Nein, es ist nicht die Hitze, welche die FURCHE veranlasst hat, ein vermeintlich hehres Thema, die Treue, unkonventionell aufzubrechen. Manuela Tomic wein eine Analyse der Femizide in Europa beistellt. Brigitte Schwens-Harrant ist das Protokoll der Gewalterfahrungen einer Frau, der Victoria Schwenden- nimmt den 50. Geburtstag von Monica Lewinksy zum Ausgangspunkt, um eröffnet das Feuilleton mit der Lektüre der Berichte der US-Journalistin Dorothy Thompson, die die Machtübernahme Hitlers in Berlin miterlebt hat. Un- nicht nur an den Skandal zu erinnern, der US-Präsident Bill Clinton vor 25 Jahren fast das Amt kostete. Sondern dieser Fokus stellt Gewissheiten in Frage – ter den Nachrufen, die in dieser FURCHE gehäuft zu verfassen waren, sticht bis zur lapidaren Feststellung der Theologin Theresia Heimerl, dass „Treue die Hommage an den franko-tschechischen Autor Milan Kundera von Anton als Teil einer Herrschaftsbeziehung“ hoffentlich „ausgedient“ hat. Besonderes Thuswaldner hervor. Auch die gegensätzlichen präsumtiven Hollywood-Blockbuster „Oppenheimer“ und „Barbie“ kommen zu Rezensionsehren. Und bietet in dieser Ausgabe auch Susanne Glass, die statt ihrer vorgesehenen Kolumne „Klartext“ mit einer Reportage aus der zwischen Säkularen und Religiö - Johan nes Greß zeigt, dass die Hitze auch unwirtlichen Zeitgenossen wie Tiger - sen polarisierten Gesellschaft Israels aufwartet. Mindestens so beklemmend mücken hierzulande das Leben leichter macht. Gefährliche Zeiten also. (ofri) Von Theresia Heimerl sorgte Anfang des 21. Jahrhunderts für politische und juristische Aufregung. Der Treuebegriff in treuer Diener seines Herrn, treu ergeben, dieser politischen Neigungsgruppe lässt sich auch als eine bedin- meine Ehre heißt Treue, ein treuer Hund … Die gungslose Gefolgschaft übersetzen, die über dem Gesetz steht. Treue in Redewendungen und Phrasen verschiedener Diese wird gerne auch sehr genuin im Deutschen als Nibelungen- lebensweltlicher Kontexte der deutschen Sprache ist keine romantische Angelegenheit. Treue auf das mittelalterliche Epos, in treue bezeichnet, in Anspielung ist ein Begriff aus der Welt klarer dem der Burgunderkönig Gunther und seine Brüder dem Mör- Herrschaftsverhältnisse. Treue ist eine Form von Verhalten eines der Hagen die Treue halten und Subjektes (in seiner wörtlichen Bedeutung als Untergebener) gegendeten Siegfried geforderte Aus- seine, von der Witwe des ermorüber seinem direkten Herrn: Der lieferung verweigern. Zumindest für das beschützte Mitglied Bauer oder Soldat gegenüber dem Grundherrn, dieser gegenüber einer solchen Gesinnungsgemeinschaft hat diese Treue zwei- dem Kriegs- und/oder Feudalherren, der gegenüber dem König und felsohne einen Wert, auch wenn dieser gegenüber Gott. Die Treue sie dem modernen Rechtsstaat jener Tage und Jahrhunderte changiert in ihrer Bedeutung zwischen zuwiderläuft. Gefolgschaft aus Geburt und Loyalität. Treue ist nur bedingt ei- Letzterer kennt die Treue in Beziehung auf Augenhöhe ne freiwillige Angelegenheit: Der verschiedenen Bereichen, und Leibeigene, aber auch der einfache Ritter können sich im Alltag likt, dessen Wert sehr konkret be- ihr Gegenteil, die Untreue, als De- kaum aussuchen, welchem Herrn zifferbar ist, auch dort, wo es um sie treu sein müssen. Sie können die Ehe geht. „Untreue ist in einem Scheidungsverfahren nicht diesem – bestenfalls in Konflikten mehrerer Herren – untreu werden und einem anderen die Treue dar in einem Rechtsblog des Stan- vorteilhaft“, heißt es dazu lapi- schwören. Das allerdings ist mit dard aus dem Jahr 2022. Die genaue Feststellung des Wertes der Risiken und Nebenwirkungen verbunden: Nicht nur kann der neue Untreue ist ein wertvolles Betätigungsfeld für Anwälte. Herr im Konflikt unterliegen und der alte seine untreuen Subjekte Und dann wäre da noch die im bestrafen, der Treuebruch kann puritanisch geprägten Kontext auch vom neuen Herrn als moralischer Makel mit praktischen Kon- ehelicher und politischer Treue, gern eingesetzte Vermischung von sequenzen angesehen werden – Stichwort Bill Clinton (siehe Seite 4). wer einmal untreu wird, tut es Der Wert der Treue bemisst sich wieder. Untreue beschädigt aber hier in Wählerstimmen. Im postkatholischen Europa gilt hingegen auch den Herrn, demgegenüber die Treue gebrochen wird, sie stellt noch immer François Mitterrands seinen Herrschaftsstatus in Frage Replik zum offenen Ehebruch, Monogamie sei nie Teil seines Regie- und das verletzt seine Ehre. rungsprogamms gewesen. Fides bedeutet auch Glaube Treue hat also einen oftmals bezifferbaren Wert, aber ist sie auch Treue ist ein vertikaler Wert, der nur eine Richtung hat: von unten nach oben. Die Redewendung oder Politischen? Treue als Teil ein Wert jenseits des Materiellen vom treuen Herrn gibt es nicht. einer Herrschaftsbeziehung hat Wohl aber ist die treue Frau bereits im Alten Testament ein Toschen, rechtsstaatlichen und vor hoffentlich in einer demokratipos und bleibt es bis in Social Media. Die Treue als Sich-Verhalten schaft ausgedient. In vielen Kon- allem gleichberechtigten Gesell- in ehelichen und erotischen Angelegenheiten ist über weite Stre- durch den Begriff der Loyalität texten lässt sich die Treue heute cken der Sprach-, Kultur- und über- und ersetzen. Im Zwischenmenschlichen könnte man es mit Sozialgeschichte nur eine besondere Form von hierarchischer Beziehung. Die Erfindung der ro- Die drei goldglänzösischen (fidelité) abgeleitet sind, zu leicht sinnbefreiten Stilblüdeutungsspielraum und mögli- einer Beziehung auf Augenhö- dem Vertrauen probieren, das mantischen Liebe im Mittelalter zenden Frauen, die eine zwischen zwei Bedeutungsfeldern oszillierende Bedeutung glänzenden Frauen, die viele Babe trägt zwar noch den vertikalen ne feudale Verpflichtung. Wo das ten führten konnte. Die drei goldche Wertigkeiten. Fides als Glauhe deutlich besser ansteht als ei- besteht zuerst einmal in der Umkehrung der Herrschaftsverzeln in Österreich auf: Fides bedeutet nicht nur die rockkanzeln in Österreich zieren, Aspekt (vom Menschen hinauf zu Vertrauen nämlich weg ist, bleibt viele Barockkanhältnisse: Nunmehr ist der minnesingende Ritter einer höher Titel Fides, Spes, Diese zweite Bedeutung drängt tas – und niemand würde in dielöst von irdischen Hierarchien, er Untreue im Scheidungsverfah- zieren, tragen die Treue, sondern auch den Glauben. tragen die Titel Fides, Spes, Cari- Gott) in sich, doch ist dieser losge- nur mehr der pekuniäre Wert der gestellten Dame treu, er macht Caritas – und niemand würde in dieven christlichen Gebrauch sogar on der Treue vermuten, schon gar gung, die auf Vertrauen beruht, ber ihrem Besitzer vertrauen, als die erste durch ihren exzessisem Kontext eine Personifikati- ist vor allem eine innere Überzeuren. Ob vielleicht auch Hunde lie- sich in Vers und Bild zu ihrem Diener und die Angebetete zumindest in diesem lyrischen Drei- Personifikation der Übersetzung klassischer lateini- thronende Frau. Wer im Internet etymologisch verwandt ist, aber zu sein, vermag ich nicht valide sem Kontext eine in den Hintergrund, was bei der nicht als souveräne, in der Höhe das zwar im Deutschen der Treue bloß aus Furcht ums Futter treu eck zur untreuen Ehefrau. Der Treue vermuten. scher Texte in meiner Schulzeit nach bildlichen Darstellungen historisch keineswegs immer mit zu beantworten, ich teile mein Wert der Treue bemisst in dieser der deutschsprachigen Treue in der Treue einhergeht. Haus mit Katzen, die sich schon hierarchischen Gesellschaft den der Kunst(geschichte) sucht, landet bei Bildern und Skulpturen deutschen Sprache nach 1945 eiziehung erfolgreich widersetzt Überhaupt hat die Treue in der immer jedweder Herrschaftsbe- sozialen Wert des Menschen, dem die Treue gilt. von Hunden, die zu Herrchen oder nen seltsamen Beigeschmack. haben. Anders als die deutsche Treue Frauchen aufblicken, vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Fi- den Begriff der Treue, der Wahl- Die Autorin lehrt Religions- Einschlägiges Liedgut kreist um weist das lateinische fides, von dem die entsprechenden Wörter des eröffnet zwischen Treue und spruch der SS, wo Treue in Kombination mit dem Ehrbegriff auftritt, Fakultät der Uni wissenschaft an der Kath.-theol. im Englischen (fidelity) und Fran- Glauben einen viel weiteren Be- Graz. DIE FURCHE · 28 13. Juli 2023 Von Jan Opielka as auch immer die Grundidee vor dem Schreiben dieser 13 Songs gewesen sein mag – es muss durch trübe Wolken viel Sonne in Herbert Grönemeyers musikalische Maschinenräume geschienen haben. Das 16. Studioalbum des deutschen Sängers und Songschreibers – „Das ist los“ – ist noch trotziger, als es der schelmische Titel andeutet: eine freche, wagemutig vibrierende Antwort auf die großen Fragen der wankenden Welt. Der 66-Jährige poetisiert singend über Ungleichheit, über Umweltzerstörung und die Corona-Pandemie, über Trauer und Leid. Doch er tut dies alles im Ton einer inspirierten und inspirierenden Hoffnung. Woher diese kommt – und ob seine persönliche Quelle eine spirituelle ist, deutet sich in und zwischen den Zeilen stets nur an. Selten redet der Künstler, der im Jahr 1998 innerhalb weniger Tage den Tod seiner Ehefrau und seines Bruders zu beklagen hatte, so klar über seinen Glauben wie in einem Interview von vor 15 Jahren. „Ich glaube an Gott. Ich bin calvinistisch-protestantisch erzogen worden. Jeder sollte sich ren zwei Hände – der erste Track mödie über kleine und große Katastrophen der Welt; „Herzhaft“ ist ein moralisches System schaffen, heißt „Deine Hand“. Ein Stück mit an dem er sich misst.“ starker, eingehender Melodie und ein Loblied der Lebensbejahung, Versen, die eine neue Wir-Perspektive ans Firmament zeich- des zweifachen Familienvaters: inklusive typischen Wortspielen „Religionen sind zu schonen“ Im Großteil seiner Lieder und nen. „Deine Hand gibt mir / Den „Nimm mich in die Herzhaft / Lass seines Werkes spricht er indes fast Halt, den ich so dringend brauch / mir keinen Schmerz nach / Verweiger meine Amnestie / Entzieh nie deutlich von Gott und Glauben. Um nicht zu brechen, halt sie fest / Eine der Ausnahmen ist auf dem Und wir könnten uns noch retten“. mir meine Logik / Erzieh mich Album „12“ aus dem Jahr 2007 Wessen Hand es sei, entscheidet streng katholisch / Wenn du deine Arme schließt“. das Stück „Ein Stück vom Himmel“ – in Deutschland seinerzeit des Urhebers findet sich im se- das individuelle Ohr, ein Hinweis ein Nummer-eins-Hit. Dort heißt henswerten Videoclip. Der Song „Oh, entfriere dein Genie“ lang der Kopf auf den Schultern es etwa: „Religionen sind zu schonen / Sie sind für Moral gemacht / fentlicht – und Grönemeyer sag- hat man Lust aufs Leben – und Funke Hoffnung lohnt / Dass in wurde bereits Ende 2022 veröf- Nach den drei ersten Stücken thront / sich für jedes Kind jeder Da ist nicht eine hehre Lehre / te dazu: „Es geht einfach darum, dann legt Grönemeyer erst richtig los. Das Stück „Genie“ ist ei- Sie wächst und sprießt, dass ihr ihnen weiter ihre Urkraft keimt / Kein Gott hat klüger gedacht“. dass wir zusammenrücken müssen, Solidarität zeigen und uns ne Aufforderung zum tiefen Blick Schlüssel wieder schließt“. Auch Dass auch das neue Album beim aufmerksamen Hören große gegenseitig Kraft schenken, insbesondere genau den Menschen, außen, zu der jeder fähig sei. nen Frau Anna Henkel erinnert er nach innen und großen Tat nach seiner vor 25 Jahren verstorbe- innere Bewegungen auszulösen vermag, könnte durchaus an Grönemeyers moralischem System schwer haben, über die Runden was dich lebt / Oh, du trägst den Album „Mensch“ das Stück „Der die es in dieser Zeit verdammt „Oh, entfriere dein Genie / Es ist, sich, ihr hatte er bereits auf dem furche.at. liegen, auf dessen Fundament er zu kommen.“ Code zum Paradies / Bring es auf Weg“ gewidmet. Nun singt er vom komponierte. Wahre Musik kann Das Stück setzt die Latte hoch den Weg“. In „Der Schlüssel“ ist „Urverlust“: „Es warst nur du, es nicht lügen. Allenthalben klingt an. Doch Intensität, Qualität und die Hoffnung auf die Kinder gemünzt – diesen hatte er bereits in nur du / Warst immer du / Uner- warst nur du / Immerzu, es warst in den Stücken eine angedeutete, jenseitige Kraft, fein verwoben Lieder lassen danach kaum nach. dem Song „Kinder an die Macht“ reicht, so klug / Von Kopf bis Fuß auch Originalität der folgenden mit dem konkret irdischen Hier Das Titelstück „Das ist los“ ist eine aberwitzige musische Tragikomal gesetzt. Nun singt er: „So- in den 1980er Jahren ein Denk- aus einem Guss / Bleibst du mein und Jetzt. Das Albumcover zie- Urverlust“. Mehr zu Musik und Spiritualität von Jan Opielka lesen Sie unter „Brian Enos spirituelle Grenzerfahrungen“ (3.5.2023) auf Die ersten acht Songs sind grandios, die folgenden etwas weniger spektakulär, doch lyrisch die gleiche Liga. Eine, in der Grönemeyer Fundamentales, Erhabenes und Urmenschliches verdichtet und vertont – so, dass es nicht pathetisch daherkommt, sondern mit Augenzwinkern, sprachspielerischem und stimmlichem Humor, um dann hie oder da zart ins Unendliche zu deuten. Mit dieser Platte, sagt Grönemeyer, habe er versucht, die Komplexität der Zeit der letzten Jahre zu greifen, die bisher die intensivste in seinem Leben sei: immer mehr Flüchtende, Klimakrise, Corona-Pandemie, der Ukrainekrieg. „Wir können uns als Menschen untereinander mehr helfen, als wir denken“, sagt er. Er selbst setzt sich seit Jahrzehnten für verschiedene soziale und politische Belange ein. Er unterstützt Greenpeace, ist Botschafter des Afghanischen Frauenvereins, singt und äußert sich immer wieder gegen Gefahren von rechts. Bei einem Konzert in Wien im Jahr 2019 sorgte er mit einer Aussage, die über soziale Medien verbreitet wurde, für einen Shitstorm von Anhängern und Politikern der deutschen AfD-Partei. Denn er rief, mit viel Wut, fast in Rage, in der Manier eines Tribuns: „Auch wenn Politiker schwächeln, und das ist in Österreich wohl nicht anders als in Deutschland, dann liegt es an uns, zu diktieren, wie ’ne Gesellschaft auszusehen hat. (…) Keinen Millimeter nach rechts!“ Humanismus mit Poetik Das Engagement sowie die Musik dieses Mannes, auch die aktuelle: Sie wirken komplementär. Von einer spirituellen Warte aus betrachtet ist sein Werk eine tätige Umsetzung des humanistischen Prinzips – mit feiner Poetik begleitet. Im vorletzten Stück, „Behutsam“, paraphrasiert der gebürtige Bochumer einen Gedanken, der auch in vielen älteren Stücken zu hören ist: Gott und Mensch sind wohl eine Gleichung. Nicht im Größenwahn, sondern in Demut und Freude. „Froh, wenn dein Wort klingt / Froh, wenn dein Herz springt / Heldinnen werden vom Glück bewacht / Dein Retterinnenweg / Wird sicher eng und auch mal schräg / Egal, wie’s um dich rum verzerrt / Du bist nie verkehrt“. Für Hoffnung Suchende: Diese Musik ist dringend hörenswert. Das ist los Von Herbert Grönemeyer Universal Music 2023 DIE FURCHE · 31 16 Diskurs 3. August 2023 IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at „Exporthilfe“ mit Folgen Der westliche Lebensstil befeuert Hungersnöte Von Maria Katharina Moser Nr. 30, Seite 15 Endlich räumt eine Zeitung mit der weitverbreiteten These auf, dass Hungersnöte hauptsächlich der Überbevölkerung geschuldet seien. Eine, die es aus ihrer Tätigkeit weiß, Maria Katharina Moser, Direktorin der Diakonie Österreich und evangelische Pfarrerin, stellt mit Fakten klar, dass Hungersnöte weniger auf den Anstieg der Weltbevölkerung, sondern vielmehr auf den westlichen Lebensstil zurückzuführen sind. Damit ist sie in guter Gesellschaft mit der katholischen Caritas, zahlreichen Umwelt- und Entwicklungshilfe-NGOs, auf politischer Seite mit den Grünen. Ergänzend möchte ich zu bedenken geben: Von der größten Wirtschaftsmacht, den USA, braucht man sich keine Einsicht erwarten – und leider geht auch die EU-Handelspolitik, beeinflusst von den Großkonzernen, verstärkt den Weg der Ausbeutung des Globalen Südens. Ähnlich wie in der Kolonialzeit holen Bergbau-, Öl- und Gaskonzerne zu Billigpreisen die Bodenschätze heraus, roden Agrarkonzerne Regenwälder für Palmölplantagen und Rinderweiden für Exportzwecke, fischen nach EU-Fischereiabkommen die Fischgründe entlang aller afrikanischen Küstenstaaten leer und machen Millionen Fischer arbeitslos – und auch zu Hungerflüchtlingen. Seit längerer Zeit verkaufen europäische und amerikanische Agrarkonzerne Milchpulver und minderwertige Teile von Schlachttieren nach Afrika – zwar nicht ausreichend, um den Hunger zu stillen, wohl aber mit DIE FURCHE · 29 2 Das Thema der Woche Trotzdem treu? 20. Juli 2023 E AUS DER REDAKTION Foto: imago / piemags Fides, Spes, Caritas „ Im Zwischenmenschlichen könnte man es mit dem Vertrauen probieren, das einer Beziehung auf Augenhöhe deutlich besser ansteht als eine feudale Verpflichtung. “ Als Teil einer Herrschaftsbeziehung hat die Treue in einer demokratischen, rechtsstaatlichen und gleichberechtigten Gesellschaft hoffentlich ausgedient. Ein Essay. Vom Wert der Treue dem Nachteil, dass die dortige Milchund Geflügelwirtschaft eine tödliche Konkurrenz erleidet. Diese von den US- und der EU-Agrarpolitik unterstützte „Exporthilfe“ findet auch Nachahmung in Österreich: Hat die frühere Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger stolz mitgeteilt, wie sehr sie sich bemühe, Exporte von Schweinefleisch nach Vietnam und China zu forcieren, so stößt ihr Nachfolger Norbert Totschnig ins selbe Horn. Uns wurde inzwischen von Ärzten und Klimaforschern oft genug erklärt, dass wir den Fleischkonsum aus Gesundheitsgründen reduzieren sollten. Ist den westlichen Agrarpolitikern nicht bewusst, dass sie den CO₂-Ausstoß massiv ankurbeln, wenn sie mit ihrer Fleisch-Exportoffensive hunderte Millionen Menschen, die sich bisher hauptsächlich von Getreide, Gemüse und Obst ernährt haben, zum Schnitzel- und Schweinsbratenessen verführen, wofür noch mehr Ackerund Weideland benötigt wird, das der bisher dort üblichen Lebensmittelproduktion fehlen und noch schlimmere Hungersnöte befeuern wird? Karl Semmler, 8283 Bad Blumau Treue statt Eskapaden Vom Wert der Treue Von Theresia Heimerl Nr. 29, Seite 2 Die arme Treue! Die unscheinbare Schwester der Liebe wird in der FURCHE auf drei Seiten ausgebuht und durchgeprügelt, dass der Zeitgeist seine Freude hat. Aber kein einziger Beitrag erfasst auch nur annähernd die etymologische, philosophische oder spirituelle Weite und Tiefe dieses Begriffes. Ausgerechnet eine katholische Theologin behauptet, die Treue habe „ausgedient“ – unter anderem deshalb, weil sie „Teil einer Herrschaftsbeziehung“ sei und in irgendeinem Spruch der SS vorgekommen ist. Doch man denke daran, wie oft „Gerechtigkeit“ oder „Freiheit“ missbraucht wurden und werden – und trotzdem weiter als erstrebenswerte Ideale gelten. Die Denk- und Recherchefehler der Frau Heimerl hinsichtlich „vertikaler Treue“ hat dankenswerterweise bereits Gottfried Kühnelt-Leddihn in einem Leserbrief in FURCHE Nr. 30 korrigiert. Auch ihrem Ansinnen, den Begriff „Treue“ durch „Loyalität“ zu ersetzen, muss dringend widersprochen werden. Sollen sich Brautleute bei ihrer Trauung nun Liebe und Loyalität versprechen? Abgesehen von der netten Alliteration ziemlich billig und unpoetisch. Loyalität kommt vom französischen Wort für Gesetz, loi. Loyal bin ich dem Staat gegenüber, da ich seine Gesetze halte. Zu den Menschen, mit denen ich in Liebe verbunden bin, bin ich nicht (nur) loyal, sondern treu: Treue ist der Alltag der Liebe, ihre Bewahrung und Bewährung auch in grauen Zeiten. Genau das ist es, was Familien und Kindern heute oft fehlt: belastbare Beziehungen. Individuelle Eskapaden haben wir schon genug, wir brauchen mehr Treue. Dietmar Bauer, Wiener Neustadt Barbarei in Kauf nehmen? Der Verantwortung entledigt Von Tobias Müller Nr. 30, Seiten 5–6 Ich bin sehr froh, dass DIE FURCHE über diese Barbarei schreibt und mit dem Titel „EU nimmt Barbarei in Kauf“ das Kind beim Namen nennt! Einerseits haben wir unsere „Werte“, auf die wir so stolz sind und die doch alle anderen Menschen übernehmen müssen. Gleichzeitig igeln wir uns ein. Herbert Grönemeyer schreibt seit über vier Jahrzehnten großartige Musik fürs Herz, den Kopf und die Beine. Nun legt er ein Album vor, das dem fatalistischen Zeitgeist trotzt, Tiefenschichten anbohrt – und in Höhen greift. W Gesellschaft Nur Mut „ Spirituell betrachtet ist sein Werk eine tätige Umsetzung des humanistischen Prinzips – mit feiner Poetik begleitet. “ Möge vielen Menschen in Österreich diese Barbarei unter den Nägeln brennen, und mögen die Menschen Mut und Fantasie haben, in ihrem Bereich an einer besseren Welt mitzuwirken! Johannes Missoni-Paul, 1190 Wien Barbie für Erwachsene Popkulturelle Subversion Von Alexandra Zawia Nr. 29, Seite 19 Der Film „Barbie“ ist kein Kinderfilm, was etwas seltsam anmutet angesichts der Tatsache, dass Barbie meist von kleinen Mädchen bis maximal zwölf Jahren heiß geliebt wird. Regisseurin Greta Gerwig hegt offensichtlich sadistische Empfindungen gegenüber ihrem eigentlichen „natürlichen“ Barbie-Publikum, das nämlich ausgesperrt ist. Shame on her! Als ich mit meiner Tochter in Opatjas Open-Air-Kino – ausverkauft! – die Besucherinnen beobachtete, bemerkten wir dutzende sehr erwachsene Foto: imago / Eventpress 9 Barbies, die dressed in pink und very sexy ins Kino stöckelten. Selten mehr High Heels und kürzeste Röckchen gesehen. Nur: Erwachsene, die ihre Spielsachen nicht zurücklassen können, sind Erwachsene, die Kindern das Kindsein verweigern. Stattdessen zwingen sie Kinder, erwachsen zu werden, was sie eben selbst verweigern. Matthias Urban, via Mail Weise Erkenntnisse Gegen den Größenwahn Von Martin Tauss Nr. 28, Seite 13 und allgemein zu Nr. 28 Bereits 1955 schrieb der von Martin Tauss gewürdigte Ernst F. Schumacher: Die Menge an wirklicher Muße, die eine Gesellschaft hat, steht im umgekehrten Verhältnis zur Menge an arbeitssparenden Maschinen, die sie verwendet. Diese weise Erkenntnis gilt heute umso mehr angesichts der immer größeren Maschinen, Autos, immer mehr Autobahnen, immer mehr Informationen durch die fortschreitende Digitalisierung. Gerade diese erscheint mir als die internationale heilige Kuh, ohne die es anscheinend keine Zukunft gibt. Die horrenden Energiekosten und die stark zunehmenden psychischen Erkrankungen unserer nachfolgenden Generationen werden in Kauf genommen. Dagegen ist für mich die Neutralität Österreichs heilig – keine heilige Kuh wie in einem Beitrag dieser FURCHE behandelt. Neutrale Staaten sind für mich Horte des Friedens und Orte für Begegnungen und Friedensverhandlungen. Je mehr neutrale Staaten es gibt, umso sicherer ist die Welt. Natürlich ist sie keine Garantie, dass auch Österreich angegriffen werden könnte. Aber auch als Mitglied eines Militärblocks ist die Gefahr groß, dass wir in einem Krieg mitmachen müssen. Danke jedenfalls für die vielfältigen, interessanten Beiträge in der FURCHE, diesmal besonders auch die Würdigung von Heinz Nußbaumer zu seinem 80. Geburtstag, den Beitrag „Kleidung ist Teil von Körpersprache“ von Clemens Paulovics und vieles mehr. Andreas Falschlunger Biobauer, Mutters Poesie und Optimismus Nur Mut. Von Jan Opielka Nr. 28, Seite 9 Ich möchte mich herzlich für diesen ausgezeichneten Beitrag über das Wirken von Herbert Grönemeyer bedanken! Poesie, verbunden mit Spiritualität und Optimismus – das hat sehr gut getan! Johannes Rieder, via Mail Rubbellos sorgt für 25 fette Jahre mit einem Hauptgewinn von 3.000 Euro bzw. 5.000 Euro monatlich Ein paar Tausender monatlich mehr? Ein fünfstelliger Betrag sofort, und dann monatlich ein paar Tausender – das ist die Gewinnmöglichkeit, die die Österreichischen Lotterien mit den Rubbellosen „25 fette Jahre“ bzw. „25 super fette Jahre“ bieten. Wie hoch der Sofortgewinn bzw. die monatlichen Zahlungen sind, hängt von der gewählten Rubbellos-Variante ab. Bei „25 fette Jahre“ wartet die Chance auf einen Sofortgewinn in Höhe von 25.000 Euro und eine monatliche Zahlung von 3.000 Euro für eben 25 Jahre. Bei „25 super fette Jahre“ liegt die mögliche Höhe des Sofortgewinns bei 50.000 Euro, die monatliche Zahlung bei 5.000 Euro. Neben den Hauptgewinnen gibt es noch zahlreiche weitere Gewinnmöglichkeiten von 3 Euro bis 15.000 Euro. Erhältlich sind die Rubbellose in allen Annahmestellen der Österreichischen Lotterien um 3 bzw. 5 Euro. „25 fette Jahre“ und „25 super fette Jahre“ mit Rubbellos. Foto: © Österreichische Lotterien IN KÜRZE RELIGION ■ Weltjugendtag in Lissabon RELIGION ■ Papst appelliert an Kreml BILDUNG ■ Lehrermangel nimmt zu GESELLSCHAFT ■ Schwimmtauglichkeit Bis 6. August findet der Weltjugendtag (WJT) der katholischen Kirche statt. Dazu kommen mehrere Hunderttausend Jugendliche aus der ganzen Welt zum Event mit Papst Franziskus nach Lissabon. Aus Österreich sind rund 3000 junge Christ(inn)en dabei. Begleitet werden sie von vier österreichischen Bischöfen: Stephan Turnovszky, Wilhelm Krautwaschl, Hermann Glettler und Josef Marketz. Sie werden im Zuge der „Rise Up“-Treffen Katechesen halten. Neben zentralen WJT-Veranstaltungen, wie den Ländertreffen und Papstmessen, bietet der Weltjugendtag über 200 weitere Aktivitäten, darunter Theater und Sportturniere. Das Getreideabkommen hatte bislang inmitten des russisch-ukrainischen Krieges den sicheren Export über das Schwarze Meer ermöglicht. Vor zwei Wochen hatte Russland das Abkommen einseitig aufgekündigt, wodurch in Afrika schwere Hungersnöte drohen. Im Rahmen des Mittagsgebets am 30. Juli appellierte Franziskus nun an den Kreml. Er forderte Russland auf, dem Getreideabkommen mit der Ukraine und der Türkei wieder beizutreten. Der Krieg zerstöre alles, darunter auch das Getreide. Damit werde Franziskus zufolge Gott beleidigt. Denn es sei ein Geschenk von diesem, den Hunger aller Menschen zu stillen. Trotz Lehrermangels zeigt sich Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) optimistisch, im neuen Schuljahr alle Unterrichtsstunden anbieten zu können. Wie schon in den Vorjahren wird in allen Bundesländern auch auf Überstunden beziehungsweise Studierende und Quereinsteiger zurückgegriffen. Das wirke sich positiv auf den Mangel aus, denn an Quereinsteigern gebe es „deutlich mehr als erwartet“, so Polaschek. Insgesamt haben sich mehr als 3000 Personen dafür an einer Schule beworben. Infrage kommt, wer ein passendes Studium und drei Jahre fachlich geeignete Berufserfahrung vorweisen kann. Laut dem Kuratorium für Verkehrssicherheit kann in Österreich jedes zehnte Kind ab fünf Jahren bzw. jeder zehnte Jugendliche nicht schwimmen: Das sei vor allem auf die Schwimmkurspause durch Corona zurückzuführen. Auch dass Schulklassen heute weitaus weniger in Schwimmbäder gehen würden, sei ein Grund dafür, so Bianca Egender, Schwimmtrainerin bei der Vorarlberger Wasserrettung, gegenüber orf.at. Die meisten Badeunfälle beträfen jedoch nicht Kinder, berichtet Manuel Winkel, Einsatzleiter bei der Wasserrettung Unterland. Am häufigsten würden ältere Personen einen Kreislaufkollaps im Wasser erleiden.
DIE FURCHE · 31 3. August 2023 Literatur 17 Martin Walser hat als „Großschriftsteller“ die deutsche Nachkriegsliteratur geprägt – und hitzige Kontroversen ausgelöst. Nun ist er 96-jährig gestorben. Ein Nachruf. Wege und Abwege Von Anton Thuswaldner Deutschland war seine Passion. Mit seinem Land haderte er, er wurde nicht müde, sich einzumischen, die Bürger in die Pflicht zu nehmen, Verantwortung zu übernehmen, sich kritisch mit der Politik auseinanderzusetzen. Wenn er damit provozierte, störte es ihn nicht. Martin Walser war ein homo politicus, der mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Öffentlichkeit aufrüttelte, um sie zu wachen Zeitgenossen zu erziehen. Der Schriftsteller als jemand, der Aufmerksamkeit für die wunden Punkte der Gesellschaft erregt, um – wenn schon nicht selbst verändernd eingreifen zu können – Diskussionen auszulösen und eine Streitkultur am Leben zu halten: Das sah er als seine dringende Aufgabe. Walser konnte sich irren, er vergriff sich auch bisweilen im Ton, Halbherzigkeit war seine Sache nicht. Er nahm eine klare Haltung ein, auch wenn die sich im Lauf des Lebens veränderte. Kein Wunder bei einem, der, 1927 geboren, die Wandlungen der Gesellschaft in der Bundesrepublik mitgestaltete. Als einer der Vertrauten Siegfried Unselds war er wie auch Uwe Johnson oder Hans Magnus Enzensberger für die programmatische Linie des Suhrkamp Verlags verantwortlich, als sich Deutschland unter dem Eindruck der Studentenbewegung zu politisieren begann. Kurzfristig fühlte er sich der DKP nahe, was ihn nicht da ran hinderte, die deutsche Teilung als schmerzlich zu empfinden, was ihn unter Linken zur Persona non grata machte. Streiterfahren, wie Walser war, schielte er nicht nach Gefolgschaft, und so nahm er immer wieder Haltungen ein, die ihn zum Singulär im Literaturbetrieb machten. Eine Wendung im Schreiben In weit fortgeschrittenem Alter gestand er dem Verfasser dieser Zeilen, der sich mit Walsers Werk seit seiner Dissertation von 1982 beschäftigt hat und den Schriftsteller und seine Spleens persönlich kannte, einmal Folgendes: Er, Walser, habe in einem seiner Romane einen Chauffeur erfunden, der nachts nicht schlafen konnte, weil er an seinen Chef denken musste – im Bewusstsein, dass dieser sehr wohl schlafen konnte, weil er nicht an seinen Chauffeur dachte. So jemand komme ihm nicht mehr ins Buch. Zu dieser Zeit hatte sein Schreiben eine Wendung genommen, die er in jungen Jahren verhöhnt hätte. Er wandte sich der Religion zu, setzte sich mit katholischen Denkern auseinander, Spiritualität hatte sich seiner neuen Weltzugewandtheit bemächtigt. Der Roman „Statt etwas oder Der letzte Rank“ von 2017 konzentriert sich ganz auf die Innensicht des Erzählers. Des Erzählers? Kein guter Ausdruck für einen, der sich vor allem auf Befindlichkeiten und Seelenzustände kapriziert. Ein großes Innehalten Foto: APA / dpa / Patrick Seeger Wollte man den Roman nacherzählen, käme man ins Taumeln. Was sich verändert hat, lässt sich allein am Vokabular der zumeist verstörten Rezensenten dingfest machen. Einer empfindet die Stimme als „göttliche Dreifaltigkeit“, „eine ganz eigene Hölle“ durchschreitet jemand anderer mit der Lektüre des Buches, während an anderer Stelle von einer „Seelenbeichte“ die Rede ist. Und was ist „Selbstergründung“ anderes als eine private Form von Beichte? Diesem Buch fehlt mit Absicht der Zug, der einen Text nach vorne bringt. Er wirkt wie ein großes Innehalten, ein Fest der Stagnation. Man fühlt sich an die Tage bücher von Walser erinnert, in denen häufig Fundstücke für sich stehen, funkelnde Satzgebilde, rätselhaft in ihrer Schönheit und Eleganz, getrieben von einer Wahrheitssucht, die sich auf kleinstem Raum festsetzt. „Mir geht es ein bisschen zu gut“, lautet solch eine Eingebung oder: „Ich leide, also bin ich“ und „Ich bin unmöglich, also bin ich“. Solche Sätze, und Walser ist ein leidenschaftlicher Jäger nach Denk-Sätzen, sind Ritterschlag und Schreckgespenst, je nachdem, wie man sie wendet. Das sieht vollkommen anders aus als Walsers Werk früher, das von einer Leichtigkeit durchdrungen ist, von lichten, hellen, heiteren Sätzen, sodass man den Eindruck gewinnt, hier schreibt jemand, dem die Worte einfach zufliegen. Noch später, in „Mädchenleben oder Die Heiligsprechung“ (2019), ist Walser überhaupt ins Stadium der Anbetung getreten. Das Mädchen Sirte steht im Mittelpunkt, von dem ein Zauber ausgeht, dem alle erliegen. Und der Erzähler übernimmt die Rolle des Evangelisten, um Taten und die Wirkung von Sirte festzuhalten. Der frühere Walser war der Chronist des Lächerlichen, der späte ist der Chronist des Erhabenen. Deutsche Spießer als Motiv Walsers Anfänge stehen noch ganz unter dem Eindruck Kafkas. „Ein Flugzeug über dem Haus“ heißt der Erzählband aus dem Jahr 1955, in dem parabelhaft Menschen auf der Strecke bleiben, die sich gegen unüberwindliche Widerstände, sich ein Stück Freiheit zu erkämpfen, durchzusetzen abmühen. Seit „Ehen in Philippsburg“ von 1957 bewegen sich seine Romane entlang der Geschichte der Bundesrepublik. Der Verfasser ist von der Hoffnung geleitet, „dass seine von der Wirklichkeit ermöglichten Erfindungen den oder jenen wie eigene Erfahrungen anmuten“. Der deutsche Spießer, Macht und Abhängigkeit, die Getriebenheit und die Sehnsucht, etwas darzustellen in der Gesellschaft: Solche Motive brachten Walser zum Schreiben. Dabei wandte er sich bevorzugt den Verlierern zu, die es nicht geschafft haben, im Aufstiegsstreben Schritt zu halten. Ironie war seine starke Waffe, mit all denen, die sich für etwas Besseres halten, abzurechnen. Die Frantzkes aus dem Philippsburg-Roman etwa: Die beiden wollen herausstechen aus dem Kleinstadtmilieu, und so stiftet der Mann einen Preis für den besten Sportler des Jahres. „Frau Frantzke verharrte in Wagnersängerhaltung, um den Beifall derer, die sie als ihre Freunde bezeichnet hatte, entgegenzunehmen.“ Der Mangel, schrieb Walser in einem frühen Essay, sei der innere Antrieb für sein Schreiben. Wem nichts fehle, der sei auch nicht getrieben vom Schreiben. Ebendiese Mangelerfahrung durchleben auch die Figuren seiner Bücher, die dadurch nicht zum Schreiben kommen, aber wie die Frantzkes seltsame Ideen hervorbringen. Zum veritablen Skandal geriet Walsers Paulskirchenrede vom 11. Oktober 1998 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Er beklagte die „Dauerpräsenz unserer Schande“, womit er die deutschen Verbrechen in Auschwitz meinte. „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung.“ Walser geriet unter Verdacht des Antisemitismus, von dem ihn aber Das Dossier „Zum Tod von Martin Walser“ mit wichtigen FURCHE-Texten über den Autor finden Sie unter furche.at bzw. diesem QR-Code: „ Der frühe Walser war Chronist des Lächerlichen, der späte Chronist des Erhabenen. Umstritten blieb er bis zum Schluss. “ Gefeiert und angefeindet Am 24. März 1927 wurde Martin Walser als Gastwirtssohn in Wasserburg am Bodensee geboren. Sein erster Roman, „Ehen in Philippsburg“ (1957), wurde ein großer Erfolg, der Durchbruch gelang ihm 1978 mit der Novelle „Ein fliehendes Pferd“. 1998 führte seine Paulskirchenrede, in der er von der „Moralkeule“ Auschwitz sprach, zu einem Sturm der Entrüstung – ebenso 2002 sein Buch „Tod eines Kritikers“. Am 28. Juli ist Martin Walser in Überlingen am Bodensee gestorben. selbst sein schärfster Kritiker, Marcel Reich-Ranicki, freisprach. Der sollte noch einen ganz anderen Konflikt mit ihm austragen, als 2002 der Roman „Tod eines Kritikers“ erschien. Der weitum gefürchtete Kritiker Ehrl-König verschwindet – als Vorbild Reich-Ranicki auszumachen, fällt nicht schwer. Die Figur wird lächerlich gemacht, was aber schwer ins Gewicht fällt, da sie mit antisemitischen Klischees ausgestattet wird. Der Unruhestifter als Antisemit? Walser und Reich-Ranicki verband und trennte eine lange Geschichte zwischen Wertschätzung und Abneigung. Der eine fühlte sich vom Kritiker unter Wert geschlagen und missverstanden, der andere verzieh ihm das Geschichtsbild nicht, wie es besonders im Roman „Ein springender Brunnen“ (1998) durchkommt. Dass ein Buch, das im Nationalsozialismus angesiedelt ist, Auschwitz ausspart, war für Reich-Ranicki – und auch für den Zentralrat der Juden in Deutschland unter Ignatz Bubis – unerträglich. Selbst eingefleischten Walser-Lesern fiel es schwer, ihm auf seinen Abwegen in verrufenes Gelände zu folgen, zumal seine Versöhnungsbereitschaft gering ausfiel. Umstritten, ja angefeindet, blieb er bis zum Schluss. Am Freitag voriger Woche ist Martin Walser in Überlingen am Bodensee im Alter von 96 Jahren verstorben.
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