DIE FURCHE · 40 4 Das Thema der Woche Spirale der Vergeltung 3. Oktober 2024 FORTSETZUNG VON SEITE 3 dem Gefühl, dass wir diesen Krieg nicht gewinnen, ist ein neues Gefühl. Wir sind an kurze Kriege gewöhnt, die wir schnell gewinnen. Dieser Krieg jedoch dauert schon ein Jahr an – und er hat nichts gebracht. Die Hamas herrscht weiterhin in Gaza. Ja, die Organisation mag geschwächt sein, aber besiegt ist sie nicht. Gerade erst habe ich gelesen, dass die Hamas nach wie vor in der Lage ist, Gehälter auszuzahlen. Auch die Geiseln sind nicht befreit. Hinzu kommt, dass die Bedrohungslage aus Syrien, Iran oder dem Jemen zunimmt. DIE FURCHE: Verlagert sich das Hauptkriegsgeschehen nun in den Norden, und wird dies erst einmal so bleiben? Segev: Das Hauptziel der israelischen Regierung, so heißt es nun in den israelischen Medien, ist es, dafür zu sorgen, dass die Menschen in die nördlichen Landesteile Israels zurückkehren können. Das ist überraschend, denn bislang galt die Befreiung der Geiseln als oberstes Ziel. Alles bewegt sich. Zu jenem Gefühl, besonders gefährdet zu sein, kriegt man den Eindruck, alles wird unprofessionell gemanagt. Viele Handlungen wirken regelrecht zufällig. Etwa der Pager-Angriff im Libanon. Denkbar ist, dass es der Anfang einer größeren Aktion war oder dass jemand in der Hisbollah davon erfahren hat und deswegen schnell die Entscheidung getroffen wurde, die Geräte explodieren zu lassen. DIE FURCHE: Sie sprechen davon, dass das alles schlecht gemanagt sei. Wen konkret haben Sie im Sinn? Segev: In den vergangenen Jahren war es ein wesentlicher Teil der Politik Benjamin Netanjahus, den Menschen zu vermittelt, dass das Problem mit den Palästinensern im Grunde gelöst ist. Irgendwie. Hin und wieder gab es mal einen Terroranschlag, aber irgendwie konnte man doch mit dieser Lage leben. Viele Israelis haben so gedacht – bis ihnen am 7. Oktober 2023 der wahre Status quo brutal vor Augen geführt wurde. Jetzt stehen wir da und begreifen, dass das Hauptproblem all unserer Probleme das palästinensische Problem ist. Angehörige israelischer Geiseln kleben deren Bilder während einer Kundgebung vor der Militärbasis HaKirya an eine Wand. Wie viele der 101 in Gaza verbliebenen Geiseln noch am Leben sind, ist nicht bekannt. DIE FURCHE: Welchen Lösungsansatz verfolgen Sie? Segev: Das palästinensische Problem ist unlösbar. Es dreht sich dabei nämlich nicht um konkrete Interessen, sondern um Gefühle, um Glauben und Ideologien, Religion und Identität. Es stoßen zwei Identitäten aufeinander, und beide Seiten definieren ihre Identität durch das Land. Sicher gibt es bei den Israelis und auch bei den Palästinensern Menschen, Organisationen, Zeitungen oder Politiker, die an Versöhnung glauben. Doch es dominiert etwas anderes. In dem Zusammenhang: Ich habe eine Biografie über David Ben-Gurion geschrieben. Darin beschäftige ich mich mit einem Zitat von ihm aus dem Jahr 1919. Damals war er noch sehr jung, aber schon aktiv in der Politik. Ben-Gurion sprach Gefolgsleute an und hielt ihnen vor, an eine Lösung des Problems zu glauben. Er selbst sagte, es gebe keine Lösung, die Kluft zwischen Juden und Arabern – von Palästinensern wurde damals noch nicht gesprochen – sei zu groß. Wir als Nation wollen das Land, sie als Nation wollen das Land. Ben-Gurion erklärte bereits 1919, dass er keinen Araber kenne, der damit einverstanden wäre, dass die Juden Palästina bekämen. Über vierzig Jahre stand er an der Spitze der zionistischen Bewegung und hat den Kampf für Israel geprägt. Dieses Denken war sein Ausgangspunkt. Diesen Konflikt kann man also nicht lösen, man kann ihn nur managen. Und meiner Meinung nach wurde er noch nie so katastrophal ge ma nagt wie unter Netanjahu. Man kann leider immer nur etwas tun, das die Spannung verringert, aber ich glaube nicht an die Zweistaatenlösung. Das ist eine diplomatische Fiktion, die sich viele Länder angeeignet haben, damit ihre Leute irgendwas sagen können. Ben-Gurion zum Beispiel hat den Konflikt 1948 gut gemanagt, als er das Westjordanland nicht annektiert hat. Er wusste, dass es keinen Sinn ergibt, eine Bevölkerung unter Kontrolle zu bringen, die man gerade losgeworden ist. 1967 dann war die Vernunft dahin, und seitdem ist dieses Problem viel schwieriger zu managen. Netanjahu schließlich hat das Konzept entwickelt, die palästinensischen Gruppen gegeneinander auszuspielen: teilen und herrschen. Daher sprechen die Palästinenser nicht mit einer Stimme und verlangen nach einem gemeinsamen Staat. In diesem Zusammenhang hat es Netanjahu für vertretbar gehalten, zuzulassen, dass Katar regelmäßig Geldkoffer nach Gaza schickt. Die Hamas war hier klüger, diese Leute haben unter der Nase von Netanjahu und auch der Armee eine Untergrundstadt unter Gaza errichtet. Und ich komme immer wieder zu der Frage zurück: Wie konnte das alles nur passieren? „ Ich glaube nicht an die Zweistaatenlösung. Das ist eine diplomatische Fiktion, die sich Länder angeeignet haben, damit ihre Leute irgendetwas sagen können. “ DIE FURCHE: Bis zum 7. Oktober lebten viele Israelis hinsichtlich der Palästinenser in relativer Sicherheit; die Palästinenser, so schien es, waren nicht mehr das wichtigste Politikinteresse Israels, stattdessen wurde das Abraham-Abkommen unterzeichnet, das etwa zu Friedensverträgen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain führte. Segev: Seit dem 7. Oktober steht das palästinensische Problem wieder oben. Es war ja so, dass viele Menschen aus Tel Aviv nah an die Grenze Gazas zu einem Festival gefahren sind. Und dann geschah es. Ein Teil kam nicht einmal auf den Gedanken, dass das gefährlich sein könnte. Schlimmer noch: Einige haben die Sicherheitsbehörden gefragt, ob man das machen könne, und es gab keinerlei Einwände. Niemand hat so etwas wie die Massaker vom 7. Oktober für möglich gehalten. Doch es ist geschehen, und zwar ausgerechnet der Hightech-Supermacht, die jedes Telefon in Gaza abhören und, wie wir jetzt wissen, auch Pager im Libanon explodieren lassen kann. Der Kontrast zwischen dem und den Palästinensern, die sich in den Boden graben, ist gewaltig. Ihre Mittel sind primitiv, weswegen viele nicht geglaubt haben, dass ein Angriff wie am 7. Oktober durchgeführt werden kann. Da ist viel Überheblichkeit dabei. DIE FURCHE: Was wird mit den israelischen Geiseln geschehen? Segev: Ich sehe leider nicht, wie man die Geiseln retten kann. Denn Hamas-Chef Yahya Sinwar ist ein Wahnsinniger. Dieser Mann ist bereit, 40.000 Leute für die Idee oder das Ziel zu opfern, dass Israel einmal verschwindet und eine islamische Republik entsteht, anstatt dass er aus seinem Loch kriecht und die Hände hebt. DIE FURCHE: Wie also geht es in Gaza weiter? Segev: Im Oktober startete Israel die Offensive, und das Ziel war ein absoluter Sieg. Doch was soll das sein, wie soll der aussehen? Der Einmarsch fand erst mal statt, die Zerstörungen sind furchtbar. Das Leid für tausende Menschen ist unvorstellbar. DIE FURCHE: In Europa und Nordamerika kochen die Emotionen angesichts des Kriegs hoch. Nicht gegen die Hamas, sondern vor allem gegen Israel gehen viele Menschen auf die Straße oder protestieren an Universitäten. Es kommt auch zu antisemitischen Übergriffen. Segev: Ich bin der Ansicht, dass richtige Anti semiten nicht Israel als Ausrede brauchen, um Antisemiten zu sein. Wenn sie die Juden hassen, dann hassen sie die Juden. Es gibt hier aber auch viele Menschen, die Israel kritisieren und nicht antisemitisch sind. Es gibt auch viele Menschen, die den Zionismus kritisieren und nicht antisemitisch sind. Ja, es gibt gute Gründe, Israel zu kritisieren. Aber es ist auch so, dass die Welt dazu neigt, für den vermeintlich Schwächeren zu sein. Sie haben keine Vorstellung davon, was für eine Solidarität und Liebe wir die Tage nach dem 7. Oktober 2023 bekommen haben. Wir waren die Armen, weil diese Terroristen mehr als tausend unserer Zivilisten umgebracht haben. Alle Welt war für uns. Und jetzt sterben die Kinder in Gaza, und die Stimmung hat sich gedreht. DIE FURCHE: Gaza steht im Fokus der Weltöffentlichkeit. Der Elefant im Raum ist jedoch der Iran. Es gibt Experten, die halten Foto: AFP / Gil Cohen-Magen eine große Konfrontation zwischen Israel und dem Iran für unvermeidlich. Zählen Sie dazu? Segev: Ich weiß nicht, ob es zu einem großen Krieg zwischen Israel und dem Iran kommen muss, aber es kann dazu kommen. Das ist das, was die Amerikaner vermeiden wollen, vor allem vor den Präsidentschaftswahlen in den USA. Sie geben sich große Mühe. Es ist unglaublich, wie oft der US-Außenminister in diesem Jahr in Israel war, sechs Mal. Biden telefoniert dauernd mit Netanjahu. Das zeigt, dass ein Krieg zwischen Israel und dem Iran eine Gefahr für die ganze Welt wäre. Die Hisbollah im Libanon ist abhängig vom Iran. Der Angriff mit den Pagern auf die Hisbollah dürfte im Libanon und im Iran als Angriff auf den Iran verstanden werden. Dieser Angriff ist strategisch nicht besonders bedeutend, er sendet aber eine Nachricht. Er ist auch eine Beleidigung, ein Affront. Im Nahen Osten ist so etwas, sind Gefühle, furchtbar wichtig. Die Hisbollah und mit ihr der Iran sind gedemütigt. Ich frage mich, was wir davon haben, diese Leute gedemütigt zu haben. Ich weiß es nicht, aber ich befürchte, dass wir nichts davon haben. Und ich kann mir vorstellen, dass der Grund, warum es ausgerechnet jetzt geschehen ist, die Annahme war, dass die Hisbollah dabei war, die Sprengladungen zu finden. DIE FURCHE: Welche Bedeutung hat die Aktion letztlich? Segev: Also, ich weiß nicht, was der Pager- Angriff für einen Effekt haben kann, wenn nicht einen psychologischen. Übrigens auch für Israelis, die nach dem 7. Oktober sagen können: Seht her, wir sind nach wie vor immer die Hightech-Macht. Denn so etwas hat noch kein Land getan, nur wir. Das transportiert nicht meine Meinung, ich gebe lediglich eine Stimmung wieder. DIE FURCHE: Sie haben sich vorhin bereits kritisch über Netanjahu geäußert. Sie sind nicht der Einzige, viele Israelis demonstrieren gegen seine Regierung. Warum? Segev: Es ist nicht so, dass die Geiseln Netanjahu nicht beschäftigen. Aber es gibt Dinge, die ihn mehr beschäftigen. Sein politisches Überleben beschäftigt ihn mehr. Er ist vollkommen abhängig von zwei kleinen, rechtsradikalen Parteien. Ohne die funktioniert seine Koalition nicht. Das sind rassistische, antidemokratische Parteien, die ihn schikanieren. Das treibt ihn um. Auch sein Prozess beschäftigt ihn vermutlich. DIE FURCHE: Der Korruptionsprozess gegen ihn bestimmt seine Willensbildung? Segev: Ja, die Sache ist schädlich für Israel, vieles in der israelischen Politik fällt darauf zurück. Es schadet der Gesellschaft – und der Prozess ist noch lange nicht vorbei. Auch muss Netanjahu selbst noch vor Gericht auftreten, auch wenn er so tut, als wäre der Prozess längst vorbei. Eigentlich ist Netanjahu geschwächt, er sieht auch nicht gut aus. Das ist neu, Netanjahu meistert TV-Auftritte eigentlich sehr gut. Nun aber spricht er kaum mit israelischen Medien, tritt lieber im US-Fernsehen auf. Er fühlt sich angegriffen und verfolgt von den Medien. Das sind Anzeichen dafür, dass ein Politiker merkt, dass seine Zeit zu Ende geht. Jerusalem Ecke Berlin Von Tom Segev Siedler 2022 416 S., geb., € 33,50
DIE FURCHE · 40 3. Oktober 2024 Das Thema der Woche Spirale der Vergeltung 5 Der Blick der islamischen Welt auf den Gaza-Konflikt ist ein anderer als der des Westens, das wird nach den Ereignissen des 7. Oktobers noch deutlicher. Die geopolitische Solidarität der Muslime mit den Palästinensern wird nicht nachlassen - eine Analyse. Europa sollte sich neu positionieren Von Rüdiger Lohlker Es wurde zwar schon oft – häufig sinnbefreit und aus leicht erkennbaren Interessen heraus – von Zeitenwenden und ähnlichen Konstrukten gesprochen. Der 7. Oktober 2023 ist ebenfalls keine solche Zeitenwende, vielmehr die Fortsetzung kriegerischer Auseinandersetzungen, die in ihrem Schrecken schon lange andauern. Was nach dem 7. Oktober aber erkennbar wurde, ist die unterschiedliche Reaktion auf dieses Ereignis außerhalb Europas, Nordamerikas und Israels. Nicht nur in der arabischen Welt, auch in der islamischen Welt wird deutlich, dass die Perspektiven völlig andere als die der europäischen Politik und Medien sind. Für die islamische Welt lässt sich festhalten, welch unterschiedliche Per spek tiven in diesem häufig als einheitlich vorgestellten Teil unserer Welt vorhanden sind. Palästina- Proteste Auf der ganzen Welt formierte sich Unterstützung für die Palästinenser. Diese wird so bald auch nicht abnehmen, zu sehr sind die Fronten verhärtet. ARABISCHE WELT Trotz aller von der israelischen Regierung propagierten Versuche, mit arabischen Staaten, insbesondere Saudi-Arabien, eine Aussöhnung herbeizuführen, haben die Entwicklungen der letzten Zeit dazu geführt, dass in den regierenden Eliten wie auch in der Bevölkerung der sogenannten arabischen Straße (auch der virtuellen) die Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung zu einem dominanten Thema wurden, wodurch friedliche Lösungen für die diversen Konflikte in der arabischen Welt immer schwieriger werden. ASERBAIDSCHAN Die Beziehungen zwischen Aserbaidschan und Israel sind wechselhaft. Aufgrund der starken jüdischen Minderheit wird von der Regierung des mehrheitlich muslimischen Staates dem Judentum gegenüber eine positive Haltung eingenommen. Seit 1992 unterhalten Aserbaidschan und Israel enge wirtschaftliche und militärische Beziehungen. Nichtsdestotrotz hat Aserbaidschan während seines Vorsitzes bei der Bewegung der Blockfreien von Oktober 2019 bis Jänner 2024 und auch danach zur Palästina-Frage eine eindeutige Position eingenommen. Bei einem Besuch in Kairo im Juni 2024 erklärte der Präsident Aserbaidschans, ein unabhängiger palästinensischer Staat mit der Hauptstadt Ostjerusalem müsse errichtet, die Tragödie in Gaza beendet und alle Probleme durch Verhandlungen gelöst werden. INDONESIEN Von palästinensischer Seite wurde der antikoloniale Kampf der Indonesier bereits recht früh unterstützt. Dies geht bis in die 1930er Jahre zurück. Daraus entwickelte sich eine Unterstützung des unabhängig gewordenen Indonesiens von palästinensischer Seite, die Foto: APA / AFP / Jeff Kowalsky sich für das unabhängige Land in der Arabischen Liga einsetzte. Auch wenn es immer wieder Versuche gab, die Beziehungen zu Israel zu verbessern, blieb das Verhältnis angespannt. In der aktuellen Situation wird von indonesischer Seite das israelische Vorgehen scharf kritisiert, auch der Anspruch Israels, in Selbstverteidigung zu handeln, wird deutlich zurückgewiesen. Die propalästinensische Haltung findet sich auch in der indonesischen Öffentlichkeit, selbst im Straßenbild. IRAN Historisch sieht sich die Islamische Republik Iran als Vertretung der palästinensischen Sache. Aufgrund der engen Freundschaft Israels mit dem vorhergehenden Schah-Regimes kombiniert sich diese Haltung mit einer feindlichen Haltung Israels gegenüber. Angesichts der jüngsten Entwicklungen in Gaza, der Westbank und im Libanon konstatiert der neue iranische Präsident, Massud Peseschkian, Israel wolle den Iran in einen Krieg ziehen. Dies bezieht er auch auf die Tötung des Auslandschefs der Hamas in Teheran durch eine mutmaßlich israelische Aktion. Mit dem Raketenbeschuss Israels durch den Iran am 1. Oktober wurde eine neue Eskalationsstufe erreicht. LIBANON Objekt massiver israelischer militärischer Angriffe war und ist der Libanon. Das Land mit christlichen Minderheiten, deren Organisationen zum Teil mit Israel verbündet waren, wird mit irregulären Angriffen, die auch Zivilisten und Zivilistinnen treffen, offenen Kriegshandlungen wie Luftangriffen – u. a. der gezielten Tötung des wichtigsten Anführers der Hisbollah – seit Wochen von Israel angegriffen. Die Angriffe erfolgen explizit auf Aufforderung des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu, der dies als Vergeltung gegen Angriffe der Hisbollah auf Israel qualifiziert. Die großen Opferzahlen führen zu Protesten in arabischen und islamischen Ländern. PAKISTAN Neben öffentlichen Protesten von diversen Organisationen gegen das israelische Vorgehen in Gaza und in der Westbank ist auf diplomatischer Ebene zu vermerken, dass die pakistanische Regierung vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ICJ) in Den Haag bereits im Februar 2024 die israelische Regierung anklagte, das Recht auf Selbstbestimmung der Palästinenser anzugreifen, durch die fortdauernde Siedlungspolitik Fakten zu schaffen und Diskriminierungen gegen die palästinensische Bevölkerung auszuüben. Aufgrund der massiven internen Probleme spielt der israelisch-palästinensische Konflikt nur eine kleine Rolle in der pakistanischen Innenpolitik; die Außenpolitik erlaubt es der Regierung, sich als Teil einer globalen Protestbewegung gegen Israel und für Palästina zu gerieren. TÜRKEI Während die Türkei durchaus immer wieder gute Beziehungen zu Israel hatte, führten die jüngsten Entwicklungen dazu, dass der türkische Präsident Erdoğan rhetorisch mit einem Einmarsch in Israel zur Unterstützung der Palästinenser droht und zu ähnlich brachialer Wortwahl greift. Es geht ihm hauptsächlich um die Mobilisierung seiner Kernwählerschaft. Von der israelischen Seite gibt es ähnliche Worte. Auch wenn dieser diplomatische Theaterdonner wenig zielführend ist, wird er von Teilen der türkischen Bevölkerung goutiert. SCHLUSSFOLGERUNG Angesichts der aktuellen Entwicklung ist nicht davon auszugehen, dass die weit über die islamische und arabische Welt reichende Solidarität mit den Palästinensern abnehmen wird. Es geht allerdings in erster Linie um geopolitische Solidarität. Das Verhältnis zu Palästina – und damit zu Israel – ist weniger abhängig vom jeweiligen Regime Lesen Sie dazu „Nahostkonflikt vor unserer Tür“ des Islamwissenschafters Mouhanad Khorchide (11.20.2023) auf furche.at. „ In der islamischen Welt will man die europäische Dominanz bei der Deutung des Konflikts nicht mehr anerkennen. “ als von der historischen Entwicklung des Landes. Der Konflikt um Israel/Palästina wird in erster Linie als kolonialer Konflikt begriffen, in dem die Palästinenser die unterworfene Seite sind. Allerdings sollen im Gegensatz zur als bedingungslos definierten Unterstützung Israels differenzierte Lösungen für die palästinensische Situation angedacht werden, häufig mit Bezug auf das internationale Recht. Die Auffassung europäischer Medien und Politik, es gebe eine bedingungslose Unterstützung Israels und die Solidarität mit Palästina sei gleichbedeutend mit Terrorismus, entpuppt sich als gering gegenüber der Kritik in der islamischen Welt, die die europäische Dominanz nicht mehr anerkennen will. Eine neutrale Positionierung ist anzuraten, um für Europa eine zukunftsträchtige Haltung zu entwickeln, die jenseits purer Machtprojektion verstanden wird. Der Autor ist Professor für Islamwissenschaft an der Uni Wien. Nächste Woche im Fokus: Vor 180 Jahren, am 15. Oktober 1844, wurde Friedrich Nietzsche geboren. Mit seiner These „Gott ist tot“ wurde er zum Epochenmacher. Doch sein Satz wird bis heute missinterpretiert. Nietzsche war nicht der Mörder, sondern der Grabredner Gottes. Ein Fokus auf den „Philosophen mit dem Hammer“.
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