DIE FURCHE · 31 12 Wissen 3. August 2023 Geschichte hautnah Die Archäologie greift heute auf einen bunten Methodenmix zurück. Durch Experimente wird die Vergangenheit zum Puzzle, in dem einzelne Teile zu einem lebendigen Ganzen zusammengefügt werden (Bild: Szene mit Werkzeug der Altsteinzeit im Urgeschichtemuseum MAMUZ). Von Dorian Schiffer Heute würden wir die mächtigen Gipfel, die den See umrahmen, als schön bezeichnen – doch den Menschen offenbarte sich ihre Majestät erst spät. Bis in die Neuzeit hinein hasste man die Berge; behinderten ihre gefährlichen Passstraßen doch das Vorankommen, waren sie doch im Winter gänzlich unüberwindbar. Dennoch ließen sich bereits vor 7000 Jahren Menschen hier am steilen Seeufer nieder. Sie kamen jedoch nicht wegen des Wassers, und sie kamen ganz bestimmt nicht wegen der Aussicht. Die Menschen kamen wegen dem, was hoch über den Wellen des Hallstätter Sees tief im Fels verborgen ist: das Salz. Geborgen aus Sand und Schlamm Unter schwersten Bedingungen dem Gebirge abgetrotzt, machte das weiße Gold die Bewohner des bronzezeitlichen Hallstatt reich und mächtig. So bezeugen es jedenfalls die Gräber, die die alten Hallstätter an der Bergflanke hinterlassen haben. Wie war wohl das Leben damals, dort am rauen Berg? Wie haben die Bewohner Hallstatts gewohnt, gegessen, gelacht, geliebt? Die Antworten auf manche dieser Fragen haben sie mit in ihre Gräber genommen: prächtige Schwerter, prunkvoller Schmuck, fein verzierte Krüge. Die Grabbeigaben, aber auch die organischen Veränderungen, die harte Arbeit an Knochen und Knorpel verursacht, verraten so einiges über das Leben der prähistorischen Hallstätter. Doch vieles bleibt im Dunklen, da der Boden nicht gut mit der Vergangenheit umgeht. Was wir von Hallstatt jener Tage wissen, was wir überhaupt von der Geschichte vor der Geschichte wissen, haben Archäologen aus Sand, aus Erde und aus Schlamm geborgen: Zersplitterte Fragmente von Werkzeugen, Tonscherben, halbvermoderte Holzbalken und Steinfundamente „Die DNA lügt niemals“ (20.2.2020): Martin Tauss über genetische Analysen im Dienst der Archäologie, auf furche.at. Die Experimentalarchäologie erlaubt neue Einblicke in das Leben unserer Vorfahren. Mit Geschick und vollem Körpereinsatz geht diese Forschung auf Tuchfühlung mit der Vergangenheit. Zeitreisen ist ein Handwerk geben Auskunft über die Vergangenheit. Doch die Fundstücke sind durch Verwitterung, Brände oder spitze Pflugscharen oft in schlechtem Zustand. Gut erhaltene Gräber wie in Hallstatt sind da ein Glücksfall – konkrete Ereignisse wie der alles begrabende, alles konservierende Ausbruch des Vesuv im Jahre 79 n. Chr. waren quasi ein Lottosechser. Freilich nicht für die antiken Bewohner von Pompeji, doch zumindest für die Archäologie: Der Vulkan hat die Zeit angehalten und uns damit einen Blick ins Alltagsleben der Römer gewährt, vom Bäcker bis zum Bordell. Allerdings bleiben selbst bei gut erhaltenen Funden zentrale Fragen offen: „Bei Ausgrabungen finden wir nur Überreste, Bruchstücke von Werkzeugen oder Waffen. Diese Funde können jedoch nicht beantworten, wie diese Geräte hergestellt oder wie sie benutzt wurden“, erklärt Franz Pieler. Der „ In der authentischen Rekonstruktion der Vergangenheit befassen sich die Archäologen mit allen Lebensbereichen, vom Hausbau bis hin zur Verdauung. “ Foto: mamuz Archäologe ist wissenschaftlicher Leiter des Urgeschichtemuseums MAMUZ in Asparn an der Zaya (NÖ) und Experte für experimentelle Archäologie. Physik, Chemie, Biologie – niemand wäre über Experimente in diesen Bereichen überrascht, doch in der Archäologie scheinen die entsprechenden Möglichkeiten eher begrenzt: Ohne Zeitmaschine ließe sich wohl kaum ausprobieren, wie das Essen der Bronzezeit geschmeckt, die Musik der römischen Antike geklungen oder wie es sich in einem jungsteinzeitlichen Langhaus gelebt hat, oder? Tatsächlich braucht es keine Zeitreisen, bloß handwerkliches Geschick, großes Detailwissen – und jede Menge Kreativität. Basierend auf Funden entwirft die Experimentalarchäologie Versuchsanordnungen, die jene Aspekte zugänglich machen, die herkömmliche Ausgrabungen nicht abdecken können. Wie das geht? „Wir analysieren die Spuren an Fundstücken und entwerfen darauf aufbauend Experimente“, sagt Pieler. „Dann vergleichen wir die Ergebnisse der Versuche mit den ursprünglichen Objekten.“ Fällen die Archäologen etwa mit nachgebauten Steinäxten Bäume, können die dabei an den Beilen entstehenden Abnützungserscheinungen mit denen an Originalen aus der Steinzeit verglichen werden. Bei diesem durchaus anstrengenden Experiment lernen die Fachleute neben prähistorischen Techniken auch, wie anstrengend und zeitaufwendig die Holzgewinnung für die Menschen der fernen Vergangenheit war. „Wenn ich aber noch nie eine Axt in der Hand gehabt habe und für eine dünne Fichte zwei Stunden brauche, ist das nicht repräsentativ“, berichtet Pieler: „Ich muss also mit den Materialien erst vertraut sein.“ Erst dann, und wenn der Versuch den strengen Standards der Wissenschaft genügt, können solche Experimente den Anspruch haben, tatsächlich einen Blick in frühere Zeiten zu gewähren. Allerdings ist die Experimentalarchäologie keineswegs auf das Testen von urzeitlichem Werkzeug beschränkt: Von mittelalterlichen Burgen über altägyptische Boote bis zu bronzezeitlichen Langhäusern sind Nachbauten ein wichtiger Teil der Disziplin. Mit historischen Mitteln gebaut, zeigen diese Projekte, welche geschickten und hartnäckigen Baumeister unsere Ahnen waren. Davon können sich die Besucher im Freilichtbereich des MAMUZ überzeugen. „Unser neuester Bau ist eine frühmittelalterliche Kirche, die nach der Analyse des Fundortes mit experimentalarchäologischen Methoden errichtet wurde“, erzählt Pieler. Das Original aus dem neunten Jahrhundert markiere die Übergangszeit zwischen Holz- und Steinbau, so der Archäologe: Innen von Holzgerüsten und Flechtwerk zusammengehalten, wurden die Wände der Kirche außen mit Steinen verfließt – eine kluge Tarnung. Überraschungen auf dem Acker Im Vergleich zu diesen architektonischen Meisterleistungen nimmt sich ein weiterer Bereich der experimentellen Archäologie geradezu bescheiden aus: Mithilfe naturwissenschaftlicher Methoden erforschen Wissenschafter, was mit menschlichen Spuren passiert, wenn sie dem Zahn der Zeit überlassen werden. „So haben englische Forscher künstliche Tonscherben mit Metallsensoren auf einem Feld ausgestreut und immer wieder umgepflügt“, berichtet Pieler. „Mithilfe der Sensoren konnten sie dann nachvollziehen, wie weit sich die Scherben verteilen.“ Erstaunlicherweise wandern die Bruchstücke selbst unter so einer Belastung, die Jahrtausenden natürlicher Erosion entspricht, nicht allzu weit von ihrem Ausgangspunkt weg – ein wichtiger Anhaltspunkt für Archäologen, wenn wirklich einmal Scherben im Gelände auftauchen: Ihr Herkunftsort ist nicht fern, genauere Erkundungen könnten sich lohnen. Vielleicht liegt unter dem braunen Acker ja die nächste archäologische Überraschung. „Nachdem wir versuchen, das Leben der Vergangenheit zu beschreiben, befassen wir uns mit allen Bereichen, vom Hausbau bis zur Nahrungszubereitung“, umreißt der Forscher den Anspruch der Experimentalarchäologie. Um dem gerecht zu werden, zeigen Wissenschafter mitunter vollen Körpereinsatz. Aus Speiseresten, die an bronzezeitlichem Geschirr im Hallstätter Salzbergwerk gefunden wurden, sowie aus den Hinterlassenschaften der Bergleute konnten Fachleute die Diät der alten Hallstätter rekonstruieren. „Das war eine Art Bohneneintopf mit Fleisch, und den konnte man nachkochen“, so Pieler. Untersuchungen an einem Kollegen des Archäologen, der den Eintopf über einen Monat lang zu sich nahm, erlaubten Rückschlüsse darauf, wie viel Kraft den Bergleuten von damals zur Verfügung stand – ob das Gericht auch schmeckte, ist jedoch nicht überliefert.
DIE FURCHE · 31 3. August 2023 Wissen 13 In seinem Opus magnum wirft Gabor Maté einen revolutionären Blick auf Sucht und andere chronische Krankheiten – und beschreibt sie als Anpassung an zutiefst schädliche Umstände. Ungesunde Normalität Von Martin Tauss HUMAN SPIRITS Von Martin Tauss Wer sich wie ein Fisch im Wasser bewegt, dem fällt es schwer, das Offensichtlichste zu begreifen. Das zeigt ein Gleichnis, in dem zwei Forellen auf einen älteren Artgenossen treffen. „Guten Morgen Jungs! Wie ist das Wasser?“, grüßt er sie freundlich. Die beiden jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, bis schließlich einer von ihnen den anderen fragt: „Was zum Teufel ist Wasser?“ Die Episode stammt vom amerikanischen Schriftsteller David Foster Wallace; zitiert wird sie im neuen Sachbuch des kanadischen Arztes Gabor Maté. In „Vom Mythos des Normalen“ (2023) beschreibt der Bestsellerautor, dass es in unserer modernen Gesellschaft Phänomene gibt, die – wie das Wasser für die Fische – zu nah, zu gewaltig, zu durchdringend sind, um überhaupt wahrgenommen zu werden: „Die Elemente des täglichen Lebens, die uns als normal erscheinen, sind genau die, die unbedingt von uns überprüft werden sollten.“ Seine Diagnose: Wir schwimmen in einer toxischen, stressdurchtränkten Kultur. Kindheit im Budapester Ghetto Was Gabor Maté wohl zur hiesigen Debatte gesagt hätte, in der führende ÖVP-Politiker(innen) jüngst die Normalität des Autofahrens und Schnitzelessens beschworen haben? Vielleicht das: „Weitaus mehr als der Mangel an technologischem Wissen, ausreichenden finanziellen Mitteln oder neuen Erkenntnissen ist die verzerrte Vorstellung von Normalität in unserer Kultur die größte Hemmschwelle für eine gesündere Welt.“ Das Zitat stammt aus der Einleitung, worin der Arzt und Traumaspezialist seine Zielsetzung umreißt: Mit einem ganzheitlichen Blick auf wissenschaftliche Befunde will er zeigen, „dass vieles von dem, was in unserer Gesellschaft als normal gilt, weder gesund noch natürlich ist“. Mehr noch, „dass Normalität in der modernen Gesellschaft häufig die Anpassung an Anforderungen bedeutet, die in Bezug auf unsere naturgegebenen Bedürfnisse zutiefst anormal sind – das heißt ungesund auf körperlicher, geistiger und sogar spiritueller Ebene“. Was heißt das konkret? Ein Blick auf den kollektiven Zustand der psychischen Gesundheit genügt: Angesichts der epidemischen Häufigkeit von Depression, Trauma, Sucht, Burnout etc. noch von einer „normalen“ Mehrheit zu sprechen, ist nicht tragfähig – erst recht nicht angesichts der Folgen einer epochalen Pandemie. Gabor Maté war zwölf Jahre in einer Suchtklinik in Vancouver tätig; in einem Stadtteil, der bekannt ist für die höchste Dichte an Drogenkonsumenten in ganz Nordamerika. Viele seiner Patienten hatten alles verloren: ihre Gesundheit, ihre Zähne, ihre Familie, ihre Arbeit, ihr Zuhause. Dennoch schafften sie es nicht, von den schädlichen Substanzen zu lassen – Alkohol, Opiate, Nikotin, Cannabis, Kokain, Crystal Meth, Klebstoff etc. Das ist das große „Warum?“. Sucht sei nicht das Ergebnis einer schlechten Entscheidung eines schlechten Charakters (die moralisierende Deutung), denn die meisten Süchtigen haben kaum eine Wahl, erläutert Maté. Aber auch die medizinische Deutung greife zu kurz: Sucht nur als Krankheit zu sehen, biete keinen Ansatz, sie besser zu verstehen und intelligenter mit ihr umzugehen. Man müsse daher andere Fragen stellen als bisher. Also nicht: Was ist falsch an einer Sucht? Sondern vielmehr: Was daran ist „richtig“? Welchen Nutzen zieht die Person aus ihrer Sucht? Dann sei es möglich, das süchtige Verhalten als Anpassung zu 1961 sorgte der Psychiater Thomas Szasz mit einem Buch über den „modernen Mythos der Geisteskrankheit“ für Aufsehen. Heute spricht der Arzt und Traumaspezialist Gabor Maté vom „Mythos der Normalität“. „ Angesichts der epidemischen Häufigkeit von Trauma, Depression, Burnout etc. noch von einer ‚normalen‘ Mehrheit zu sprechen, ist wissenschaftlich nicht tragfähig. “ verstehen, um mit Leid und Schmerz zurande zu kommen. „Hier kommen wir zur zweiten wesentlichen Frage nach der Sucht, die für mich zu einer Art Mantra geworden ist: Frag nicht nach der Ursache der Sucht, sondern nach der Ursache des Schmerzes“, so Maté, der mit alten Mythen über psychische Störungen aufräumen will. Zum Beispiel dass es eine klar definierte Kategorie der „Süchtigen“ gebe; eine kleine Gruppe von unglücklichen Seelen, die sich sauber von den „normalen“ Leuten abgrenzen ließe. Ganz so einfach sei das nicht, denn erstens werde niemand vom Schmerz verschont. Zweitens bleibe Sucht nicht nur auf Drogenkonsum beschränkt: Derselbe Trieb, der zum Konsum von Rauschmitteln führe, könne auch andere schädliche Verhaltensweisen auslösen: Shoppingsucht, exzessives Internet- und Glücksspielen, abnorme Essgewohnheiten, übermäßiges Arbeiten, zwanghaftes Sexualverlangen etc. „Es existiert nicht einmal eine feine Grenze zwischen ‚uns‘, den Aufrechten, und ‚jenen‘, den Heruntergekommenen“, bemerkt Maté: „Es ist eine fiktive Grenze.“ Auch hinter einer Fettleibigkeit (Adipositas) kann sich ein Trauma verbergen: Patientinnen, die sexuellen Missbrauch erlebt haben, „wählen“ später oft eine unattraktive Körperform, um sich so vor weiteren Übergriffen zu schützen. Auch sie passen sich somit an den erlittenen Schmerz an. Die vielen Facetten des Traumas sind seit Langem der Fokus von Matés Arbeit. Er kennt das Leiden aus erster Hand, denn als jüdisches Kind im Ungarn des Zweiten Weltkriegs wurde er selbst traumatisiert. Seine Familie landete im Budapester Ghetto, als er 14 Monate alt war. Seine Mutter übergab ihn auf der Straße einer Fremden, die ihn zu einer versteckt lebenden Tante bringen sollte. Erst nachdem die Sowjets die Deutschen in die Flucht geschlagen hatten, kam er nach Wochen wieder zu seiner Mutter – und sah sie anfangs nicht einmal an. Psychiater bezeichnen diese reflexartige Ablehnung der liebenden Bezugsperson als „Ablösung“. Auch das ist eine Art der Anpassung, denn der Verstand des Kindes sagt sinngemäß: „Es hat mich so verletzt, dass du mich verlassen hast, dass ich mich nicht wieder an dich binden will.“ Appell für eine traumasensitive Kultur Bei vielen Kindern verankern sich frühe Reaktionen wie diese im Nervensystem, im Geist und Körper. Sie bleiben aktiv und können künftige Beziehungen massiv beeinträchtigen – sofern sie nicht im Rahmen einer Therapie aufgearbeitet werden. Ob individuell oder gesellschaftlich, hier liegt laut Maté die Lösung: in der vorsorgenden Aufklärung über die unsichtbare Dynamik tief verborgener emotionaler Wunden. Die prägende Kraft des Traumas, die er selbst am eigenen Leib erfahren hatte, wurde zum Lebensthema, und im Zuge seiner Arbeit weist der Arzt stets darauf hin, dass traumatische Prägungen weiter verbreitet sind, als uns bewusst ist. Traumata entstehen nicht nur durch Tsunamis oder Krieg. Sie erwachsen oft aus ganz normalen Beziehungen. „Sie durchdringen unsere gesamte Kultur: vom individuellen Erleben über soziale Beziehungen bis hin zur Erziehung, Wirtschaft und Politik“, schreibt Maté: „Tatsächlich wäre jemand, der nicht von einer traumatischen Erfahrung geprägt ist, ein Sonderfall in unserer Gesellschaft.“ Vom Mythos des Normalen Neue Wege zur Heilung Von Gabor Maté Kösel Verlag 2023 624 S., geb., € 29,90 Illustration: iStock / Sergei Krestinin Gespenster der Vergangenheit Es begann auf breiter Front, am 22. Juni 1941: Das deutsche NS-Regime eröffnete den Krieg gegen eine offensichtlich überraschte Sowjetunion. Für den propagierten „Kreuzzug Europas gegen den Bolschewismus“ verfügte Nazideutschland über mehr als drei Millionen Soldaten. Viele von ihnen marschierten aufgeputscht durch Pervitin; eine Droge, die Energie und Wachheit steigert. Doch der erwartete „Blitzsieg“ blieb aus. Bereits Ende des Jahres hatte die Wehrmacht gewaltige, kaum zu kompensierende Verluste. Das Blatt wendete sich, und die Rote Armee begann nach Westen vorzurücken. Bis zur Kapitulation des Deutschen Reiches 1945 musste auch die Sowjetunion rund 25 Millionen Menschenleben beklagen. Szenenwechsel: Am 24. Februar 2022 „ Russland gründete seine Identität auf dem Narrativ des glorreichen Siegers, wo Verletzlichkeit keinen Platz finden darf. Die Folgen sind verheerend. “ begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Was in Russland zunächst nur als „Spezialoperation“ bezeichnet werden durfte, wird vom Kreml als Fortsetzung des „Großen Vaterländischen Krieges“ verkauft. Laut dieser Erzählung befinde sich Russland abermals in großer Gefahr: In Kiew müsse man „drogensüchtige Nazis“ besiegen, die vom feindlichen „Westen“ an der Macht gehalten würden. Fluch des Traumas Das rote Band, das die beiden Ereignisse verbindet, ist offensichtlich. Die Familie des 1952 geborenen Wladimir Putin war unmittelbar von der deutschen Okkupation betroffen: Ein älterer Bruder verhungerte im belagerten Stalingrad; eine Großmutter wurde von den deutschen Besatzern ermordet. Der russische Präsident bekam die Kriegsgräuel also noch unmittelbar zu spüren. Und ist zeitlebens davon geprägt. Im Zuge seiner langen Amtszeit fühlte er sich offenbar zunehmend bedroht – insbesondere von den Gespenstern der Vergangenheit. Dass er sich schließlich selbst darangemacht hat, den Horror des Krieges in der Ukraine wieder zu entfachen, ist eine europäische Tragödie. Und exemplarisch für die weltpolitische Bedeutung von Trauma. „Solange wir ein Trauma nicht aufgearbeitet haben, hält es uns in der Vergangenheit gefangen“, erläutert Gabor Maté (siehe Artikel links). Während die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs in Europa zu einer transnationalen Union geführt hat, die 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, blieb Russland im nationalistischen Sumpf stecken. Es gründete seine Identität auf dem Narrativ des starken, glorreichen Siegers, wo Verletzlichkeit keinen Platz finden darf. Im schlimmsten Fall führt das, so wie jetzt, zur erneuten Inszenierung des Traumas. Wäre die Geschichte anders verlaufen, wenn Putin die Macht früher abgegeben hätte? Wenn ein Vertreter einer jüngeren Generation übernommen hätte, der nicht mehr direkt mit dem Schrecken des Zweiten Weltkriegs in Kontakt gekommen ist? Haben vielleicht nur ein paar Jahre gefehlt, um die traumatische Verstrickung zu durchbrechen?
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