DIE FURCHE · 2714 Literatur3. Juli 2025Für ihren Text „DA STA“ erhielt Natascha Gangl den Bachmannpreis 2025. Wir bringen hier die Laudatiovon Brigitte Schwens-Harrant, die sie zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur eingeladen hatte.„Wo hörst denn du hin?“FORTSETZUNG VON SEITE 13ein häufig bemühtes Wort derJurydiskussionen aufzugreifen)Erzählstrategien widersetzen,bekommen üblicherweise im bestenFall positive Jurykommentare,was sich aber meist weder in ausreichendJurypunkten noch in Publikumsstimmenniederschlägt,das haben die letzten Jahre deutlichgezeigt. Dass Gangls Beitragtrotz seiner immensen Komplexitätdas Publikum berührte, merkteman schon an der Stimmungwährend der Lesung und demlang anhaltenden Applaus imStudio.Der feingesponnene Text, derseine volle Kraft in der Performanceentfaltete, ist in seiner Poesienie artifiziell oder selbstzweckhaft.Sprache, Form undThema bedingen sich gegenseitig.Angesiedelt in der steirisch-slowenischenGrenzregion, erzählt ervon einer kontaminierten Landschaft,wie Schwens-Harrant inihrer Laudatio in Rückgriff aufdieses von Martin Pollack geprägteBild beschrieb. Der titelgebende„STA“ – die Vermischung von steirischemDialekt und Hochsprachewar für einige Juroren eine Herausforderung – ist ein Gedenksteinfür 48 dort ermordete Juden.Die Protagonistin bewegt sichdurch diese kontaminierte Landschaft,in der noch die Toten liegen,sie befragt und nimmt auf Tonbandauf. Dabei bleibt unklar, wasgenau sie hört. Ruft ihr jemand zu„WE-IN-I-IUDN“, fragt also, ob siewegen der Juden da sei, oder heißtes in Wirklichkeit „WEIN-INTA-WIU-SDN-DO“, also wen interviewstdu denn da? „Stopp. Spulstzurück. Drehst die Aufnahme lauter.“Zuhören und zurückspulen,immer wieder, der eigenen Wahrnehmungmisstrauen, sich versichern,immer und immer wieder.Den schambehafteten Gebrauchdes Dialekts machte Gangl zurStärke ihres lyrische Qualitätenaufweisenden Texts.Fotos: APA / Wolfgang JannachGeboren 1986 in Bad Radkersburg, lebt Natascha Gangl in Wien und der Südoststeiermark. Sie schreibt Prosa,Essays, Hörspiele, Klangcomics, Radioessays und Features. Auch der Publikumspreis ging an die Autorin.Von Brigitte Schwens-Harrant3SAT-PREISschaft wurde.“ Das ist ein Zitat des heuer imJänner verstorbenen Autors Martin Pollack. Erfragte stets: Worauf leben wir?Natascha Gangl erweitert diese Frage. Siefragt: In welcher Sprache leben wir? Und washat sie, die Sprache, getan, und was tut sie? DerKlang, ja einzelne Laute entscheiden darüber,auf welcher Seite man steht oder zu stehen hat– und es kann tödlich sein, auf der falschen Sei-Kein harmloser Ortte zu sein. Eine Recherche nach der Geschichteeines Ortes (und seiner – man kann hier IngeborgBachmann zitieren – „Todesarten“) unddem, was es mit einem Gedenkstein, dem Sta,auf sich hat, wird zu einer sprachlichen Auseinandersetzung,die auch die Buchstaben auseinanderschiebtund neue Bedeutungen sucht. Diedeterminierende Frage „Wo gehörst du hin“ verschiebtsie zur Frage „Wo hörst denn du hin“ –und spricht damit ja auch ihre Leserinnen undHörer, uns alle an.Katasterte WeltWo hörst denn du hin? Der eigene Hör winkelbestimmt bekanntlich oft das Gehörte mehrals das tatsächlich Gesagte, und Gangl tritt mitihrem Text somit in eine oft brutal katasterteWelt, aber auch in das schubladisierte Innen;ihr Text reicht von der Regionalsprache und-geschichte bis zu den für das Zusammenlebenso wichtigen Fragen des Zuhörens und Verstehens(oder Missverstehens), egal wo. Sie machtmit einem unfassbar präzise gestalteten Textalle diese Wahrnehmungen und Fragen vielschichtigklangbar.„Keine neue Welt ohne neue Sprache“, so wurdeIngeborg Bachmann zu Beginn dieser Veranstaltungvon ihrem Bruder zitiert. „Keineneue Welt ohne neue Sprache“: Ich freue michsehr, dass die Kolleg:innen in der Jury für diesengroßartigen Text, diese neue Sprache gestimmthaben.Ich bedanke mich vor allem bei NataschaGangl sehr herzlich für diesen großartigenText, überhaupt auch für ihr gesamtes bisherigesSchaffen, das sie nämlich seit Jahrenunermüdlich und mit sehr viel Offenheit undHerzlichkeit jenseits von Moden und Trendsbetreibt – um ihn so klangbar zu machen: denTon, in dem wir wohnen.Almut Tina Schmidt erhielt für ihren Text „Fast eine Geschichte“ den diesjährigen 3sat-Preis. Die Laudatio.„ Zuhören und zurückspulen,immer wieder, der eigenenWahr nehmung misstrauen,sich versichern, immerund immer wieder. “Es war Mara Delius, die daraufhinwies, dass Thema und Aktualitätallein noch keinen interessantenliterarischen Text ausmachen.So fühlt sich Gangls vielschichtigerBeitrag, der Mehrsprachigkeit,Erinnerung, Zugehören unddas richtige Zuhören miteinanderverwebt, aktueller an als so mancherText, der ganz am Puls derZeit zu sein scheint. Die Jury unddas Publikum waren sich jedenfallseinig, dass Zuhören, Zweifelnund sich der Komplexität derWelt und der Sprache, die sie beschreibt,bewusst zu sein, die besteAntwort auf die Frage liefert,welche Bedeutung Literatur angesichtsder verstörenden Weltlagenoch haben kann.Alle Texte und Diskussionen findenSie auf bachmannpreis.orf.at.Von Brigitte Schwens-Harrantlässt sich ausbeuten,sagte Sibylleund bedauerte imnächsten Atemzug,„Siedass sie es nicht geschaffthabe, Klaus und Günter zugratulieren – und jetzt sei es ja wirklichzu spät.“ Wozu denn gratulierenund warumist es zu spät,„ Gekonnt konstruiertAlmut Tina Schmidtdiese Topografieeines Alltags ...Selten wurde das‚Da wir nichts voneinanderwussten‘ sogekonnt erzählt ... “fragt man sich –aber schon hastendie Ich-Erzählerinundder Text weiter.Nein, das Treppenhausist keinruhiger, und esist kein harmloserOrt. Es ist einOrt der Passagen,an dem sichviel zeigen könnte, was sich in derNachbarschaft hinter den Türenverbirgt. Aus der Ich-Perspektiveeiner vom eigenen Leben erschöpftenFrau erfahren wir angedeuteteMini dramen, Wortfetzen, Andeutungenvon Schicksalen – und stehenam Ende da, wo eine Sibyllekontaminierte Landschaftist […] eine Landschaft, dienach außen hin nichts Auffälligesaufweist, die aber etwas„Eineverbirgt. […] Wenn ich beginnezu graben, kommt etwas zum Vorschein. Etwaswurde zugedeckt, das zu einem Teil der Landwiedereinmal mehr weiß als manselber. Man selber hat nur eine Ahnung.Gekonnt konstruiert Almut TinaSchmidt diese Topografie einesAlltags und zugleich eines Frauenlebens,das mehrere Jahre umspanntund in dem sich das Lebenanderer spiegelt, auch Unheil. Siezeigt in raffiniertesten Übergängen,in plausiblerPerspektiveund mit Humorjene Bruchstücke,auf die mansich erst einmaleinen Reimmachen müsste.Selten wurdedas „Da wirnichts voneinanderwussten“ sogekonnt erzählt –eben erzählt undnicht bloß behauptet. Während wiran Gesprächsfetzen und Wohnungstürenvorbeihetzen, stellen sich Fragenvon Wahrnehmung und Verantwortung,eröffnet sich ein sozialerund ethischer Raum. „Fast eine Geschichte“wird darin ganz zur Parabelauf das Leben.Geboren 1971 in Göttingen, lebt Almut Tina Schmidt seit vielen Jahren als freieSchriftstellerin in Wien. Sie veröffentlichte mehrere Kinderbücher, Theaterstückeund Hörspiele sowie Prosa, unter anderem im Literaturverlag Droschl.
DIE FURCHE · 273. Juli 2025Literatur15Die Autobiografie eines Gebäudes schrieb Ruth Zylberman mit „Rue Saint-Maur 209“. Sie verfolgt die faszinierende Geschichte eines Hausesüber die Pariser Kommune von 1871 und die Revolution von 1848 bis ins 18. Jahrhundert zurück.Als sie die Kinder holtenVon Rainer MoritzRuth Zylbermans Film „Die Kinderaus der Rue Saint-Maur“war 2018 auf Arte zu sehen,er bildete die Grundlage fürihr zwei Jahre später folgendesBuch „Rue Saint-Maur 209“. Nun liegtdiese – so der Untertitel des französischenOriginals – „Autobiografie eines Gebäudes“auf Deutsch vor.Der Zufall führte dabei Regie. Ziellosließ sich die 1971 geborene Filmemacherinund Publizistin Ruth Zylberman voreinigen Jahren durch ihre HeimatstadtParis treiben. Ausgestattet mit einer Kartedes Historikers Serge Klarsfeld, die diezwischen 1942 und 1944 deportierten Kinderder Stadt verzeichnet, gelangt sie imzehnten Arrondissement vor ein Gebäudein der Rue Saint-Maur, Hausnummer 209.Damals im Krieg befand sich die knappzwei Kilo meter lange Rue Saint-Maur im„Yiddishland“, wo sich vor allem aus Osteuropaeingewanderte Juden niedergelassenhatten. Neun Kinder im Alter von dreibis siebzehn Jahren wurden aus dem Hausmit der Nummer 209 während der sogenanntenRazzia des Wintervelodroms imJuli 1942 in Lager verbracht; nur wenigeüberlebten. Zylberman weiß sofort, dasssie dieses Terrain erkunden, dass sie dessenGeschichte und der seiner Bewohnernachgehen muss.Winzige WohnungenUnbefangen nähert sie sich den viersechsstöckigen, einen Innenhof umschließendenHäusern und nimmt Kontakt mitdem Concierge Mohammed auf, dem „Hüter“des Komplexes. Ehe die Gentrifizierungdes Viertels vor ein paar Jahrzehnteneinsetzte und viele der Miet- in Eigentumswohnungenumgewandelt wurden, galt die209 als heruntergekommenes „Haus derkleinen Leute“, mit winzigen Wohnungen,die oft über keine eigenen Toiletten verfügten.Zylberman versucht die Atmosphäredes Gebäudes mit allen Sinnen aufzunehmen,befragt die einmal zugänglichen, einmalverschlossenen Bewohner, geht treppauf,treppab, setzt sich in den Innenhof, alsließe sich die Atmosphäre der längst verflossenenTage immer noch aufsaugen, undsucht überall nach Spuren, die in die Zeitder deutschen Besatzung zurückreichen.Mit – wie Zylberman selbst schreibt –großer Detailbesessenheit konsultiertsie Volkszählungslisten, vergräbt sich in(Polizei-)Archive und ins Internet, liestalte Zeitungen und lässt sich von Fachhistorikernberaten. Es geht ihr nicht umeine nüchterne historische Studie, sondernum die Erfassung einer faszinierendenHaus geschichte, die sie bis ins 18. Jahrhundert,bis zur Revolution von 1848 und zurPariser Kommune von 1871 zurück verfolgt.Nach und nach macht sie sich ein Bild derAppartements, Gänge und Keller, fertigtSkizzen an, um die Miet gemeinschaftengenau zuordnen zu können, und baut die –meist bescheidenen – Wohnungseinrichtungenmit Puppenmöbeln nach.Immer wieder kommen Zylbermanglückliche Fügungen zugute, sodass sieüber Umwege auf Überlebende, derenNachkommen und ehemalige Bewohnerstößt und so ein Puzzle aus dem zusammensetzt,was sich damals in den 1940erJahren zugetragen hat: „Mein Mietshausist eine Zwiebel, ich entferne Schicht umSchicht.“Was hatte es – welch ein Name! – mit derConcierge Madame Massacré auf sich, dieJuden versteckt und dafür vielleicht Geldgenommen haben soll, was mit der rumänischenGemischtwarenhändlerin, dievergebens um Gnade bei den Behörden ersucht,was mit der kleinen Eckkneipe, wasmit der Jungenschule direkt gegenüber,was mit dem Mädchen Thérèse, einer „kleinenAnne Frank“, die sich zwei Jahre langSprechenlassen„ Immer wieder kommen Zylbermanglückliche Fügungen zugute, sodasssie über Umwege auf Überlebende,deren Nachkommen und ehemaligeBewohner stößt ... “Tao Ye / TAO Dance Theater 14 © Duan NiFoto: Wikipedia/Ji-Elle (cc by-sa 4.0)Zylbermanseinfühlsame Annäherungsweiseüberzeugt ihreGesprächspartnerund lässt sieerzählen.nicht auf die Straße wagte? Und wer magseinerzeit kollaboriert, denunziert odernur weggesehen haben? Wie nur konnte essein, dass die über dreihundert Bewohnerdes Hauses, die sich gerade noch als großeFamilie verstanden hatten, plötzlich ignorierten,dass die Besatzer an Türen trommeltenund Nachbarn abführten?Trotz ihrer akribischen Recherche weißZylberman nur zu gut, dass sie lediglich„Bruchstücke“, ein „fragmentarisches Bild“der Erinnerung sammeln kann und zugleichdem, was man ihr erzählt, auch mitSkepsis gegenübertreten muss. Sich anihre Lektüre von Marcel Proust, GeorgesPerec oder Walter Benjamin erinnernd,geht sie jeden Weg, egal wie beschwerlicher ist, und reist bis nach Tel Aviv oder NewJersey, um mit jenen Altgewordenen zu reden,die einst in der Rue Saint-Maur wohntenund mitunter an das Erlebte nicht mehrerinnert werden wollen.„Ich habe das alles hinter mir gelassen“,sagt einer von ihnen – ein Irrglaube, wiesich herausstellt. Zylbermans einfühlsame,vorsichtige Annäherungsweise überzeugtihre Gesprächspartner und lässt sie,anfangs mitunter widerwillig, die eigeneFamiliengeschichte und deren dunkle Seitenerzählen.Mikrokosmos eines MietshausesRomane und historische Studien, die denMikrokosmos eines Mietshauses oder einesDorfes zum Zentrum der Welt machen, gibtes nicht wenige, doch Ruth Zylberman istmit „Rue Saint-Maur 209“ ein herausragendesBravourstück geglückt. Das hat nichtzuletzt mit der Empathie und Skrupelhaftigkeitder Autorin zu tun, die, ohne in Sentimentalitätzu verfallen, das Haus auf klugeWeise zum Sprechen bringt und dessenZeit der Deportation so bewegend wie präziseveranschaulicht. Am Ende kommen imFilm wie im Buch die Menschen, die die Geschichteder Rue Saint-Maur ausmachen,zu einem „Nachbarschaftsfest“ von nahund fern zusammen und lassen sich mitder Vergangenheit, von der nur noch Reliktevorhanden sind, konfrontieren. Wer dasliest, wird bei der nächsten Reise nach Parisnicht umhinkommen, das Haus in derRue Saint-Mort aufzusuchen.Rue Saint-Maur 209Ein Pariser Wohnhaus undseine GeschichtenVon Ruth ZylbermanÜbersetzt von PatriciaKlobusiczky undEla zum WinkelSchöffling 2025473 S., geb., € 28,80www.impulstanz.com
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