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DIE FURCHE 02.11.2023

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DIE FURCHE · 44 6 International 2. November 2023 Das Gespräch führte Stefan Schocher Das Institut für Nationale Erinnerung ist das Kernstück der Ukraine, wenn es um die Interpretation der eigenen Geschichte abseits russischer Narrative geht. Nach der Maidan-Revolution fielen Entkommunisierung sowie die Öffnung der KGB-Archive in Kiew in die Verantwortung des Instituts. Heute sind es Entrussifizierung und Entkolonialisierung. Ein Gespräch mit Institutsleiter Anton Drobovych. DIE FURCHE: Die Ukraine gerät angesichts der Eskalation in Nahost unter Druck, Aufmerksamkeit auf ihr unmittelbaren Bedürfnisse lenken zu müssen: nämlich Waffenlieferungen. Besteht die Gefahr, dass dafür die Kulturpolitik geopfert wird? Anton Drobovych: Indem unsere Armee den neuen russischen Imperialismus zurückhält, verringert sich das Risiko, dass die Armeen unserer Partner dies morgen tun müssen. Einige der Partnerländer sind nicht in der Lage, militärische Hilfe zu leisten und haben uns in sozialen, medizinischen und kulturellen Belangen unterstützt. Dass das Risiko eines Rückgangs der nichtmilitärischen Finanzhilfe steigt, ist allerdings eine dramatische Situation. DIE FURCHE: Sie sind Philosoph und Soldat. Wofür kämpfen sie persönlich in diesem Krieg? Drobovych: Für mein Land und für meine Familie in erster Linie. Ich bin der Armee beigetreten, als die russischen Panzer rund um Kiew standen und Raketen Wohngebäude in der Stadt getroffen haben. Es ist meine Pflicht, die Freiheit dieses Landes und die Leben meiner Familie zu verteidigen. KLARTEXT Lesen Sie dazu auch „Wie die Ukraine ihre Geschichte ohne Russland schreibt“ (16.5.23) von Stefan Schocher auf furche.at. DIE FURCHE: Ihr Institut war von russischer Seite vielfach kritisiert worden als Institution, die Geschichte umschreibe. Sie haben ihr Amt mit dem Plan angetreten, die Arbeit des Instituts zu liberalisieren. Was hat Sie an der vorherigen Arbeit gestört? Drobovych: Ich glaube, wir brauchen mehr Dialog und weniger Ideologie. Weil Ideologie nicht ohne gesunden Dialog existieren kann. Ideologie ohne gesunden Dialog ist als Regelwerk nicht gut für eine Gesellschaft. Ich denke, dass die Zahl öffentlicher Anhörungen und Debatten sowie digitaler Auseinandersetzungen zeigt, dass wir Erfolg haben. Ich würde aber nicht sagen, dass das alles ruhig verläuft. Und es liegt noch viel Arbeit vor uns. DIE FURCHE: Wieso wurde eine Institution wie diese denn überhaupt nötig? Hat das mit einem Mangel an historischem Bewusstsein in Wer will den Frieden wagen? Schwierige Erinnerung „Mehr Dialog und weniger Ideologie“ wünscht sich der 37-jährige Philosoph Anton Drobovych in der Kulturpolitik. (im Hintergrund eine Büste des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko) Anton Drobovych, Leiter des Instituts für Nationale Erinnerung in Kiew, über die gemeinsame Geschichte mit Russland als Belastung – und die Folgen der Eskalation in Nahost für die Ukraine. „Großteils ein Fluch“ Dass die Brutalität des Hamas-Überfalls auf Israels Zivilbevölkerung massive Gegenschläge erzwingt, steht völlig außer Zweifel. Wann aber wird aus legitimer Gegenwehr Unrecht? Was hätte wohl Bertha von Suttner zu dieser eskalierenden Gewaltspirale gesagt? Wie hätte sie die Machtlosigkeit des UN-Sicherheitsrats angesichts der offenkundigen Menschenrechtsverletzungen im Gaza-Streifen kommentiert? Wenn sogar UN-Generalsekretär Guterres zum Rücktritt aufgefordert wird, weil er unhaltbare Zustände beim Namen nennt: Wer soll es dann noch wagen, dem Treiben mit einem entschlossenen „Die Waffen nieder“ Einhalt zu gebieten? Seit dem 7. Oktober verdrängt die nahöstliche Kriegsfront den Ukrainekrieg aus den Schlagzeilen. Dabei wird die Untergrenze der Zahl der darin umgekommenen Soldaten beider Seiten mittlerweile mit zweihunderttausend angesetzt. Und von den hundertzwanzigtausend durch Aserbaidschans Diktator Alijew aus Berg-Karabach vertriebenen, im Wortsinn tot-geschwiegenen, armenischen Christinnen und Christen spricht ohnehin niemand mehr. Mit einem Mal legt man gegenüber Autokraten wie Alijew oder Venezuelas Maduro einen neuen „Pragmatismus“ an den Tag. Erdgas und Erdöl aus diesen Ländern wird nicht mehr geächtet. Von „Blutgeld“ ist nur die Rede, wenn der Rohstoff aus Russland kommt. Währenddessen nützt China die militärische Ablenkung der USA, um sich vom Westen unabhängiger zu machen – zuletzt durch einen Rückzug aus US-Anleihen, der die Kosten der amerikanischen Staatsverschuldung gerade deutlich nach oben treibt. Könnte Präsident Biden in jenem Moment, in dem er Netanjahu davor warnte, die gleichen Fehler zu machen wie die USA nach 9/11, gar auf die weichenstellende Situation seines eigenen Landes und mit ihm des gesamten Westens angespielt haben? Der Autor ist Ökonom und Publizist. Von Wilfried Stadler der Öffentlichkeit zu tun oder liegt das vielmehr daran, dass die ukrainische Geschichtsschreibung durch russische Sichtweisen dominiert war? Drobovych: Einige hundert Jahre russisches Imperium und mehr als 70 Jahre Sowjetunion haben unsere sozialen Strukturen zerstört. Das betrifft die Art, wie wir politische oder kulturelle Fragen behandeln. Und das betrifft die Institutionen, denen die Führung dieses Dialogs zufällt: Akademien, Universitäten. Aber Ukrainer streben nach Demokratie – das zieht sich quer durch die Geschichte. Angefangen von den Kosaken-Staaten. Es gibt diese tiefsitzende Erfahrung einer Gemeinschaft, die sich Institutionen zur gemeinsamen Entscheidungsfindung schafft – aber diese Institutionen wurden zerstört und korrumpiert durch die Sowjetunion. An diesem Punkt haben wir beginnen müssen. Foto: Stefan Schocher DIE FURCHE: Einige Veränderungen sind ja sehr sichtbar. Etwa, dass Hammer und Sichel an der Mutter- Heimat-Statue in Kiew durch den ukrainischen Dreizack ersetzt wurden. Aber in welchem Ausmaß ist sowjetische Geschichte denn auch ukrainische Geschichte? „ Hunderte Jahre russisches Imperium und mehr als 70 Jahre Sowjetunion haben unsere sozialen Strukturen zerstört. “ Drobovych: Die Mutter-Heimat- Statue ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie wir seit 30 Jahren in der Öffentlichkeit und unter Experten debattiert haben. Diese Debatte ist vor allem ein Beispiel dafür, wie sich die ukrainische Gesellschaft zu einem Andenken an den Zweiten Weltkrieg durchgerungen hat. Das ist kein abgeschlossener Prozess. Ein großer Teil der ukrainischen und der russischen Geschichte sind miteinander verwoben. Das ist großteils ein Fluch. Weil jedes Mal, wenn Russland in Richtung Imperialismus geht, verwendet es genau diese Nähe. Es ist wie in einer Familie, in der es Geschichten gibt, die für Einzelne sehr schmerzhaft sind. DIE FURCHE: Russland bedient aber auch ganz gezielt historische Bilder in Drohungen. Stichwort: Polen. Wieso tut Russland das? Drobovych: Die Volyn-Tragödie, die Zeit der Ukrainischen Volksrepublik zu Beginn des 20. Jahrhunderts – das sind Themen, die zwischen Polen und der Ukraine nicht zeitnah ausdiskutiert wurden. Während der Sowjetherrschaft konnten wir eine solche Debatte nicht führen. Letztlich hat Ideologie einen gesunden Dialog verunmöglicht. Wir sehen in der ukrainischen und auch polnischen Gesellschaft zugleich, dass es mehr Verständnis gibt als auf politischer Ebene. Zugleich sehen wir, dass es da viel mehr Dialog braucht. Russland sieht das und zerstört diesen Dialog mit dem Ziel, ihn zur Konfrontation zu machen. DIE FURCHE: Die Ukraine ist ein Land, in dem sich die dunkelsten Kapitel der Geschichte oft wiederholt haben. Sehen Sie aktuell die Gefahr, dass das wieder passieren kann? Drobovych: Russland versucht, den Zustand von vor rund hundert Jahren wiederherzustellen. Aber die Ukraine ist heute ein anderes Land als vor hundert Jahren. Wir haben Freiheit erlebt, trotz politischer und ökonomischer Schwierigkeiten. Wir erinnern uns an die Sowjetunion und den Holodomor, an den Genozid des russischen Reiches – und wir wollen das nie wieder erleben. Deswegen wird es Russland auch nicht gelingen, die Geschichte zu wiederholen. DIE FURCHE: Man hört sehr oft die Redewendung „nach dem Krieg“. Auch im Zusammenhang mit Kulturpolitik. Das wird aber wohl ein sehr langer Krieg werden. Kann Kulturpolitik bis „nach dem Krieg“ warten? Drobovych: Sieg ist nicht nur, dass unsere Soldaten unsere Grenzen sichern oder die ukrainische Fahne auf der Krim weht. Sieg ist die Möglichkeit, ein würdiges Leben zu leben. Und dieses Leben muss mit etwas anderem erfüllt sein als dem Klang von Waffen. Kultur ist das beste Mittel, um demokratische Werte und Menschenrechte zu schützen. Das ist unmöglich in einem militarisierten Staat. Ein Beispiel: Der einzige Musikhistoriker des Landes, der sich mit der Musikliteratur des 17. Jahrhunderts beschäftigt hat, ist in diesem Krieg gestorben. Ebenso ein Archäologe, der sich mit frühzeitlicher Geschichte beschäftigt hat. Oder ein Historiker, der sich mit der kosakischen Geschichte auseinandergesetzt hat. Alleine um den Grad der Expertise, den diese drei Leute hatten, wieder zu erreichen, bräuchten wir unter normalen Bedingungen Dekaden. Wenn wir jetzt die Finanzierung dieser Bereiche beenden, würden wir nach dem Sieg in einem Land enden, in dem ganze Wissenschaftsfelder fehlen. Das wäre ein riesiger Schaden vergleichbar mit direkten russischen Angriffen auf Kulturschätze.

DIE FURCHE · 44 2. November 2023 Religion 7 Judenhass in muslimischen Communitys hierzulande ebenso wie in der islamischen Welt – und in den sozialen Medien schockiert. Und bleibt dennoch eine Frage ohne einfache Antworten. Von Michael Blume Blume, Sie sind doch Religionswissenschafter und haben ein „Dr. Buch über die Krise des Islams geschrieben! Also: Ist der Islam kriegerisch, ist er antisemitisch?“ Seit dem massenmörderischen Terror-Massaker der Hamas an weit über tausend vorwiegend jüdischen Israelis bekomme ich diese und ähnliche Fragen täglich gestellt. Denn immerhin steht die Abkürzung „Hamas“ für arabisch Harakat al-muqāwamat alislāmiyya, deutsch: Islamische Widerstandsbewegung. Und hat nicht auch der Prophet des Islam, Mohammed, jüdische Oppositionelle in Medina niedermetzeln lassen? Oft schwingt bei den Fragen eine Angst mit: Wenn „der Islam“ antisemitisch wäre, dann gäbe es keine realistische Hoffnung auf Frieden. Nicht selten höre ich aber auch eine Erwartung: Endlich wieder ein klares Feindbild, das die Komplexität des Lebens und der Politik reduziert! Religionen und Auslegungen Die richtige Antwort auf diese Frage ist jedoch: Es kommt darauf an. Religionen werden täglich neu ausgedeutet, meist in untereinander konkurrierenden Flügeln. Deswegen ist die Anhängerschaft Jesu und des Buddhas keineswegs immer friedlich gewesen, ebenso wenig wie die Schüler von Moses – der laut Bibel am Berg Sinai ein Massaker anführt - oder eben von Mohammed stets Schwerter geschwungen haben. Für die Frage, welche Auslegungen sich in einer Religion durchsetzen, kommt es vor allem auf die Medien und die Wirtschaft an: Wer bestimmt das Wort, wer das Geld? Über Jahrhunderte galten Juden ebenso wie Christen in den islamischen Reichen als Volk der Schrift – dar al-kitab – und durften also unter Zahlung einer Schutzsteuer als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse einigermaßen sicher leben. Sehr oft ging es ihnen dabei besser als Jüdinnen und Juden in den christlichen Reichen. Dies änderte sich jedoch mit einem verhängnisvollen Verbot des Buchdrucks arabischer Lettern durch Sultan Bayazid II. um 1485. Zunächst konnte das gerade um Konstantinopel, jetzt Istanbul, erweiterte Osmanische Reich damit die Sprengwirkung des um 1450 entwickelten, europäischen Buchdrucks abfedern: Der Islam erlebte damals keine Reformation, kein radikales Täuferreich Ist der Islam antisemitisch? von Münster, keinen Dreißigjährigen Krieg. All das erlebt er jetzt. Denn die Verzögerung der Medienrevolution führte dazu, dass sich Völker, die in arabischen Alphabeten schrieben – also auch etwa Türken, Kurden, Perser – viel langsamer alphabetisierten. Die armenischen, jüdischen, griechischen Minderheiten im Osmanischen Reich verfügten dagegen bald über gedruckte Bücher, der Wert von Bildung stieg. Und in Europa eskalierte die Alphabetisierung bis zum Druck von Tageszeitungen, dem Fundament jeder rechtsstaatlichen Republik: Um 1800 konnte bereits eine Mehrheit der Deutsch- und Englischsprechenden Lesen und Schreiben, die ersten Zeitungen druckten bereits Leserbriefe. Selbst im damals als „rückständig“ verlachten Portugal lasen bereits um die 20 Prozent. In der lange führenden, islamischen Kultur waren es dagegen noch immer unter fünf Prozent. Zu den Folgen der sich schnell öffnenden Bildungsschere gehörte, dass Europa technologisch, wirtschaftlich und auch militärisch die islamische Hochkultur hinter sich ließ: Schon 1571 unterlagen die osmanischen Schiffe bei der Seeschlacht von Lepanto. 1683 scheiterte dann die letzte, osmanische Belagerung von Wien. Der Imperialismus drehte sich und das islamische Kalifat wurde bald als „kranker Mann am Bosporus“ bezeichnet und zur Beute nun christlich geprägter Imperien. Entsprechend versuchte etwa Kemal Atatürk noch 1929 mit der Einführung eines lateinischen anstelle des arabisch-osmanischen Alphabetes den enormen Alphabetisierungsrückstand der Türken aufzuholen. Noch die Eltern meiner Ehefrau Zehra gehörten zur ersten Generation in ihren anatolischen Dörfern, die allgemein-bildende Grundschulen besuchen konnten. Politische Propaganda Ich habe selbst in mehreren islamisch geprägten Ländern erlebt, dass die wenigsten Musliminnen und Muslime diese Zusammenhänge kennen. Stattdessen wird ihnen – wie übrigens auch arabischen Christen – oft schon in Schulen und durch Regierungspropaganda eingetrichtert: Wir waren einst ein großes und geeintes Reich, bevor die Juden (die erste, alphabetisierte Religion) und der Westen unsere Hochkultur durch Verschwörungen vernichteten! Sie hätten dabei die Toleranz der islamischen Welt ausgenutzt und gegen diese gewendet. Dazu wurden antisemitische Verschwörungsmythen aus Europa mit islamischen Traditionen verschmolzen. So übernahmen gerade auch die aus Ägypten ausgehenden Muslimbrüder samt ihrer Tochtergründung Hamas etwa die üble, aus Russland stammende Fälschung der „Protokolle der Weisen von Zion“. Das judenfeindliche und buchstäblich mörderische Bündnis zwischen Adolf Hitler und dem arabischen Großmufti Amin al-Hussaini wirkt bis heute verhängnisvoll nach.“ Anstelle einer ehrlichen Selbstkritik und entschlossenen Bildungs-Entwicklung trat das antisemitische Selbstverständnis eines durch Notwehr gerechtfertigten „islamischen Widerstands“ gegen eine angebliche jüdische Weltverschwörung, die am Ende durch Terror und eine apokalyptische Endschlacht zu besiegen sei. „ Der Islam erlebte nach 1485 keine Reformation, kein Täuferreich, keinen Dreißigjährigen Krieg. All das erlebt er jetzt. “ Auch das schiitische Regime des Iran und die von ihnen bestimmte Hisbollah im Libanon, Teile der arabisch-säkularen Baath-Parteien, der palästinensischen PLO und Fatah sowie die sunnitische Al-Kaida und der zeitweise in Regionen Syriens und des Irak herrschende „Islamische Staat“ schlossen sich dieser verschwörungsmythologischen Logik an. Eine friedvolle Zwei-Staaten-Lösung mit Israel konnte es laut dieser antisemitischen Logik nicht geben, sondern allenfalls kurze Fristen des Waffenstillstandes bis zur völligen Vernichtung des Staates Israel. Die Gier des Westens nach Erdöl und Erdgas führte schon im 20. Foto: iStock/alexsl Lesen Sie zum Thema auch „Ist der Islam im Grundsatz antisemitisch?“ von Franz Winter, 21.3.2019, nachzulesen auf furche.at. Heilige Stadt In Jerusalem (Bild: Klagemauer und Felsendom) treffen Judentum und Islam auch in den religiösen Bauwerken buchstäblich aufeinander. Jahrhundert zum Bündnis mit korrupten Autokratien. So wurden Regime wie die saudi-arabischen, katarischen und kuwaitischen Herrscherhäuser, der diktatorische Schah von Persien oder auch der irakische Massenmörder Saddam Hussein mit Geld und westlichen Waffen ausgestattet. Nachdem die Zerstörung Israels durch arabische Armeen im Jom-Kippur-Krieg vor genau 50 Jahren gescheitert war, konnten die öl- und gasreichen Regime mit OPEC-Kartellabsprachen sogar die Preise emportreiben – bis heute. Auch die Sowjetunion wurde durch fossile Rohstoffeinnahmen um etwa zwei Jahrzehnte verlängert. Die massenhafte Verbrennung von Erdöl und Erdgas vergiftete nicht nur unsere Atmosphäre, sondern auch Politik und religiöse Traditionen. Mitfinanzierter Judenhass Die derzeit in europäischen Medien oft zu lesende Belehrung, dass die israelische Rechte die Gefahr durch die Hamas unterschätzt und etwa deren Finanzierung durch Katar gestattet habe, ist also zu ergänzen: Auch die europäische und amerikanische Rechte versagte strategisch, indem sie die Energiewende von fossilen zu erneuerbaren Energien massiv verzögerte. Bis heute finanzieren wir durch Gasimporte etwa den Hamas-Verbündeten Katar und beziehen über den Zwischenhändler Indien weiterhin russisches und iranisches Öl. Wir bezahlen täglich jene antisemitische Propaganda, Raketen und Terrorangriffe gegen Israel und Ukraine mit, die wir dann lautstark beklagen. Aber auch viele westliche Linke bis hin zu Greta Thunberg haben sich intellektuell und moralisch heillos verrannt und die islamistisch-antisemitischen Mord- und Terrorkampagnen als vermeintlichen „Freiheitskampf“ gegen „Kolonialismus“ romantisiert. Während Wissenschaften und Technologien auch während der Covid19-Pandemie von sogenannten Querdenkern mit Verschwörungsmythen attackiert wurden, stärken sich die Feinde der offenen Gesellschaften weiter an fossilen Einnahmen und an durch die Klima- und Wasserkrise verschärften Migrationsströmen. Wir haben noch lange Kämpfe mit antisemitischer Propaganda und Gewalt vor uns – die wir nur gewinnen werden, wenn wir uns auch selbst in Frage stellen und verändern. Der Autor ist Religions- und Politikwissenschaftler sowie Beauftragter der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus. Der evangelische Christ ist mit einer Muslimin verheiratet, dreifacher Vater und veröffentlichte Bücher wie „Islam in der Krise“ (2017) und „Warum der Antisemitismus uns alle bedroht“ (2019).

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