DIE FURCHE · 40 12 Religion 3. Oktober 2024 Lesen Sie „Pius IX.: ‚Die Tradition bin ich‘“ über die Seeligsprechung des umstrittenen Pontifex (31.8.2000) auf furche.at. Von Otto Friedrich Kriminalfall Im Auftrag von Papst Pius IX. (Paolo Pierobon) wird der junge Edgardo Mortara (Enea Sala) im Alter von sieben Jahren aus seiner Familie entführt. Es war Mitte des 19. Jahrhunderts ein weltweiter Skandal: Der Fall Mortara gilt als übles Beispiel des katholischen Antisemitismus und wurde von (antiklerikalen) nationalen Bewegungen, nicht zuletzt beim italienischen Risorgimento, gegen den Papst und seine Herrschaft ins Treffen geführt. Auch Vertreter des Judentums protestierten und konnten publizistisch gegen die staatlich-kirchliche Entführung mobil machen. 1858 nahmen Soldaten im damals noch zum Kirchenstaat gehörenden Bologna einen Sohn der jüdischen Kaufmannsfamilie Mortara in Gewahrsam: Der siebenjährige Edgardo war nach Aussage seiner Amme heimlich getauft worden. Und ein christliches Kind, so das päpstliche Gesetz, dürfe nicht in einer jüdischen Familie aufwachsen. Die GLAUBENSFRAGE Tote und Tage zählen D emnächst jährt sich der 7. Oktober, ein neuer Trauertag unter den Trauertagen im jüdischen Kalender. Aber schon scheint es, als sei dieser Tag heimlich verjährt. Verdrängt, weil überschattet von einer anderen menschlichen Katastrophe. Man zählt die Tage, die Toten und spricht: Was ist dieser Trauertag schon gegen all das Leid, das ihm folgte? Was sind diese Ermordeten, Gemarterten, Entführten schon gegen die abertausenden toten Kinder in der Hölle von Gaza? Wo bleiben Maß und Gerechtigkeit? Als der jüdische Philosoph Vladimir Jankélévitch vor langer Zeit vom „Unverjährbaren“ sprach, da waren die Wunden der Schoa noch offen, die Schuld noch schweigsam, die Täter noch unter uns. Und schon hieß es, diese Taten seien verjährt, gesühnt durch die zerbombten Städte des einst tausendjährigen Reiches, wiedergutgemacht durch die Toten begraben unter Bergen von Schutt, durch den Hunger der unschuldigen Mütter und Kinder. Dagegen richtete sich der Philosoph: Die Tragik von Dresden Die Verschleppung des jüdischen Knaben Edgardo Mortara durch Schergen von Papst Pius IX. war Mitte des 19. Jahrhunderts ein großer Skandal. Marco Bellocchio hat ihn in „Die Bologna-Entführung“ verfilmt. In den Fängen des sterbenden Kirchenstaates Mortaras versuchten alles, um zu verhindern, dass Edgardo nach Rom in ein „Katechumenenhaus“ gebracht wurde – ohne Erfolg: Papst Pius IX. war im Kampf gegen das Risorgimento überzeugt, seine dogmatisch-starre Haltung nicht aufgeben zu können. Zwei Jahre später war der Kirchenstaat in Bologna Geschichte, und Dominikanerpater Feletti, der die Entführung veranlasst sei nicht dieselbe wie die Tragik von Auschwitz, die Opfer eines Krieges nicht dieselben wie die Opfer eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Dort Wiederaufbau, hier unverjährbare Wunde. Geschichte sträubt sich gegen Vergleiche. Umso wichtiger ist es, die Unterschiede auszusprechen. Es ist nicht genug, Tote und Tage zu zählen. Zahlen allein und Trümmerfelder sagen noch nichts über das Weltbild, das sie verschuldet hat. Was für eine Welt, welche Zukunft wird aus einem Krieg gewollt? Was für eine Welt erträumten die Schlächter vom 7. Oktober? Sie schulden uns Antwort. Und dennoch müssen wir, in diesem schamlosen Schweigen, im unsagbaren Leiden, den Menschen wiederfinden und lernen, gemeinsam, füreinander zu trauern. „Denn diese Agonie“, schrieb Jankélévitch, „wird dauern bis ans Ende aller Tage.“ Der Autor ist Professor für moderne jüdische Philosophie an der University of Virginia, USA. Von Asher D. Biemann hatte, wurde der Prozess gemacht, bei dem er allerdings freigesprochen wurde. Papst Pius IX. nahm sich in Rom, wo sich der Kirchenstaat halten konnte noch bis 1870, Edgardo Mortaras persön- „ Der Bub war heimlich christlich getauft worden. Und ein christliches Kind, so das päpstliche Gesetz, durfte nicht in einer jüdischen Familie aufwachsen. “ DIE FURCHE EMPFIEHLT Wie gut zusammenleben? Häufig wird die Polarisierung unserer Gesellschaft beklagt. Wie aber finden wir den Weg in ein Miteinander? Und was braucht es für ein gelungenes Zusammenleben? Diesen Fragen geht die Ordensfrau und Psychotherapeutin Sr. Teresa Hieslmayr im Buch „Wege zum Miteinander“ nach. Am 24. Oktober spricht sie darüber mit FURCHE-Chefredakteurin Doris Helmberger. lich an. Der Knabe wurde katholisch erzogen, er trat 1865 den Augustiner Chorherren bei, wurde Priester und starb 1940 in einem Kloster in Belgien. Der italienische Regisseur Marco Bellocchio, hierzulande für sein Mafia-Epos „Il Traditore“ (2020) bekannt, hat sich in „Die Bologna-Entführung“ filmisch mit dem Fall Mortara auseinandergesetzt – und sich dabei fürs Genre Historiendrama entschieden: Ausgehend vom Leben der jüdischen Familie Mortara in Bologna zeichnet er deren Leidensweg nach, bei dem das Kind Edgardo (Enea Sala) nach seiner Entführung zum jungen Priester Edgardo (Leonardo Maltese) wird. Küchenpsychologische Deutung Man erfährt im Film einiges über den Kolorit jüdischen Lebens, vor allem Fausto Russo Alesi in der Rolle des Salomone Mortara, Edgardos Vater, ist die eindrücklichste schauspielerische Leistung des Films. Allerdings nimmt die Darstellung der Juden erkennbar physiognomische Anleihen an den Ikonografien, wie sie in antisemitischen Karikaturen immer noch in den Köpfen spuken. Das Leid der Juden mit derartigen Anklängen zu illustrieren, bleibt problematisch. Ja, man erfährt in „Die Bologna-Entführung“ den Lauf der Geschichte in Bezug auf Edgardo Mortara. Wer sich aber Einblicke in die antijüdische Verfasstheit der katholischen Kirche erhofft hat oder über das damalige Leben der Juden, wird enttäuscht. Auch die Entwicklung des jüdischen Knaben zum katholischen Priester wird bloß referiert und keineswegs reflektiert. Der von mancher Kritik geäußerte Hinweis, hier handle es sich um eine Art Stockholm-Syndrom, dass also das Opfer sich mit seinen Entführern gemein macht, ist eine küchenpsychologische Diagnose, zu der dieser Film aber nichts beisteuert. Auch das Verhalten Pius’ IX. (Paolo Pierobon) bleibt in „Die Bologna-Entführung“ rätselhaft und lässt dessen Motiven im Dunklen liegen. Die Bologna-Entführung – Geraubt im Namen des Papstes (Rapito) I/F/D 2023. Regie: Marco Bellocchio Mit Paolo Pierobon, Fausto Russo Alesi, Leonardo Maltese, Enea Sala Filmladen. 134 Min. Wege zum Miteinander Buchpräsentation Do, 24.10., 19 Uhr Buchhandlung Herder, Wollzeile 33, 1010 Wien. Anm.: buchhandlungherder@herder.at.
DIE FURCHE · 40 3. Oktober 2024 Gesellschaft 13 Botoxbehandlungen, Brust-OPs und Fettabsaugungen boomen auch in Österreich. Warum? Der von sozialen Medien befeuerte Selbstoptimierungstrend ist nur einer der Auslöser. Von Sandra Lobnig Gemeinerweise ist sie irgendwann auch dann zu sehen, wenn man längst nicht mehr wütend ist: die sogenannte Zornesfalte, die sich mit dem Älterwerden tief zwischen den Augenbrauen eingraben kann. Es soll helfen, den betroffenen Bereich zu massieren oder zu tapen, um die Falten etwas zu glätten. Oder aber man entscheidet sich für eine Behandlung mit Botox oder Hyaluronsäure – und das tun auch hierzulande immer mehr Menschen. Die Nachfrage nach minimaloder nichtinvasiven schönheitsmedizinischen Eingriffen hat in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. Auch operative Eingriffe wie Brustvergrößerungen oder Nasenkorrekturen stellen für viele eine realistische Option dar. Ästhetische Medizin ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, auch wenn man hierzulande weniger offen darüber spricht als in anderen Kulturkreisen. Wie viele Menschen sich in Österreich tatsächlich einem ästhetisch-medizinischen Eingriff unterziehen, lässt sich nicht genau sagen. „Wir befinden uns hier im privatwirtschaftlichen Sektor. Da werden keine zentralen Register geführt“, sagt Barbara Zink. Die Fachärztin für Plastische Chirurgie betreibt in Klagenfurt eine Ordination, die Patienten in fast jedem Lebensalter aufsuchen. Zink korrigiert abstehende Ohren bei Kindern, strafft nach einer massiven Gewichtsreduktion die Haut oder saugt Fett an Bauch oder Po ab. Foto: iStock/Nastasic Hässlich sein? Verboten! „ Nicht mehr nur das, was man anlegen kann – Kleider oder Schmuck –, macht schön. Der Körper selbst ist zum Kleid geworden. “ Ada Borkenhagen, Psychoanalytikerin Hässlich erlebtes Selbstbild Frauen sind in Zinks Ordination in der Mehrzahl, nur rund 30 Prozent ihrer Patienten sind männlich. Ein Verhältnis, das sich in Zukunft vermutlich ändern wird. „Männer werden immer mehr“, sagt Zink. „Sie lassen sich zum Beispiel die Oberlider machen oder möchten ein Faceoder Halslifting.“ Die Psychoanalytikerin Ada Borkenhagen, Professorin an der Universität Magdeburg, unterscheidet vier Gruppen an Menschen, die schönheitsmedizinische Maßnahmen in Anspruch nehmen. Da sind jene, die Alterserscheinungen verhindern, verlangsamen oder stoppen möchten. Borkenhagen nennt sie die „Anti-Aging-Gruppe“. Zweitens gibt es Menschen, die unter einem bestimmten körperlichen Makel leiden, wie an einem Höcker auf der Nase. Ist dieser beseitigt, sind sie mit ihrem Aussehen grundsätzlich wieder zufrieden. Drittens möchten Personen mit einer krankhaften Störung des Körperbildes ihr als hässlich erlebtes Selbstbild durch einen Eingriff korrigieren lassen. Schlussendlich gibt es noch die „Modellierer“. Dazu gehören vor allem junge Menschen, die mit sozialen Medien und ihren Filtern – also digitalen Bildeffekten, die die Lippen größer, die Nase kleiner oder die Haut straffer wirken lassen – aufwachsen. Sie möchten nicht nur ihr Bild im Internet, sondern auch ihren Körper nach ihrem Geschmack formen. Soziale Medien und die gesellschaftliche Tendenz zur Selbstoptimierung, die diese befeuern, sind laut Borkenhagen ein wesentlicher Treiber für schönheitsmedizinische Maßnahmen. Sie sind aber nicht der einzige. Eine veränderte Perspektive auf den eigenen Körper spiele ebenso eine Rolle: „Nicht mehr nur das, was man anlegen kann – Kleider oder Schmuck –, macht schön. Der Körper selbst ist zum Kleid geworden.“ Dass schönheitsmedizinische Maßnahmen heute risikoärmer und zum Teil reversibel seien, fördere außerdem ihre Popularität. Die Möglichkeiten, sich durch medizinische Eingriffe zu verschönern, sind relativ jung. Das Bedürfnis, den eigenen Körper zu gestalten, dürfte hingegen ein zutiefst menschliches und immer schon da gewesen sein. Heute weisen Studien nach: Als schön geltende Menschen bekommen bessere Jobs, verdienen mehr, haben es leichter bei der Partnerwahl. Was als schön gilt, orientiert sich dabei an bestimmten Normen und Standards. Diese können dazu führen, dass Menschen sich, bewusst oder unbewusst, unter Druck gesetzt fühlen. In diesen Kontext ordnet die Kulturwissenschafterin Elisabeth Lechner Phänomene wie Schönheitsoperationen ein. Sie sieht den Wunsch, sich durch einen Eingriff zu verschönern, ambivalent. Einerseits sei er Ausdruck einer gewissen „Demokratisierung von Schönheit“ – so nennt das die deutsche Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky. Jede und jeder kann heute den eigenen Körper so gestalten, wie er oder sie möchte, sei es durch Kleidung, Make-up, Tätowierungen oder eben Schönheitsoperationen, die in den letzten Jahren leichter zugänglich und günstiger geworden sind. Das sei identitätsstiftend und mache durchaus auch Freude. Andererseits: „Wir leben in einer von Lookismus geprägten Welt. Das bedeutet, Menschen werden aufgrund ihres Aussehens (engl. look) auf- oder abgewertet“, sagt Lechner. Vor allem Frauen, aber auch Menschen mit Behinderungen oder queere Personen, die nicht den herkömmlichen Normen entsprechen, sind einer permanenten Bewertung ihrer Körper ausgesetzt. Sich dieser zu entziehen und selbstbewusst zu sagen „Ich bin okay, so wie ich bin“, sei schwierig – zumindest auf individueller Ebene. Lesen Sie zum Thema Schönheitsdruck auch das Interview „Körper machen Leute“ mit Ada Borkenhagen (24.11.16) auf furche.at. Auch Männer Von den Oberlidern bis hin zum Face- oder Halslifting: Immer mehr Männer sind in den Praxen von Schönheitschirurginnen und -chirurgen zu finden. Zwar sind sie noch in der Minderheit, doch das könnte sich zukünftig ändern. „ Wir leben in einer von Lookismus geprägten Welt. Das bedeutet, Menschen werden aufgrund ihres Aussehens (engl. ‚look‘) auf- oder abgewertet. “ Elisabeth Lechner, Kulturwissenschafterin Ansichten über vermeintliche Schönheitsmakel und der Wunsch, diese zu entfernen, entstünden, so Lechner, nicht zufällig, sondern würden von Unternehmen und einer vom Markt bestimmten Logik mitdefiniert. Firmen gäben dabei nicht nur den Makel, sondern gleich auch die Lösung vor: Für die immer schlaffer werdende Haut gibt es die zwölfteilige Gesichtspflegeroutine – oder, wenn alles nichts mehr hilft, die Botoxspritze oder ein Facelifting. Es sei nachvollziehbar, dass Menschen sich wünschten, zur Norm zu gehören und durch einen vermeintlichen Makel nicht aufzufallen. Ihnen zu sagen, sie müssten sich einfach so lieben und akzeptieren, wie sie seien, sei zynisch. „Ich würde nie jemanden beschämen, der unter Schönheitsdruck zu leiden hat und sich für eine Schönheitsoperation entscheidet. Mir geht es darum, zu zeigen, dass eine solche Entscheidung nicht im luftleeren Raum passiert“, erklärt Lechner. Schönheitsdruck genauso wie die Logik des Marktes und gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen hätten ihren Einfluss auf diese, sagt die Kulturwissenschafterin. Statt Beschämung Einzelner brauche es kollektive Lösungen. „ Man kann den Körper nicht endlos so formen, wie man das möchte. Er ist eine lebendige Masse, die sich verändert, vielleicht auch so, wie man das nicht unbedingt möchte. “ Barbara Zink, Ärztin Wer sich einem schönheitsmedizinischen Eingriff unterziehen will, sollte sich mit den damit verbundenen Risiken und Folgen auseinandersetzen. Implantate zum Beispiel müssen in der Regel irgendwann wieder entfernt oder ausgetauscht werden. Es gibt sowohl bei der Qualität der Produkte als auch der Behandlungskompetenz erhebliche Unterschiede. Ausführliche Aufklärungsgespräche mit dem behandelnden Arzt senken das Risiko für unangenehme Überraschungen. Zudem – das betonen Expertinnen wie Barbara Zink oder Ada Borkenhagen – setzt jeder Eingriff ein stabiles Selbstbild voraus. Tiefsitzende Minderwertigkeitskomplexe und eine grundlegende Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen seien dadurch nicht zu beseitigen. Auch Menschen, die meinen, ihren Körper nach ihren Vorstellungen immer wieder neu modellieren zu können, muss Barbara Zink enttäuschen: „Man kann den Körper nicht endlos so formen, wie man das möchte. Er ist eine lebendige Masse, die sich verändert, vielleicht auch so, wie man das nicht unbedingt möchte.“
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