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DIE FURCHE 03.10.2024

DIE

DIE FURCHE · 40 14 Diskurs 3. Oktober 2024 ERKLÄR MIR DEINE WELT Wir lassen uns die Äpfel nicht madig machen Den gesamten Briefwechsel zwischen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Hubert Gaisbauer ist Publizist. Er leitete die Abteilungen Gesellschaft- Jugend-Familie sowie Religion im ORF-Radio. Meist schicke ich schon vor dem Sonntag meine Antwort auf Ihre Briefe an die Redaktion. Diesmal allerdings erst am Montag, denn ich wollte die Ergebnisse der Nationalratswahl abwarten. In der Vermutung und leider auch Befürchtung, dass sie meine Stimmungslage beeinflussen werden. So ist es auch geschehen. Ich werde Sie damit verschonen, aber völlig ausblenden werde ich sie nicht können. Zumal Ihre Erörterung des Begriffes „Kompromiss“ – erwartungsgemäß – in der kurzen Rede des Bundespräsidenten zum Wahlausgang ein deutliches Gewicht bekommen hat. Ich neige ja nicht dazu, im Ergebnis „ Es gab einen ehelichen Disput, ob wir strategisch wählen sollen oder unserem Gewissen folgend. Da half uns ein Kompromiss. Wir teilten uns. “ eines Kompromisses Sieg oder Niederlage zu sehen. Bis Sonntagmittag, als wir zur Wahl gingen, hat es bei uns ja einen ehelichen Disput gegeben, ob wir nun strategisch wählen sollen oder unserem Gewissen folgend. Da wir uns nicht einigen konnten, half uns ein Kompromiss: Wir teilten uns – ich übernahm die Gewissensvariante und war damit zufrieden. Um 17 Uhr sind wir dann nicht eiligst zum Fernsehgerät gestolpert (dasselbe ist nämlich aus dem wohligen Wohnbereich verbannt), sondern haben unsere Partie Rommé in Ruhe fertiggespielt – die Welt wird derweil schon nicht untergegangen sein. Schließlich haben wir irgendwann das Ergebnis zur Kenntnis nehmen müssen: Unser Kompromiss hatte zwei Niederlagen nicht aufhalten können. Aber die Welt und unser Leben sollen nicht von Pessimismus bestimmt sein, schließlich habe Martin Luther gesagt, selbst wenn für morgen der Weltuntergang angesagt wäre, würde er heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen. Nun, für ein Apfelbäumchen ist es im Jahreslauf schon zu spät. Aber die rotbackigen Äpfel des Herbstes im Leben lassen wir uns von keinem Wurm madig machen. Und was die Kompromisse im Partnerschafts- oder Eheleben betrifft, will ich Ihnen noch eine kleine, mir überaus liebe Geschichte über ein gutes Rezept für Kompromisse erzählen, auch wenn Sie diese vielleicht schon einmal gehört oder gelesen haben. Ich erzähle sie einfach so gerne. Gibt es denn in der anbrechenden Zeit, der – jahreszeitlich – länger werdenden Dunkelheit, etwas Besseres, als einander gute Geschichten zu erzählen? Zum Beispiel jene, die der römische Dichter Ovid in seinen „Metamorphosen“ aufgeschrieben hat? Zwei alte Leute namens Philemon und Baucis hatten ein gutes Leben. Sie waren gastfreundlich, also haben sie einmal auch zwei Götter beherbergt, als diese – natürlich inkognito – auf der Erde Nachschau hielten, ob sich denn die Menschen auch menschlich verhielten. Ein gutes Leben hatte unser altes Paar, weil es offenbar seiner Zweisamkeit auch nach sechzig gemeinsamen Jahren nicht überdrüssig war. Sie lebten zwar in einer ärmlichen Hütte am Stadtrand, abseits der reichen Bürgerhäuser. Sie machten sich ihr Alter und ihr einfaches Leben aber leicht und erträglich „mit heiterem Gleichmut“. So schreibt der Dichter Ovid. Eine Frucht offenbar gelungenen Kompromisses. Oder umgekehrt. Ovid schreibt, tota domus duo sunt, idem parentque iubentque, also dass sie die Hauswirtschaft „selber zu zweit machen“, aber schön ausgewogen ist, „wer gehorcht und wer anschafft“. Schön ausgewogen: Auch das ist Kompromiss. Es gibt noch viele weitere Beispiele – und es wird sie auch in näherer Zukunft geben. Mit dieser Hoffnung grüße ich Sie herzlich. KOMMENTAR Versuchen wir, FPÖ-Wähler zu verstehen Wahlsonntag, kurz nach 17 Uhr im Medienzentrum im Parlament. Nachdem in der Säulenhalle auf mehreren Bildschirmen gleichzeitig die blauen Balken in die Höhe geschossen sind, kommentieren die ersten Journalistinnen und Journalisten die Lage. Wie das sein könne, was das über das Land aussage, wieso so viele eine Protestpartei wählten. Schwenkt der Blick raus aus der parlamentarischen Journalistenblase, hinaus aufs Land, offenbaren sich ein paar Antworten: Draußen auf dem Land fehlen die Ärzte, in Wien bekämpften sich im Sommer migrantische Banden, der Konflikt wurde von „Ältesten“ der tschetschenischen und der syrischen Seite beigelegt, das staatliche Gewaltmonopol hatte höchstens das Monopol „ Wer abgehängte Bürger abholen will, soll Taxifahrer werden. Wer es doch wagen will, Interessen zu vertreten, der könnte es ja mit Politik versuchen. “ auf die erste Reihe im Publikum. Im ganzen Land steht das Pflegesystem vor dem Kollaps, Lehrerinnen, Lehrer und Fachkräfte fehlen. In Covid-Zeiten hat die Regierung Milliarden ohne großen Nutzen verschenkt – und damit vor allem die Inflation angeheizt. Österreich steht wirtschaftlich schlechter da als die meisten Nachbarländer. Und da hat man allen Ernstes so gar kein Verständnis für Protest und Unzufriedenheit – manifestiert in einer FPÖ-Stimme? Kickls hetzerische Rhetorik und seine illiberalen bis autoritären Drohungen gegen Medien seien hier mit keinem Wort geleugnet oder gerechtfertigt. Ein Blick auf die Motive der Blauwähler lohnt sich trotzdem. Nur zwei Prozent wählten die FPÖ wegen des Spitzenkandidaten, 45 dafür wegen inhaltlicher Standpunkte. Gesteht man Wählerinnen und Wählern im Allgemeinen und denen der FPÖ im Speziellen ein Mindestmaß an Mündigkeit zu, sollte man sich deren vorrangige Wahlkampfthemen ansehen. Bei den FPÖ-Wählern waren das Zuwanderung (67 Prozent), Teuerung (61) und Kriminalität/Terrorismus (52). Es kann freilich bezweifelt werden, dass die FPÖ hier überall echte Lösungen bietet. Auf die Teuerung hätte sie in einer Regierung wohl kaum weniger populistisch reagiert als ÖVP und Grüne, dem Terrorismusschutz hat Herbert Kickl als Innenminister mit seiner BVT-Razzia nachhaltig geschadet, und bei der Zuwanderung zeigt die FPÖ kaum Interesse daran, dass sich die Leute integrieren (können), die sich faktisch im Land befinden. Die blaue Kritik an Ausmaß und Tempo des Zuzugs im letzten Jahrzehnt ist freilich authentisch. Und eine legitime politische Position. Legitime Interessen Aber sind wir nicht moralisch verpflichtet, Geflüchtete aufzunehmen? Die Frage deutet auf den springenden Punkt, den so manche Politiker und Politikkommentatoren nicht einsehen (wollen): Politik und Demokratie sind wesentlich Verhandlung von Machtund Gerechtigkeitsfragen. Es geht um Interessen und Vorstellungen dessen, wie die „gemeinsame Sache“, der Staat, aussehen soll. Es ist in jeder Verhandlung notwendig und legitim, seine eigenen Interessen zu bekunden und zu verteidigen. Egal, ob sie egoistisch, moralisch oder religiös (vgl. Seite 9) begründet sind. Genau das macht den liberalen Staat aus: dass er keine Gesinnung vorschreibt, dass also alle möglichen Begründungen für den eigenen Standpunkt toleriert werden, auch wenn natürlich nicht jedes Verhalten toleriert werden muss. Der Staat hat lediglich die Legalität, nicht die Moralität zu kontrollieren, differenzierte Immanuel Kant. Obwohl Eigeninteressen legitim sind, argumentiert aber heute kaum noch jemand ganz simpel: „Ich will dieses oder jenes.“ Stattdessen nehmen moralische Argumente überhand. Auch das ist legitim. Doch auch hinter ihnen stecken oft genug Interessen und Machtansprüche. Diese Erkenntnis erlaubt einen kritischen Blick auf den manchmal pädagogisch anmutenden Charakter von Politik und ja, auch Journalismus. „Wir müssen unsere Politik nur besser erklären“, heißt es da etwa. Oder: Die Wähler müssten nur „besser abgeholt“ werden. Im selben Satz mit dem Eingeständnis der Wahlniederlage wird verkündet, man müsse die „Ängste der Bürger ernst nehmen“. Wer abgehängte Bürger abholen will, soll Taxifahrer werden; wer Ängste heilen will, Psychotherapeut. Wer es vielleicht doch wagen will, Interessen und Meinungen zu vertreten, der könnte es ja mit Politik versuchen. Wer Politik oder gar Journalismus mit reiner Moral verwechselt, unterliegt einem anmaßenden Irrtum. Er ist der fruchtbare Nährboden für Aufhetzer wie Kickl. Die amerikanische Journalistin und Autorin Joan Didion, im Dezember würde sie 90 werden, formulierte bereits 1965 in einem Essay mit dem Titel „On Morality“ prophetisch: „Wenn wir nicht mehr sagen, dass wir etwas wollen oder brauchen, sondern, dass es ein moralischer Imperativ ist, dass wir es bekommen, dann kommen wir in große Schwierigkeiten. Und ich nehme an, wir sind schon dort.“ Knapp 60 Jahre später dürften wir auch in Österreich erkennen, dass wir längst schon dort sind. (Philipp Axmann) Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin Digital: Ana Wetherall-Grujić MA Redaktion: Philipp Axmann BA, MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (CvD), Magdalena Schwarz MA MSc, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Mag. Till Schönwälder, Dr. Martin Tauss Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Aboservice: +43 1 512 52 61-52 aboservice@furche.at Jahresabo (inkl. Digital): € 298,– Digitalabo: € 180,–; Uniabo (inkl. Digital): € 120,– Bezugsabmeldung nur schriftlich zum Ende der Mindestbezugsdauer bzw. des vereinbarten Zeitraums mit vierwöchiger Kündigungsfrist. Anzeigen: Georg Klausinger +43 664 88140777; georg.klausinger@furche.at Druck: DRUCK STYRIA GmbH & Co KG, 8042 Graz Offenlegung gem. § 25 Mediengesetz: www.furche.at/offenlegung Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, sind vorbehalten. Art Copyright ©Bildrecht, Wien. Dem Ehrenkodex der österreichischen Presse verpflichtet. Bitte sammeln Sie Altpapier für das Recycling. Produziert nach den Richtlinien des Österreichischen Umweltzeichens, Druck Styria, UW-NR. 1417

DIE FURCHE · 40 3. Oktober 2024 Diskurs 15 Die Nationalratswahl machte vieles deutlich. Darunter auch, dass früher nationalistische Positionen heute zur politischen Mitte geworden sind. Das könnte uns die Demokratie kosten. Ein Gastkommentar. Rechte Narrative: Die neue Normalität Viele Fragen wurden in den Tagen nach der Wahl heiß diskutiert: Wie lässt sich der Unterschied im Wahlverhalten zwischen Stadt und Land erklären? Warum konnte die SPÖ nicht stärker vom sinkenden Vertrauen in die Regierung profitieren – oder die Grünen vom spürbaren Klimawandel? Welche Rolle spielte die Teuerung? Eine andere Entwicklung bekam dabei nur sehr wenig Aufmerksamkeit: die Normalisierung rechter Narrative. Positionen, die noch vor wenigen Jahren als nationalistisch galten, sind heute zur politischen Mitte geworden. Auch in der ehemals europafreundlichen ÖVP ist es etwa „normal“ geworden, europäische Politikgestaltung gegen die vermeintlichen Segnungen nationaler Souveränität auszuspielen. Begriffe wie „Integrationsunwilligkeit“, die lange Zeit als FPÖ-Kampfbegriffe galten, sind – wie die Sprachsoziologin Ruth Wodak kürzlich in einer Studie zeigte – in den politischen Diskurs der Mitte eingegangen. Die Annahme, dass Migration die Ursache nahezu aller gesellschaftlichen Probleme sei, wird von vielen öffentlichen Medien und politischen Akteuren unhinterfragt akzeptiert. Zugleich werden linke Inhalte als radikal bezeichnet: So wurde der Ruf Andreas Bablers nach Erbschafts- und Vermögenssteuern für die Reichsten von einer weiten Bandbreite von Kommentatorinnen und Kommentatoren, auch aus dem progressiven Lager, als extrem bezeichnet. Mit dieser Forderung habe die SPÖ potenzielle Wählerinnen und Wähler „verschreckt“, hieß es. Liberale oder „Wahldemokratie“? Diese Verschiebungen in der öffentlichen Debatte sind nicht nur unangenehm für jene, die progressive politische Positionen bevorzugen. Sie betreffen die Fundamente unserer Demokratie. Wissenschafter verwenden unterschiedliche Kriterien, um Demokratien zu klassifizieren. Die Unterscheidung zwischen liberaler und elektoraler Demokratie („Wahldemokratie“) spielt dabei eine wichtige Rolle. Letztere ist ein politisches System, in dem zwar regelmäßig Wahlen abgehalten werden, dem aber andere Kennzeichen liberaler Demokratien fehlen – wie effektive Kontrolle der Macht Foto: Johanna Schwaiger DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Barbara Prainsack „ Die Annahme, dass Migration die Ursache nahezu aller Probleme sei, wird von vielen unhinterfragt akzeptiert. “ durch freie Presse oder zivilgesellschaft liche Organisationen. Österreich wurde im Jahr 2022 im internationalen Demokratie-Ranking von einer liberalen Demokratie zu einer Wahldemokratie herabgestuft – auch weil zahlreiche Kontrollmechanismen während der Regierung Kurz I abgebaut worden waren. Die nächste Stufe nach der Wahldemokratie wäre dann schon die elektorale Autokratie, also ein System, das freie Wahlen abhält und sich damit den Anschein gibt, den „Willen des Volkes“ umzusetzen – auch wenn nur eine einzige Partei – oder sogar eine einzige Person – bestimmt, was dieser Wille ist. In solchen Ländern gibt es zwar noch formal unabhängige Medien, die allerdings wirtschaftlich und politisch von der regierenden Partei und ihren Geldgebern abhängig sind. Die Wissenschaft wird so weit weggespart, dass sich nur noch jene halten können, die der regierenden Partei nicht unbequem sind. Alle, die eine andere Meinung äußern, werden als „nicht normal“, als Schmarotzer oder ironischerweise als antidemokratisch verunglimpft. Dieser Mechanismus wurde am Tag der Wahl auch in Österreich wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt, als Herbert Kickl insinuierte, jene Parteien, die nicht mit ihm koalieren wollten, seien undemokratisch. Dass selbst der Bundespräsident das verfassungsmäßig verbriefte Recht hat, jemand anderen als den Vorsitzenden der stimmenstärksten Partei mit der Regierungsbildung zu beauftragen, ist allerdings keineswegs undemokratisch. Ein wichtiger Teil liberaler Demokratien ist die Verteidigung grundlegender Rechte und Werte – wie Gleichheit, Freiheit, Solidarität und der Schutz von Minderheiten. Es gibt Situationen, in denen diese Rechte und Werte, die das Fundament liberaler Demokratien bilden, es erfordern, nicht das Programm oder die Partei, die die meisten Stimmen hat, ungefiltert über alle anderen drüberrollen zu lassen. Als es um die Rechte ungeimpfter Menschen ging, hat Kickl genau an diesen Schutz der Grundrechte appelliert. Wenn es aber um jene Werte geht, die unsere Demokratie vor einem autoritären Umbau schützen sollen, ist die Verfassung schnell vergessen. Folgen der Pandemie Womit wir beim leidigen Thema Corona sind. In Zahlen gemessen war es nur eine kleine Minderheit, die angab, dass die Coronamaßnahmen für sie wahlentscheidend gewesen waren. Selbst unter den freiheitlichen Wählerinnen und Wählern war dies nur bei jedem Sechsten der Fall. Trotzdem sollte nicht unterschätzt werden, welche Dynamik die Coronakrise in Gang gesetzt hat. Wie eine unserer Studien an der Universität Wien zeigte, führte die Pandemie zu einem Vertrauens vakuum gegenüber den Regierenden – nicht nur unter impf- und maßnahmenskeptischen Personen. Viele fühlten sich mit ihren Pro blemen alleingelassen. Dass diese Sorgen durch die nachfolgenden Entwicklungen – wie die hohe Inflation – noch akuter wurden und dass nach der Meinung vieler von der Regierung nicht adäquat darauf reagiert wurde, hat zum Wahlausgang wesentlich beigetragen. Die Normalisierung rechter Narrative wird aber dieses Problem nicht lösen. Dafür könnte sie uns die Demokratie kosten. Der Autorin ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Wien und war ebendort auch (Co-)Leiterin mehrerer Studien zur Coronapandemie. ZUGESPITZT Neue Schritte waagen Das rote Licht an der ORF-Kamera beginnt bereits zu blinken. Moderatorin Sasa Schwarzjirg zieht noch schnell einen Fingernagel voll Globuli in die Nase. „Willkommen zur zweiten Folge ‚Blick in die Sterne‘! Sie erinnern sich, das Astro-Format, das wir, einen Tag bevor eine ORFhassende, wissenschaftskritische Partei gewählt wurde, gestartet haben?“ Aus dem Off hört man Generaldirektor Weißmann kichern. „Tja, wie es die Sterne wollen, haben wir wieder passend zum Tierkreis eine Waage im Studio. Es ist die einzige ORF-Sendung, der er zugesagt hat; willkommen, Herbert Kickl!“ Astro- Influencerin Lori Haberkorn quiekt leise und fasst sich an ihr vollmondgeladenes Amethyst-Amulett. Dieses Treffen manifestiert sie schon seit Jahren. „Grüß Gott, die Damen! Der unfehlbare Gerechtigkeitssinn der Waage lenkt meinen pflichtbewussten Schritt auf den Küniglberg“, sagt Kickl bescheiden. „Ja, und außerdem sind Waagen unfassbar liebevoll, irrsinnig selbstaufopfernd und haben ex trem unglaublich guten Geschmack!“, wiederholt Haberkorn ihre Analyse von voriger Woche. Kickl läuft rosa an. „Und in der Partnerschaft?“, fragt er leise. Haberkorn nimmt seine Hand. „Waagen bleiben am besten unter sich. Willkommen im Studio, Herr Nehammer!“ Isabel Frahndl PORTRÄTIERT Siegreicher Parzival, kein Peanuts-Präsident! Erdnussfarmer! Sein familiärer und beruflicher Hintergrund ging bei Jimmy Carter immer mit einem bestenfalls augenzwinkernden, meist aber abfälligen Unterton einher. Dass Carter auch Nuklearingenieur war, durchaus ein Vorteil für einen US-Präsidenten im Kalten Krieg, blieb immer unerwähnt. Lieber wurde er als Peanuts-Präsident kleingeredet, als Leichtgewicht zwischen klingenden Namen wie Richard Nixon und John F. Kennedy vor oder Ronald Reagan nach ihm. So wird seine Amtszeit von 1977 bis 1981 auch grosso modo als die eines politischen Kleingeldwechslers und bigotten Groscherlklaubers bilanziert. Einer, der weder die Inflation im eigenen Land noch das Geiseldrama in der US-Botschaft im Iran noch den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan stoppen konnte. „Pechvogel“ im Weißen Haus nannte man ihn, Donald Duck im Oval Office, jovial, aber patschert und ohne politische Durchsetzungskraft – national wie international. Als sich der Südstaatenaußenseiter Carter im Frühjahr 1976 gegen den Widerstand des Demokraten-­ Establishments und der Gewerkschaften bei den Vorwahlen als Präsidentschaftskandidat durchsetzte, schrieb die FURCHE: „Sie lächeln süffisant über den ‚Parsifal ohne Dschungelerfahrung‘, mit nichts bewaffnet als mit seinem unbeugsamen Optimismus.“ Diesen hat sich Carter bis zu seinem 100. Geburtstag am 1. Oktober bewahrt. Sein letztes politisches Ziel ist es noch, seine Stimme für die demokratische Kandidatin Kamala Harris abzugeben; dieser Tage sollten die Briefwahlunterlagen in Carters Postkasten in Georgia eintrudeln. Dann kann er sich noch einmal als der „beste Ex-Präsident“ beweisen. Doch auch seine Präsidentschaft wird heute anders, besser bewertet. Ohne Carters Finanz- und Wirtschaftspolitik wären „Reaganomics“ und das In-Grund-und-Boden-Rüsten der Sowjetunion nicht finanzierbar gewesen. Und die „Schmach von Teheran“ trifft heute laut Zeitzeugengeständnissen andere: Im Sommer 1980 ließ das Wahlkampfteam der Republikaner den Iran wissen: „Lassen Sie die Geiseln nicht vor den Wahlen frei. Reagan wird gewinnen und Ihnen ein besseres Angebot machen.“ Der Deal wurde geschlossen, wenige Minuten nach Reagans Amtsantritt im Jänner 1980 kamen die US-Geiseln frei. Carter blieb dafür frei, auf seiner Lebensbühne weiter den Parzival zu geben. 2002 bekam er den Friedensnobelpreis dafür und zu seinem 100er in den USA und weltweit Applaus. (Wolfgang Machreich) Foto: APA / AFP / LBJ Library Sie finden Rudolf Strassers Porträt „Wer ist dieser Jimmy Carter?“ vom 20. Mai 1976 auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code: Mit 100 Jahren ist Jimmy Carter der älteste aller 45 US-Präsidenten geworden. Das biblische Alter passt zum zeitlebens tiefgläubigen Baptisten.

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