf das schreiben, ich bin Deutsche und höre diese Aussagen ständig. Und weil meine Landsleute ebenso wenig wählen dürfen wie ich, wäre ein verstärktes Piefke- Bashing wahltaktisch nur konsequent. Auch ich präferiere den Mai als Wahltermin. Ich habe schließlich beruflich damit zu tun. Und ich wünsche mir sowie den heimischen Politikern einen unbeschwerten Sommer. Die ÖVP kann Kickl sowieso nicht verhindern. SPÖ, Grüne und Neos ebenso wenig. Sie hatten Jahre Zeit dafür. Sieben von zehn Österreichern werden das an der Wahlurne selbst erledigen. Je früher, desto besser. PORTRÄTIERT Abschied von einem Baumeister Europas Der „Zeit im Bild 1“ war sein Tod kein Beitrag wert. Dabei war der am 27. Dezember des Vorjahres verstorbene französische Europapolitiker Jacques Delors für die Entwicklung der EU wichtiger als der am selben Tag verstorbene Wolfgang Schäuble (siehe links). Der 1925 geborene französische Sozialdemokrat übernahm 1985 die Leitung der Europäischen Kommission und wollte die damals herrschende „Eurosklerose“ mit der Schaffung eines Binnenmarktes überwinden. So sollte der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital eingeführt werden, aber nur für Mitglieder der EG, wie die EU damals hieß. Österreichs SPÖ-ÖVP-Regierung unter Franz Vranitzky überlegte daher einen logischen Schritt: Österreich werde wegen der engen wirtschaftlichen Verflechtung einen Antrag auf Beitritt zur EG stellen, was im Juli 1989 auch passierte. Zuvor entwarf Delors aber für Österreich, Schweden, Finnland, Norwegen und die Schweiz, die allesamt Beitrittsgesuche stellten, als alternativen Plan zur Vollmitgliedschaft den „Europäischen Wirtschaftsraum“ (EWR). Nachteil des Projekts: Man musste die EU- Regelungen umsetzen, ohne diese mitentscheiden zu können – ein Unding für demokratische Staaten. Tief beeindruckt zeigte sich Delors von einem Besuch der Präsidenten der vier Sozialpartnerorganisationen aus Österreich im Februar 1990, die nachdrücklich die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen forderten. Der Kommissionspräsident sagte sie zu, aber frühestens 1993. Als Katholik und christlicher Gewerkschafter war Delors ein Anhänger der christlichen Soziallehre. Bereits 1989 initiierte er die Charta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer. Zudem gilt er als einer der Väter des Euro, den er 1989 als Ziel für die Wirtschaftsund Währungsunion verankerte. Für DIE FURCHE schrieb er 2012 einen Kommentar, in dem er als Lehre aus der Finanzkrise mehr Kompetenzen für das Europäische Parlament forderte. 2019 schließlich warnte das von ihm gegründete „Jacques-Delors-Institut“ eindringlich vor EU-Gegnern, die die Flüchtlingswelle für sich nützen wollten. Just das droht freilich auch bei den Europawahlen im Juni 2024. Dabei benannte Jacques Delors schon 1995 nach seiner Amtszeit in Brüssel einen wichtigen Mangel des europäischen Projekts. Man müsse „Europa eine Seele geben“, mahnte er. Denn: „Niemand verliebt sich in einen Markt.“ (Otmar Lahodynsky) Foto: APA / AFP / Eric Piermont Den Kommentar „Die Eurozone – das Herz einer politischen Union“ vom 29.11. 2012 lesen Sie auf furche.at sowie unter diesem QR-Code:

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