Von Paul Mychalewicz m Jahr 1949 hatten sowohl Deutschland als auch Österreich vier Jahre Besatzung hinter sich. Doch die Verhältnisse unterschieden sich deutlich. In Österreich bestand im Dezember 1945 – nach den Nationalratswahlen im November – eine demokratisch legitimierte Bundesregierung. Kanzler Leopold Figl konnte trotz beschränkter Souveränität des Landes in seiner Weihnachtsansprache im Radio einen Appell an die gesamte Bevölkerung richten: „Glaubt an dieses Österreich!“ Im Frühjahr 1949 gab es freilich noch immer kein Deutschland als völkerrechtliches Subjekt. Es existierten eine sich vereinheitlichende westliche Besatzungszone unter den Mächten USA, Vereinigtes Königreich und Frankreich – sowie eine östliche unter der Herrschaft der Sowjetunion. Die beiden Staaten „Bundesrepublik Deutschland“ und „DDR“ entstanden – am 23. Mai beziehungsweise 7. Oktober – letztlich auf Betreiben der Besatzungsmächte. In der Bundesrepublik betonte man den provisorischen Charakter des eigenen staatlichen Gebildes. Daher war Bonn nur als vorübergehender Regierungssitz gedacht. Ebenso vermied man den Ausdruck „Verfassung“ und wählte die Formulierung „Grundgesetz“. Dieses enthielt ein „Wiedervereinigungsgebot“. Mit der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 wurde de facto die Trennung Deutschlands besiegelt. Es war ein gegenüber 1937 flächenmäßig verkleinertes Deutschland, denn Polen wurde von den Alliierten Mächten des Zweiten Weltkriegs nach Westen verschoben, die sogenannte „Oder-Neiße-Linie“ bildete die zunächst provisorische und letztlich endgültige Westgrenze Polens. Wenn man will, kann man also den 7. Oktober 2024 als den 75. Jahrestag der Teilung Deutschlands sehen. Kredite für eine Diktatur Fast 40 Jahre lang wurden diese Grenzziehungen als unabänderlich angesehen. Es stellte sich nur mehr die Frage, wie man damit umgehen sollte. In der Bundesrepublik bestand der Widerstreit zwischen jenen, die die Prinzipien des Provisoriums und der Hoffnung auf Wiedervereinigung nicht aufgeben wollten, und jenen, die an diese nicht mehr glaubten und die Prioritäten auf menschliche Erleichterungen setzten – etwa verbesserte Besuchsmöglichkeiten in die und Ausreiseoptionen aus der DDR. Rückblickend erscheint es unverständlich, dass westliche Politiker – und zwar nicht nur Verfechter der so genannten Entspannung wie Willy Brandt (SPD), sondern auch furche.at. als „Kalte Krieger“ verrufene wie Franz Josef Strauss (CSU) – sich für Kredite an die DDR einsetzten und so vielleicht das Leben einer kommunistischen Diktatur verlängerten. Sie glaubten wohl, dies zur Erhaltung der Stabilität tun zu müssen. Jetzt DIE FURCHE 4 Wochen gratis lesen • frisch gedruckt vor die Haustür • online inkl. E-Paper für unterwegs • alle Artikel seit 1945 im FURCHE-Navigator Pssst! Erzählen Sie es gerne weiter ;) Lesen Sie dazu auch Helmut Wohnouts Essay „Österreich 1945: Geschichte einer Wiederauferstehung“ (7.5.2020) auf Am 2. Dezember 1990 fand im gerade wiedervereinigten Deutschland die erste Wahl auf Bundesebene statt. Helmut Kohls CDU triumphierte mit 43,8 Prozent, es folgten die SPD mit 33,5, die FDP mit 11 und die Grünen mit 3,8 Prozent. Die postkommunistische PDS erreichte nur 2,4 Prozent, die (teils rechtsextremen) Republikaner 2,1 Prozent. (Das Bild zeigt zwei sowjetische Soldaten vor einem CDU-Wahlplakat in Schwerin.) Doch der wirtschaftliche Zusammenbruch des Ostblocks und die Entscheidunterreich in die Bundesrepublik für den ost- westlichen Verbündeten kam Unterstüt- von DDR-Urlaubern aus Ungarn über Ösnehmer beruhigend einzuwirken. Von den gen zu mehr Freiheit durch den 1985 an die deutschen Machtzerfall. Für diese Flucht zung vom französischen Präsidenten François Mitterrand und dem amerikanischen Macht gekommenen Generalsekretär der zum richtigen Zeitpunkt war jedoch die KPdSU, Michail Gorbatschow, eröffneten Kooperation des ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh maßgeblich. Denn der war die Reaktion der britischen Premi- Präsidenten George H. Bush. Zurückhalten- für Deutschland ein Window of Opportunity zur Vereinigung. Das historische Verdienst, Helmut Kohl ging zwar als großer Europäer in die Geschichte ein, war aber nicht Die knapp elf Monate vom 9. November erministerin Margaret Thatcher. diese Gelegenheit erfasst zu haben, wird allgemein Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) immer unumstritten, auch nicht in seiner 1989 bis zum 3. Oktober 1990 mögen rückblickend wie ein Siegeszug erscheinen. Tat- zugeschrieben. Aber auch bedeutende Politiker brauchen maßgebliche Mitarbeiter tembertagen des Jahres 1989 bei einem sächlich erfahren wir durch das Tagebuch eigenen Partei. So hatte er in diesen Sep- und Berater, die die entscheidenden Hinweise in kritischen Momenten geben. Im scher Schwergewichte zu befürchten. Mit Bühne und mehr noch hinter den Kulissen Parteitag der CDU einen Aufstand politi- Teltschiks, wie viel harte Arbeit auf offener Fall von Kohl war dies Horst Teltschik, dessen vollständiges Tagebuch nun unter dem pest war aber das politische Leben Kohls erwartbar. Dies traf auch auf die noch in der der Nachricht der Grenzöffnung aus Buda- nötig war. Nicht jedes Erfolgserlebnis war Titel „Die 329 Tage zur deutschen Einigung“ gerettet. Organisiert hat das Zusammenspiel sein langjähriger Berater Teltschik. 18. März 1990 zu. Nach den Worten Kohls DDR abgehaltene Volkskammerwahl vom mit Nachbetrachtungen, Rückblenden und Ausblicken in Buchform erschienen ist. Herausgeber Michael Gehler bietet darin zu- Ankämpfen gegen ein Pfeifkonzert Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ war das Ergebnis ein „Gottesgeschenk“. Das nächst eine weltgeschichtliche Einordnung Voraussetzung für die Vereinigung aus CDU und anderen bürgerlichen Parteien erreichte 192 Mandate und kam damit der Ereignisse des knappen Jahres 1989/90. Deutschlands und auch Europas waren aber Anschließend geben die von ihm detailliert die Ereignisse des Abends vom 9. November der absoluten Mehrheit nahe. Die SPD erzielte 88 und die FDP 21 Mandate. Ein Tri- annotierten Tagebucheintragungen Teltschiks Einblicke in den Maschinenraum der von der Kohl aber bei einem lange vorbereiumph für Kohls Partei, die aber für die noch 1989. Es war die Öffnung der Berliner Mauer, politischen Abläufe. teten Besuch in Warschau erfuhr. Nun galt nötigen Parlamentsbeschlüsse bis zur deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 die Ver- es, möglichst rasch nach Berlin zu gelangen. Denn Kohl wollte jedenfalls den Fehler eines früheren Bundeskanzlers, Konrad 35 Jahre danach ist die Euphorie verfloantwortung in einer Koalition teilen konnte. Adenauer, vermeiden. Dieser setzte nach gen. Die Wahlergebnisse in den ostdeutschen Bundesländern Thüringen, Sachsen dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 eine Wahlkampfreise fort und traf erst und nun Brandenburg deuten vielmehr auf etliche Tage später in Berlin ein. Er erntete eine neue Spaltung hin, die zwar nicht vergleichbar ist mit jener vor 75 Jahren – aber dafür Kritik und Verluste bei der Bundestagswahl kurz danach. Kohl gelang es, am eine Einheit sieht wohl anders aus. 10. November rechtzeitig um 16.30 Uhr vor dem Schöneberger Rathaus in Westberlin Der Autor ist Historiker und Anglist sowie einzutreffen. Dort musste er bei seiner Rede gegen das Pfeifkonzert strategisch positi- Lehrbeauftragter an der PH Wien. Gehler, 1962 in Innsbruck geborener Historiker und Inhaber des Lehrstuhls onierter linker Demonstranten ankämpfen, für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Universität Hildesheim, Triumphzug gerieten. Horst Teltschik liefert Horst Teltschik. bevor weitere Veranstaltungen zu einem kritisiert die „Binnenfokussierung und in seinem Tagebuch eine höchst lebendige Die 329 Tage zur Deutschlandzentrierung“ der deutschen Schilderung von diesen dramatischen Stunden. So hatte er zwischendurch eine Rede Hg. von Michael Gehler deutschen Einigung Geschichtsschreibung ebenso wie die Vernachlässigung der Fragestellung „Europa für den Bundeskanzler zu schreiben und Vandenhoeck + und die deutsche Einheit“ – und verweist ihm mündlich das Ersuchen Gorbatschows Ruprecht 2024 u.a. auf die Bedeutung der Massenflucht zu vermitteln, auf die Versammlungsteil- 992 S., geb., € 94,50 Den gesamten Briefwechsel zwischen Johanna Hirzberger und Hubert Gaisbauer können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Johanna Hirzberger ist Redakteurin von „Radio Radieschen“ und freie Mitarbeiterin von Ö1. ben nach. In dieser Logik braucht es auch einen Gewinner, der oder die das Gegenüber austrickst oder unterdrückt. Die beiden sind nie auf Augenhöhe. So bekommt das Wort „Kompromiss“ und der damit einhergehende Austausch eine YouTube Reaction oder die ganze „originale“ Episode? einen negativen Beigeschmack. Als ob man miteinander Das Original ist nämlich im Vergleich zu den kommentierten, bearbeiteten Videos oft viel langsamer. Aber zurück timent passt dazu die beliebte Frage: „Na, wer hat in eurer konkurriert, der Stärkere siegt. Aus dem Machosätze-Sor- zum Kartenspiel. Was mir daran weniger gefällt ist die Beziehung die Hosen an?“ Aber zurück zu meiner Überlegung – was halten Sie von Kompromissen (und meinen Vorstellung, dass es beim Teilen unserer Welt ums Gewinnen oder Verlieren geht, wie bei einem Kartenspiel. Das Gedanken dazu)? Wie gesagt, für mich wirkt der Zugang bringt mich zu einem Gespräch, das vieler Menschen absurd. Wie kann ich vor einigen Tagen mit Freunden man sich für eine Partnerschaft entscheiden, in der man schlussendlich führte. Der Partner meiner Freundin meinte, sein Vater habe ihm drei Lebensweisheiten für erfolgreiche Be- sehe ich bei politischen Debatten, gegeneinander wettert? Ähnliches ziehungen (jeder Art) mitgegeben. die Differenz liegt im Fokus – dabei geht es bei der bevorstehenden Nationalratswahl ja eigentlich um die Demonstratives Augenrollen Erstens: Kommunikation ist die Repräsentation der österreichischen Basis jeder gelungenen Partnerschaft. Zweitens: Beziehungen leben Bevölkerung. von guten Kompromissen, und drittens „happy wife, happy life“. Ich bin Natürlich gibt es da unterschiedli- Kompromisse finden ehrlich, meine Reaktion auf die letzte Aussage war ein demonstratives Augenrollen. Ja, auch wenn man argumenkeiten und Perspektiven zu sprechen, habe ich das Geche Präferenzen, aber anstatt über Gestaltungsmöglichtieren kann, dass eine Beziehung natürlich gut funktioniert, wenn beide Partner glücklich sind, ist das einer gewinnen. Es würde mich freuen, wenn wir in Zukunft fühl, es geht meistens nur darum, Recht zu haben und zu dieser Machosprüche, von denen mir die Ohren bluten. Kompromisse als Möglichkeit sehen könnten, unsere Aber egal, dazu hatte ich mit dem Freund schon ausreichend diskutiert. Wichtiger finde ich die zweite Regel zum können. Im Privaten genieße ich es auch, Kompromisse Wünsche zu realisieren und gemeinsam gestalten zu Thema Kompromisse, die mein Interesse geweckt hat. zu finden. Es bringt mich näher zu meinen Freundinnen, Denn in letzter Zeit fällt mir auf, wie viele Menschen meiner Meinung nach einem Fehlkonzept von Kompromissen ich habe, welches sie, und wie wir kreativ werden kön- wenn wir uns darüber austauschen, welches Bedürfnis aufliegen. Die meisten Personen sehen Kompromisse als nen, um beide Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen. „Verlieren“, sie schlucken ihre Bedürfnisse runter oder ge- Ich freue mich auf Ihre Antwort. Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Aboservice: +43 1 512 52 61-52 Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl aboservice@furche.at Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Jahresabo (inkl. Digital): € 298,– Chefredakteurin Digital: Ana Wetherall-Grujić MA Digitalabo: € 180,–; Uniabo (inkl. Digital): € 120,– Redaktion: Philipp Axmann BA, MMaga. Astrid Bezugsabmeldung nur schriftlich zum Ende der Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (CvD), Mindestbezugsdauer bzw. des vereinbarten Magdalena Schwarz MA MSc, Dr. Brigitte Zeitraums mit vierwöchiger Kündigungsfrist. Schwens-Harrant, Mag. Till Schönwälder, Anzeigen: Georg Klausinger Dr. Martin Tauss, Mag. (FH) Manuela Tomic +43 664 88140777; georg.klausinger@furche.at Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Druck: DRUCK STYRIA GmbH & Co KG, 8042 Graz DIE FURCHE · 39 ie Meldung der Anerkennung des Wallfahrtsorts Međugorje südfranzösischen Lourdes. So steht für den Vatikan außer Frage, die Seelsorgeaktivitäten in Međugorje näher zu untersuchen und Richtlinien für die in Bosnien und Herzegowina durch den Vatikan am dass die Muttergottes den Hirtenkindern von Fatima wie auch der 19. September ging um die Welt. Selbst die New York Times Müllerstochter Bernadette Soubirous an der Grotte von Lourdes Betreuung von Pilgern zu erstellen. 2019 widmete dem Thema einen ausführlichen Bericht und übersetzte diesen sogar ins Spanische – wohl in Anerkennung der größlische Pilgerfahrten nach Međugorje. tatsächlich während einer kurzen Episode erschienen ist. genehmigte Franziskus schließlich kathotenteils katholischen spanischsprachigen Leserschaft des Blattes. Zweifel an Echtheit In Österreich gilt Kardinal Christoph Schönborn als einer der Ohne Zweifel markiert die Entscheidung eine Zäsur für den Umgang des Vatikans mit dem Pilgerort: Nach jahrzehntelanger ab- soll Maria sechs Jugendlichen am 24. Juni 1981 beim Schafehüten das erste Mal nach Međugorje. Bis dahin hatte dies fast 30 Jah- Im Falle der „Seher“ von Međugorje verhält es sich anders. So wichtigsten Fürsprecher des Pilgerortes. Bereits 2009 reiste er lehnender Haltung hat die römische Glaubenskongregation mit erstmals erschienen sein – und diese Erscheinungen hielten bis re lang kein hoher kirchlicher Würdenträger gewagt. Schönborn setzte sich auch für die Međugorje-Friedensgebete ein, die der Nihil obstat-Erklärung („es steht nichts entgegen“) eine grundsätzlich positive Einschätzung zu dem Wallfahrtsort abgegeben. ihnen als „Herrin“ bezeichnete Gottesmutter präzise Aussagen zu seit 2008 jährlich im Stephansdom stattfinden und zu denen re- heute an, so die „Seher“. In regelmäßigen Abständen soll die von Für Međugorje kann die Entscheidung also durchaus als Triumph gewertet werden. Trotzdem lohnt sich ein genauerer Blick keit der Erscheinungen als auch die konkreten Anweisungen (sie anreisen. kirchlichen und weltlichen Themen machen. Sowohl die Häufiggelmäßig hunderte Gläubige sowie Vertreter der Sehergruppe auf das Dokument „Die Königin des beziehen sich – neben allgemeinen Letztlich blieb dem Vatikan nichts anderes übrig, als Međugorje – Friedens“ des Dikasteriums für die Aufrufen zum Gebet für Frieden – mit den beschriebenen Einschränkungen – anzuerkennen. Zu Glaubenslehre, das die Anerkennung bestätigte und dies argumen- in Familienfragen oder üben Kritik pen, aber auch durch die stetig steigende Zahl von Pilgerinnen und etwa auf traditionelle Standpunkte groß wurde wohl der Druck durch konservative Interessengruptierte. So werden vom Vatikan die am Modernismus) ließen den Vatikan jahrzehntelang an der Authenkennung wohl als diplomatisch geschickte Entscheidung betrach- Pilgern. In dieser Hinsicht kann die nun bekanntgegebene Aner- vielen „geistlichen Früchte“, die mit Međugorje verbunden sind, anerkannt. Das Schreiben äußert sich Obwohl der Vatikan Wallfahrten ne Frage für Millionen gläubige Menschen ist: ein Ort der Hoffnung, tizität der Berichte zweifeln. tet werden. Einerseits erkennt sie Međugorje als das an, was es oh- aber explizit nicht zur Übernatürlichkeit, also zur Echtheit der Er- verboten hatte, entwickelte sich dererseits signalisiert man nach Međugorje viele Jahre sogar Gnade und Spiritualität. Anscheinungen. Das ist grundsätzlich nicht ungewöhnlich und entspricht der jüngsten dafür geschaffenen Regelung. Diese lässt wina. Heute besuchen jedes Jahr Millionen Pilgerinnen und Pilchenleitung auch künf- ein reges Pilgern in die 2300-Seelen-Ortschaft in der Herzego- dadurch seitens der Kir- sich wie folgt subsumieren: Im Fokus der Einschätzung der Kirche steht nun statt des (übernatürlichen) Phänomens vielmehr der Pilgerboom für die gesamte Region mit sich brachte, ist offen- Skepsis gegenüber inflatioger das einstmals verarmte Dorf. Der wirtschaftliche Segen, den tig das notwendige Maß an Auf furche.at finden Sie die geistliche Dimension des Ortes. kundig. Auch das mag bei der schwindenden dezidierten Ablehnung des Vatikans mitgespielt haben. So hat Papst Franziskus allzu vereinfachenden Bot- der Anerkennung Međugorjes ein nären „Erscheinungen“ und anlässlich Damit unterscheidet sich Međugorje von anderen großen Marien wallfahrtsorten wie etwa Fatima in Portugal oder dem 2017 den polnischen Erzbischof Henryk Hoser damit beauftragt, schaften. (Till Schönwälder) Dossier mit thematischen Texten. Offenlegung gem. § 25 Mediengesetz: www.furche.at/offenlegung Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, sind vorbehalten. Produziert nach Art Copyright ©Bildrecht, Wien. den Richtlinien des Österreichischen Dem Ehrenkodex der österreichischen Umweltzeichens, Presse verpflichtet. Druck Styria, UW-NR. 1417 Bitte sammeln Sie Altpapier für das Recycling. DIE FURCHE · 40 16 Diskurs 3. Oktober 2024 IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Libido und Destrudo Die Setzkästen der Nationalsozialisten Von Otto Friedrich Nr. 39, Seite 15 Danke für diesen Hinweis auf die FPÖ-Nationalsozialismus-Parallelen. Man tut üblicherweise eine solche Kritik der FPÖ als „Nazi-Keule“ ab. Damit ermöglicht man de facto eine Verniedlichung und Verleugnung der realiter seit Langem provokanten, zuletzt blasphemischen Göbbels- Imitation, einer Propaganda des Antiliberalismus, eines antihumanistischen „Saurauslassens“. Manche Österreicher waren spätestens in den frühen 1940er Jahren motiviert dazu – und entschlossen sich nach 1945 zu einem reset. Die meisten Nachkriegs- Österreicher verleugneten dabei erlebte und geerbte Destruktion. Es wird generell gerne verleugnet, dass der Mensch in seinem Wesen von Kräften der Libido und Destrudo getrieben wird: meist über weite Strecken – Gott sei Dank – von der Libido (des beziehungssuchenden Humanismus). Aber gelegentlich – z. B. in der Vor-1945er-Zeit – dominiert der Drang zur Zerstörung. Vor allem über die Destrudo-Triebkraft halten die Menschen seit jeher eine Verleugnung aufrecht: Und so bleibt es im Dunkeln, dass diese Triebe in den letzten Jahrtausenden ein Pendeln bewirkten: einerseits Aufbau von menschlichen Kulturen, andererseits Durchbruch des Lebens-Stillstandes. Letzter wird warmgehalten von der Glut des Urfaschismus (Ecco): Ablehnung von Differenzierung, Selbstkritik, kritischem Intellekt, Antimodernismus, Verschärfung der natürlichen Angst vor Unterschieden, Fremden- I DIE FURCHE · 39 8 International 26. September 2024 Kein Abo? Hier anmelden furche.at/abo/gratis +43 1 512 52 61 -52 aboservice@furche.at Die Einheit Deutschlands – verlorene Liebesmüh? Foto: Getty Images / Mambo Photo / Sven Creutzmann Vor 75 Jahren, am 7. Oktober 1949, wurde mit Gründung der DDR Deutschland geteilt. Wie kam es 1990 zur Wiedervereinigung, die heute wieder so brüchig scheint? Eine Analyse auf Basis eines neuen Buches. „ Durch das Tagebuch von Helmut Kohls Mitarbeiter Horst Teltschik erfahren wir, wie viel harte Arbeit auf offener Bühne – und mehr noch hinter den Kulissen – 1989/90 nötig war. “ Kanzler der Wende feindlichkeit, Rassismus, Männlichkeits- und Heldenkult … Dr. Franz Huber 1040 Wien Geschockter Osten Die Einheit Deutschlands – verlorene Liebesmüh? Von Paul Mychalewicz Nr. 39, Seite 8 Am 22. September 2024 gab es einen Schock in Deutschland, besonders in den westlichen Bundesländern, aber auch in der EU und darüber hinaus, als in Brandenburg die rechtsradikale AfD die Wahl gewonnen hatte. Umso mehr, als einige Wochen zuvor diese Partei auch in Thüringen und Sachsen erfolgreich war. Zuvor schon gab es ein Schockerlebnis für das besetzte Nachkriegsdeutschland, als am 7. Oktober 1949 in der Ostzone die DDR gegründet und 1961 die Berliner Mauer gebaut und Deutschland noch schmerzhafter geteilt wurde. Als diese 1989 dem Volksdruck nicht mehr standhielt, gab es einen Schock für das SED-Regime und seine Anhänger, aber Freudentaumel für die meisten Berliner und Ostdeutschen. Von dieser Euphorie mitgerissen waren Europa und der Westen, hoffnungsvoll auch viele Menschen im Osten. Mit der von Kanzler Helmut Kohl 1990 für das wiedervereinigte Deutschland verkündeten Hoffnung „Wohlstand für alle“ hat der Wendekanzler besonders in den neuen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg große Erwartungen auf eine gerechte Politik und wirtschaftlichen Aufschwung geweckt. Paul Mychalewicz zieht nun nach dem Studium des Tagebuches von Horst Teltschik, dem engen Mitarbeiter des Kanzlers, und angesichts der letzten Wahlergebnisse ziemlich pessimistische Schlüsse, dass nämlich 35 Jahre nach der Wiedervereinigung die Euphorie verflogen und einer neuen Spaltung gewichen sei. Damit endet auch Teltschiks Buch. Interessant zu wissen wäre es allerdings, ob er in einer Fortsetzung – selbstkritisch für Kohl und seine Nachfolger – auch nach den Ursachen der neuen Wahlergebnisse forschen würde: besonders über die unrühmliche Rolle der Treuhandgesellschaft, die bald nach der Wiedervereinigung einen Schock für hunderttausende arbeitslos Gewordene auslöste, als die Treuhandgesellschaft ihrem Namen untreu wurde und diese Umstrukturierungsgesellschaft die großen Betriebe der Industrie, des Handels und der Landwirtschaft in einer radikalen Privatisierungswelle vorwiegend an Spekulanten verscherbelte. Von dieser Arbeitslosenwelle und ihren Folgen hat sich der Osten bis heute nicht erholt. Karl Semmler Bad Blumau Andere Erfahrungen Međugorje: Ein Nihil obstat mit Abstrichen Von Till Schönwälder Nr. 39, Seite14 In Hinblick auf die Aussagen „Angesichts stetig steigender Pilgerzahlen sowie des Drucks von Lobbygruppen blieb dem Vatikan nichts anderes übrig, als Međugorje anzuerkennen“ möchte ich meine Erfahrungen kundtun, die mit dieser Feststellung nicht konform gehen. Ich begleite als Priester seit 1988 fast jährlich Pilgergruppen per Autobus zum Wallfahrtsort Međugorje. Die Teilnehmer machen dort positive 14 Diskurs 26. September 2024 D ERKLÄR MIR DEINE WELT Für mich wirkt der Zugang vieler Menschen absurd KOMMENTAR ch fühle mich geehrt, dass Sie unseren spielerischen Austausch so ernst nehmen und mir mit Ihrem „Guilty Pleasure“ vertrauen. Eine Nachfrage habe ich noch I an die Bachelorette-Folge, die Sie gesehen haben: War das Međugorje: Ein Nihil obstat mit Abstrichen „ Angesichts stetig steigender Pilgerzahlen sowie des Drucks von Lobbygruppen blieb dem Vatikan letztlich nichts anderes übrig, als Međugorje anzuerkennen. “ „ Die meisten Personen sehen Kompromisse als ‚Verlieren‘, sie schlucken ihre Bedürfnisse runter oder geben nach. In dieser Logik braucht es auch einen Gewinner. “ geistliche Erfahrungen. Nicht äußerliche Sensationen zu erleben oder die sogenannten Seher stehen im Mittelpunkt, sondern die spirituellen und sozialen Aspekte. Bei allen Angeboten in Međugorje wird immer betont, dass die Mitfeier der Heiligen Messe der Schwerpunkt jeden Tages ist. Für die Pilger aus vielen Kontinenten werden die Gottesdienste in verschiedenen Sprachen gefeiert, bei denen eine große Anzahl von Priestern konzelebriert. Um den Glauben kennenzulernen bzw. zu vertiefen, wird auf das „Gebet mit dem Herzen“ hingewiesen, insbesondere auf das betrachtende Rosenkranzgebet. Beichtmöglichkeiten werden von den anwesenden Priestern angeboten. Da viele Pilger dies annehmen, spricht man vom „Beichtstuhl der Welt“. Von Lebensbeichte und Neuanfang berichten so manche, die dieses Sakrament empfangen haben. Bei den spirituellen Schwerpunkten wird besonders auch auf die Bedeutung der Bibel hingewiesen. Die Inhalte der sog. Botschaften der „Gospa“ („Mutter“, nicht „Herrin“) stimmen mit den Aussagen der Heiligen Schrift und mit dem kirchlichen Lehramt überein. Die von den Sehern vermittelten Impulse sind keine religiösen Neuigkeiten oder „Weltuntergangsdrohungen“, sondern sie sind aufbauend und wegweisend. Denn das große Anliegen der Spiritualität von Međugorje ist, den Frieden im eigenen Herzen zu stärken und in besonderer Weise für den Frieden in der Welt zu beten. Maria wird dabei als „Königin des Friedens“ angerufen. Was mich besonders fasziniert und mit Hoffnung erfüllt, ist die große Anzahl von jungen Menschen, die man täglich trifft. Beim diesjährigen Jugendtreffen („Mladifest“ – Fest des Friedens) im August waren circa 50.000 Jugendliche aus 80 Ländern anwesend. Neben diesen spirituellen Schwerpunkten prägen soziale Einrichtungen das Leben in Međugorje. Im „Mutterdorf“ werden Waisenkinder und alleinerziehende Mütter betreut. Talente der Kinder und Jugendlichen werden gefördert. Dadurch können manche auch eine höhere Schule und Studium absolvieren. Und das „Cenacolo“ bietet jungen Menschen in Krisensituationen, besonders bei Drogenproblemen, durch das gemeinschaftliche Leben und das Gebet neue Hoffnung zur Änderung des Lebens. Solche Betreuungsstellen haben in vielen Ländern Fuß gefasst, insgesamt 71 Niederlassungen in 20 Ländern, so auch in Kleinfrauen haid im Burgenland. Ebenfalls hat die weltweite Aktion „Mary’s Meals“ ihren Ursprung in Međugorje. Der Schotte Magnus MacFarlane-Barrow lernte das vom Krieg zerrissene Bosnien-Herzegowina kennen, so auch die hoffnungsvollen Auswirkungen von Međugorje. Durch seinen Einsatz entstand diese große soziale Aktion, bei der nun 2,4 Millionen hungernde Kinder in den 18 ärmsten Ländern der Welt täglich eine warme Schulmahlzeit bekommen. Diese haben damit die Kraft, eine Schule zu besuchen. Meine zusammenfassende Sicht der seit 43 Jahren stattfindenden Ereignisse von Međugorje: Nicht durch vatikanische Diplomatie oder durch Lobbygruppen kam das Nihil obstat zustande, sondern durch die überzeugenden spirituellen und sozialen Auswirkungen. Die von den Sehern gegebenen Impulse, die sie nach ihren Angaben von Maria persönlich bekommen, rufen auf, für den Weltfrieden besonders zu beten, die persönliche Umkehr zu fördern und sich durch die Sakramente der Kirche stärken zu lassen. Msgr. Norbert Burmettler em. Dompfarrer von St. Pölten wohnhaft in 3293 Lunz/See pastoral tätig im Pfarrverband „Ötscherland“ Neues Mega Brieflos in vier Farben und mit 500.000 Euro als Hauptgewinn Der Papagei zieht in den „Mega Brieflos Zoo“ Die bisher bereits bunte Mega Brieflos Serie erhält Verstärkung und erhebt sich jetzt auch farbenfroh in die Luft. Was mit „Frosch“, „Leopard“, „Zebra“ „Panther“, „Tiger“ und „Panda“ begonnen hat, findet nun seine Fortsetzung: Das „tierische“ Mega Brieflos wird um das Sujet „Papagei“ erweitert. Der Papagei ziert nun die Vorderseite des neuen Mega Briefloses, bei dem der Hauptgewinn – wie auch bei allen bisherigen Mega Brieflosen – wiederum 500.000 Euro beträgt. Daneben gibt es zahlreiche weitere Gewinne von 3 bis 1.000 Euro, und das alles bei einem Lospreis von 3 Euro. Die Losserie besteht aus 2,5 Millionen Losen, und es gibt vier unterschiedliche Farbvarianten: lila, blau, gelb und grün. Zudem bietet auch das „Papagei“-Los mit dem „Bonusrad“ eine zweite Gewinnmöglichkeit, bei der man in jeder Annahmestelle die Chance auf einen Sofortgewinn von bis zu 100 Euro hat. Das Mega Brieflos „Papagei“ mit 500.000 Euro Hauptgewinn gibt es in allen Annahmestellen. Foto: © Österreichische Lotterien Geld, das dem Leben dient „Eine Geldanlage bei Oikocredit schafft Jobs, vor allem für Frauen. Oikocredit fördert auch erneuerbare Energie. Das Geld tut Gutes. Das finden wir fair!” www.oikocredit.at 01 / 505 48 55 Harald Krassnitzer & Adele Neuhauser unterstützen Oikocredit Hinweis: Werbeanzeige von Oikocredit, EDCS U.A., Verkaufsprospekt samt allfälligen Nachträgen abrufbar unter www.oikocredit.at
DIE FURCHE · 40 3. Oktober 2024 Kunst 17 Von Isabella Marboe Weltweit waren im Mai 2023 etwa 120 Millionen Menschen auf der Flucht. Inzwischen sind es sicher noch mehr, der Nahe Osten steht in Flammen. „Foreigners everywhere!“, gab Adriano Pedrosa, der erste bekennend queere Biennale-Kurator, als Motto der heurigen Kunstbiennale aus. Dieses Thema ist so brandaktuell wie allgemeingültig. Es beginnt beim Fremden in sich selbst und umspannt alles zwischen Tourismus und Trauma. Die Biennale konzentriert sich auf den Globalen Süden, auf unterschiedliche sexuelle Ausrichtungen, Fluchterfahrung und Migration. Die explosive Kraft, die all dies für die Politik der wohlhabenden Welt hat, thematisiert sie nicht. Wer dazu Distanz sucht, ist in Venedig richtig. „Wir waren völlig verloren in dieser Welt, dann trafen wir Anna“, sagt die ukrainische Balletttänzerin Oksana Serheieva. Die Künstlerin Anna Jermolaewa, die heuer den österreichischen Pavillon bespielt, war 1989 selbst aus der Sowjetunion geflohen. Nun hilft sie Menschen aus der Ukraine, wo sie kann. Ihr Beitrag ist ästhetisch, empathisch und auf eine sehr elegante Weise politisch. Er reflektiert die eigene Fluchterfahrung, gemeinsam mit Serheieva entwickelte sie die Videoinstallation „Rehearsal for Swan Lake“. Die Musik Tschaikowskys füllt den Raum. Wann immer es einen Regimewechsel in den ehemaligen Sowjetrepubliken gab, wurde tagelang in Dauerschleife „Schwanensee“ gespielt. Serheieva probt im Video, bis ihre Schuhe blutig werden. Bis zum Ende der Biennale wird sie an sechs Tagen im Monat je dreimal live tanzen. Auch die Arbeit „Ribs“ erzählt eine Geschichte aus der ehemaligen Sowjetunion. Verbotene Musik aus dem Westen wurde auf ausgemusterte Röntgenbilder gepresst. Täglich werden ein paar davon auf einem Plattenspieler vorgespielt. Über den Tellerrand Kurator Adriano Pedrosa nimmt unter anderem Minderheiten und Marginalisierte in den Blick und lässt von den Folgen des Kolonialismus erzählen. Die noch bis 24. November laufende Kunstbiennale 2024 widmet sich dem brandaktuellen Thema „Foreigners everywhere!“. Ihren politisch korrekten Ansatz wälzt immer wieder die Realität nieder. Der israelische Pavillon bleibt geschlossen. Der österreichische zeigt, wie schön Frieden sein könnte. Bühne für das Fremde Ästhetisch und politisch Jermolaewa ist 1975 in St. Petersburg geboren, ihr politisches Engagement für die Oppositionspartei Demokratische Union rief den KGB auf den Plan, vor 35 Jahren floh sie nach Österreich. Ihre ersten Nächte verbrachte sie auf einer Bank im Wiener Westbahnhof, bevor sie nach Traiskirchen kam. Das war damals eines der größten Flüchtlingslager Europas, wo vierzig Männer, Frauen und Kinder sich einen Raum teilten und Toiletten keine Türen hatten. Im Hof von Hoffmanns Pavillons stehen nun sechs originale Telefonzellen aus Traiskirchen, in deren Wände viele Telefonnummern und Botschaften eingeritzt sind. Sie waren für die Flüchtlinge der Draht zu den Daheimgebliebenen und funktionieren immer noch. In ihrer Foto serie „Research for Sleeping Positions“ übernachtete Jermolaewa 2006 wieder auf einer Bank im Wiener Westbahnhof. Inzwischen hat sich deren Design verändert, heute machen Armlehnen die Bänke zu Sitzreihen, damit man sich nicht mehr darauflegen kann. Bei der Pressekonferenz erzählten beide Frauen ihre Geschichten, am Ende war es still. Keiner hatte eine Frage, alle waren berührt. Einzig ein italienischer Kollege stand auf und bedankte sich bei Jermolaewa. „Endlich bezieht jemand eine Position zu den aktuellen Kriegen und Krisen in der Welt. Es scheint, als dächte hier niemand darüber nach.“ Das stimmt nicht ganz, obwohl diesem Befund auch etwas abzugewinnen ist. Universelle Geschichten Die Videoinstallation „#Repeatafterme“ im polnischen Pavillon geht unter die Haut. Sie wurde vom ukrainischen Kollektiv Opern Groupie – derzeit Yuriy Biley, Pavlo Kovach und Anton Varga – konzipiert. „Es wäre schwierig für uns, Kunst zu machen, die nicht engagiert ist, nicht zu Kritik einlädt und nicht reflektiert, was um uns herum vorgeht“, sagt Biley. „#Repeatafterme“ zeigt Menschen aus der Ukraine, die unterschiedliche Waffensysteme an ihrem Geräusch erkennen und imitieren können. Ein Wissen, das universell bei allen Kriegen dieser Welt über Leben und Tod entscheiden kann. Der israelische Pavillon bleibt geschlossen, bis es zu einem Waffenstillstand im Gazastreifen kommt. „Die Kunstbiennale 2024 wird das Fremde, das Entfernte, die Außenseiter, Queeren und Indigenen feiern“, so Pedrosa. Hier wird von Minderheiten, Marginalisierten und den Folgen des Kolonialismus erzählt, der Fokus liegt auf dem Globalen Süden, queere, homosexuelle und Trans-Personen sind stark vertreten. Insgesamt 331 Kunstschaffende aus 80 Ländern. Nie sah man den Hinweis „stellt zum ersten Mal aus“ nur annähernd so oft, viele Autodidakten sind vertreten. Einige Gemmen lassen sich finden, wie die Bordadoras de Isla Negra. Diese Frauen webten gemeinsam in den leuchtenden Farben Lateinamerikas einen riesigen Wandteppich, der Szenen aus dem Alltag in einem chilenischen Dorf an „ Bei der Pressekonferenz erzählten beide Frauen ihre Geschichten, am Ende war es still. Keiner hatte eine Frage, alle waren berührt. “ Foto: Getty Images / Simone Padovani der Küste zeigt. Fische, Kühe, Beete und angeblich Pablo Neruda bei der Schmetterlingsjagd. Die Rezensentin entdeckte ihn nicht. Die meisten ihrer Werke haben die Intensität dessen, der sich aus einem inneren Drang heraus künstlerisch ausdrücken muss. Sie sind einzigartig originell und erzählen universelle Geschichten. Österreich ist unter anderem mit der Grazerin Susanne Wenger alias Adunni Olorisa von Osogbo vertreten. Ihre große textile Arbeit sieht aus wie ein autochtones, afrikanisches Gewebe. Das stimmt auch: Wenger studierte an der Wiener Akademie der Bildenden Künste bei Herbert Boeckl, gründete 1947 den Wiener Art Club mit und ging 1950 mit ihrem Mann Ulli Bayer nach Nigeria. Dort wurde sie zur Yoruba-Priesterin, Hüterin des Heiligen Hains der Göttin Osun, gründete die Kunstschule „New Sacred Art“ und schuf gemeinsam mit heimischen Künstlern Skulpturen, die heute zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen. In einem großen Rundpanorama sind Videos zu unterschiedlichsten Aspekten von Flucht zu sehen. In „The Right of Passage 2013“ befasst sich der österreichische Dokumentarfilmer Oliver Ressler mit der unterschiedlichen Bewertung von Reisepässen. Welcher gewährt Zugehörigkeit zur Weltbürgerschaft? Im Schweizer Pavillon nimmt der Beitrag „Super Superior Civilizations“ des queeren schweiz-brasilianischen Künstlers Guerreiro do Divino Amor das perfekte nationale Selbstbild der Schweiz auf lustvoll sinnliche Weise mit viel Ironie, Humor und Technologie auf die Schaufel. Er schafft in einer riesigen Sphäre ein Quasi-Universum, in dem Edelweiß, das Matterhorn und andere populärkulturelle Klischees verfremdet durch die Galaxie rasen. Monument eines Unbekannten Ersan Mondtag kommt von Theater, Musik und Performance, seine Installation „Monument eines unbekannten Menschen“ im deutschen Pavillon ist theatralisch, und in dieser Unmittelbarkeit haut sie einen um. Am Beispiel der sehr konkreten Person seines Großvaters Hasan Aygün erzählt er ein Schicksal, das so oder so ähnlich einer ganzen Generation türkischer Gastarbeiter widerfahren ist. Er richtet die Aufmerksamkeit auf ein Stück Migrationsgeschichte, die in der kollektiven Erinnerung inexistent war. Die Begegnung mit Aygün beginnt mit der Erde unter dem Eingangsportikus, Synonym für die Heimaterde, und das, was von einem Menschen letztlich bleibt. Man muss ihn auf einer Rampe seitlich betreten, sich einen Weg durch den Pavillon bahnen. Wie die Reise von der Türkei nach Westberlin. Der Lehmturm in der Mitte ist eine Welt für sich. Am Eingang die vielen Urkunden, mit denen die Firma Eternit die Arbeit von Hasan Aygün auszeichnete. Dreißig Jahre produzierte er Platten, in denen Asbest enthalten war. Deren toxische Fasern brachten ihn um. Kurz nach seiner Pensionierung starb er an einer Lungenerkrankung. Das Innere des Turmes ist über und über mit pudrigem, grauem Staub bedeckt, von der Fabrik im Erdgeschoß arbeitet man sich Zimmer um Zimmer weiter durch die karge Migrantenwohnung, wo staubige Teller zum Trocknen auf der Spüle liegen. Alles wirkt, als wäre es eben verlassen worden. Gespoilert wird nicht. Die Zahl der Personen, die gleichzeitig in diesem Turm sein dürfen, ist beschränkt. Wie viele es auch sein mögen: Es lohnt sich. Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere Kunstbiennale Venedig Bis 24. November 2024 www.labiennale.org
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