DIE FURCHE · 44 18 Medien 2. November 2023 Von Doris Helmberger Was ist ein gutes Interview? Für die meisten wohl eines mit wohlüberlegten Fragen und einer Gesprächshaltung, die das Gegenüber zu möglichst viel Offenheit und möglichst wenigen Phrasen bewegt. Gerade das wurde freilich in den vergangenen Jahren deutlich erschwert: durch die Angst, etwas Falsches zu sagen. „Diese Angst äußert sich in Zurückhaltung, Zaudern, Vorsicht, Absagen, im Nachhinein vorgenommenen Streichungen oder Umformulierungen, manchmal sogar dem Einschalten von Anwälten, was zur Tilgung ganzer Passagen oder sogar des ganzen Interviews führen kann“, Ein neuer Sammelband mit Interviews von Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo enthält Interviews von verblüffender Aktualität. Eine Erkenntnis: Offen zu sprechen, wagen nur noch Diktatoren – und der Papst. Die Freiheit der Autokraten schreibt Giovanni di Lorenzo im Vorwort seines neuen Gesprächs-Sammelbandes „Vom Leben und anderen Zumutungen“. Seit 2004 ist er Chefredakteur der deutschen Wochenzeitung Die Zeit, zahlreiche Prominente hat er seither interviewt – doch die Tatsache, dass „ein pointierter Satz den nächsten Shitstorm auslösen“ könne, sei „eine Plage“. Hier werden ihm wohl viele zustimmen. Ebenso im Befund, dass zugleich das Publikum empfindlicher geworden sei. „Wie kann man so einem Menschen ein Forum geben?“: Das bekam der Zeit-Chef vielfach zu hören, etwa nach Gesprächen mit Recep Tayyip Erdoğan oder Viktor Orbán. Seine Antwort: Natürlich gebe es Menschen, für die Medien nicht P wie Prosa. Und Provokation. Verstärker spielen dürften – Gewalttäter, Verschwörungstheoretiker oder Holocaustleugner etwa. „Aber Herrscher, die Macht haben über Millionen von Menschen – von denen möchte ich alles wissen, selbst wenn mir beim Abhören ihrer verqueren Gedanken auf meinem Tonband schlecht wird.“ Entsprechend outspoken lesen sich viele jener 19 Gespräche, die im so- eben erschienenen Sammelband enthalten sind: von Udo Jürgens über Umberto Eco, Reinhold Messner und Angela Merkel bis zu Papst Franziskus. Am beklemmendsten ist tatsächlich jenes mit dem türkischen Autokraten, das di Lorenzo im Juli 2017 führte – auf dem Höhepunkt der deutsch-türkischen Krise aus Anlass der Festnahme des Welt-Journalisten Deniz Yücel. Nicht nur die offene Feindseligkeit Erdoğans wird hier deutlich, sondern auch sein (Un-)Verständnis bezüglich Journalismus: „Ich glaube nicht daran, dass es irgendwo in der Welt unabhängige Medien gibt“, sagt er im O-Ton. „ ‚Ich glaube nicht daran, dass es irgendwo in der Welt unabhängige Medien gibt‘, sagte Erdoğan im Gespräch mit der Zeit. “ Verblüffend auch die Aktualität vieler Interviews: etwa jenes mit dem deutschen Grünpolitiker und einstigen Studentenführer, Daniel Cohn- Bendit, in dem dieser von seiner späten Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Identität erzählt – und vom Antisemitismus linker Mitstreiter. Weiteres Highlight ist neben dem Interview mit Viktor Orbán jenes mit Franziskus. Mit ihm sprach Giovanni di Lorenzo auch über das für viele Undenkbare: persönliche Glaubenszweifel eines Papstes – und den Teufel. Nachträgliche Änderungswünsche des Vatikan gab es kaum. Jetzt Tickets sichern! buchwien.at/tickets 8.–13. November 2023 Messe Wien, Halle D Vom Leben und anderen Zumutungen von Giovanni di Lorenzo Kiepenheuer & Witsch 2023 352 S., geb., € 25,– ZUM BILD AUF SEITE 20 Eiserner Vorhang 2023/24 von Anselm Kiefer Wie jedes Jahr wurde auch für diese Saison der Eiserne Vorhang der Wiener Staatsoper künstlerisch gestaltet, heuer von Anselm Kiefer. Aus Anlass der Eröffnung des Eisernen Vorhangs 2023/24, die am 8. November 2023 stattfinden wird, präsentiert DIE FURCHE in Kooperation mit museum in progress auf Seite 20 das Werk „Emanation“ von Anselm Kiefer als Zeitungs-Multiple. Das 1984–86 entstandene Bild verfügt mit seiner Meeresszenerie über eine motivische und formale Nähe zum Werk in der Staatsoper.
DIE FURCHE · 44 2. November 2023 Wissen 19 Uni-Saat Mittlerweile umfasst das Netzwerk der „Achtsamen Hochschulen“ über 500 Institutionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Seitdem wurden viele achtsamkeitsbasierte Interventionen entwickelt, einige für spezielle Patientengruppen, andere für eine breitere Anwendung. Die meisten konzentrieren sich jedoch auf das Individuum. Dies könnte eine ihrer größten Einschränkungen sein. Das Projekt der „Achtsamen Hochschulen“ hat sich dieser Einschränkung angenommen, indem es zwischenmenschliche Praktiken in den von Mike Sandbothe und Reyk Albrecht entwickelten Kurs „Mindfulness-Based Student Training“ (MBST) integriert. Durch Praktiken wie „kontemplative Dyaden“, bei denen sich die Beteiligten im achtsamen Sprechen und Zuhören üben, lernen die Studierenden, direkt in ihrem sozialen Umfeld achtsam zu sein. Die Arbeit der deutschen Empathie-Forscherin Tania Singer zeigt, wie die Übertragung der in der Meditation entwickelten Fähigkeiten auf alltägliche Begegnungen dadurch erleichtert wird. Das MBST-Training geht noch einen Schritt weiter und umfasst auch Übungen, die auf dem „Social Presencing“-Theater von Otto Scharmer und Arawana Hayashi basieren – einer innovativen sozialen Kunstform, die u. a. am „Massachusetts Institute of Technology“ (MIT) entwickelt wurde. Es soll Systemzustände ganzheitlich sichtbar machen, um kreative Potenziale zu aktivieren. Die Idee ist, einen Wandel von Ego- zu Ökosystemen zu schaffen. Dieser Wandel scheint angesichts der planetaren Krisen unabdingbar. Mit der Ausweitung der Achtsamkeitspraxis erweitert sich somit auch ihre Definition: „Achtsam zu sein bedeutet, ein Gespür für die Gegenwart zu entwickeln und wahrnehmen zu können, welche Zukunft entsteht und welche Vergangenheit transformiert werden möchte“, schreiben Sandbothe und Albrecht. „Und genau das brauchen wir in Krisenzeiten.“ Keine Frage, die Studierenden von heute wollen etwas für die Zukunft tun. Und nicht nur etwas – „das Richtige“. Die Ausweitung der Achtsamkeitsdefinition auf die soziale und ökologische Welt ist eine Antwort auf diesen Wunsch. Ebenso wie die Bereitstellung konkreter Instrumente, mit denen die Schüler(innen) die Verbindung zwischen beiden Welten fördern können. Illustration: Rainer Messerklinger Wie kann man Achtsamkeit und Empathie in der universitären Landschaft verankern? Das Netzwerk der „Achtsamen Hochschulen“ will Keimzellen der sozialen Transformation bilden. Vom Ego- zum Ökosystem Von Asena Boyadzhieva Zugegeben, ein paar Minuten am Tag mit geschlossenen Augen im Lotussitz zu sitzen, macht noch keinen guten Menschen. Aber eine nachhaltige Achtsamkeitspraxis kann ein guter Ausgangspunkt sein, um zu erkennen, was das richtige Handeln ist. Moment für Moment, zu jeder Zeit. Das klingt einfach. Und das ist es auch. Aber damit es funktioniert, darf man Achtsamkeit nicht einfach als ein Instrument zur Steigerung der Produktivität und zur Stressbewältigung betrachten. Um die Wahrnehmung von „Achtsamkeit“ zu verändern, muss man ihre verschiedenen Seiten erleben. Und wo könnte man damit besser beginnen als an dem Ort, an dem ständig neue Ideen entwickelt, erprobt und überarbeitet werden? Die Universität, für viele ein epistemischer Tempel, birgt das Potenzial, eine andere Art von Wissen – das Erfahrungswissen, ein Wissen „aus erster Hand“ – in das soziale System einzubringen und es so von innen heraus zu verändern. Dieser scheinbar einfache Schritt könnte die Offenheit fördern, die für gesellschaftliche Transformationsprozesse notwendig ist. Es ist an der Zeit, die Rolle der Hochschulbildung beim Aufbau einer „Bewusstseinskultur“ (Thomas Metzinger) zu überdenken. Das Netzwerk „Achtsame Hochschulen“ (achtsamehochschulen.de) bringt Institutionen im deutschsprachigen Raum zusammen, die sich zum Ziel gesetzt haben, Achtsamkeit in die universitäre Bildung zu bringen. Die Ergebnisse sind vielversprechend. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Integration dieser Praktiken zu vielfältigen Vorteilen für die Studierenden führen kann, einschließlich einer signifikanten Reduktion von Stress. Aber das ist noch nicht alles. Das Projekt der „achtsamen Universitäten“ beschränkt sich nicht auf einzelne Achtsamkeitsübungen. Es integriert aktiv das soziale und ökologische Umfeld der Studierenden durch zwischenmenschliche Praktiken, bei denen andere in die Meditationspraxis einbezogen werden. Hier unterscheidet sich das Programm von dem bereits etablierten MBSR-Training („Mindfulness-Based Stress Reduction“), das ursprünglich von John Kabat-Zinn an der Universität Massachusetts in den 1970er-Jahren entwickelt wurde, um Patient(inn)en einer Schmerzklinik bei der Bewältigung ihrer Symptome zu unterstützen. Neue Praxis: kontemplative Dyaden Foto: iStock/piyaset „ Die Universität hat das Potenzial, eine andere Art von Wissen – direktes ‚Erfahrungswissen‘ – in die Gesellschaft einzubringen und sie so von innen zu verändern. “ „Wenn die innere Verbundenheit mit sich selbst und anderen an der Universität gefördert wird, tragen die jungen Menschen diese Fähigkeiten später in ihre Familien, in den Berufsalltag und in die Gesellschaft“, sagt Andrea Rieger-Jandl von der TU Wien. Die Architekturwissenschaftlerin und Anthropologin zählt zu den Vorreitern, die Achtsamkeit an den heimischen Unis etablieren wollen. Das Interesse sei da, sagt sie, es bedürfe aber vielleicht eines „Re-Brandings“, um die Verantwortlichen von der Bedeutung der Achtsamkeit im Bildungssystem zu überzeugen. Karlheinz Valtl, der Leiter des ALBUS-Projekts (achtsamkeit.univie.ac.at), das Achtsamkeit in die Lehrerausbildung gebracht hat, bestätigt das: Da das Projekt erfolgreich abgeschlossen wurde, liegt es nun in den Händen der Behörde, die Erkenntnisse in das Bildungssystem zu integrieren und weitere Forschungen anzuregen. Mittlerweile umfasst das Netzwerk der „Achtsamen Hochschulen“ über 500 Institutionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Und das Interesse wächst. Doch die Implementierung des Programms in den regulären Lehrbetrieb ist nicht so einfach. Die Herausforderung besteht darin, die Verkrustungen eines jahrhundertealten Systems aufzubrechen, das von einer mehrschichtigen Bürokratie bewacht wird. Aber es ist möglich. An der Hochschule Darmstadt etwa wurden verschiedene Initiativen erfolgreich in das System integriert. Sie bieten Studierenden, Wissenschaftern und Mitarbeitern gleichermaßen Möglichkeiten zur Achtsamkeitspraxis. Fazit: Der Weg zu einem achtsameren und mitfühlenderen Bildungsumfeld ist mitunter steinig, aber lohnend. Die Menschen, die sich dieser Herausforderung stellen, verkörpern oft genau die Eigenschaften, die sie in den Studierenden fördern wollen – Geduld, Hingabe und ein sanftmütiges, aber unerschütterliches Engagement für eine bessere Zukunft. Die Autorin ist Kognitionswissenschafterin und zertifizierte Yoga- und Meditationslehrerin. Von Manuela Tomic Herz und Stern MOZAIK Für meine Großmutter gab es nur zwei Männer in ihrem Leben: Josip Broz Tito und Johannes Paul II. An Tito mochte sie sein Charisma und dass er wisse, die Leute zu vereinen. Stolz erzählte sie uns, wie sie in den 60ern am Tag der Jugend mit ihrer Folkloregruppe im Belgrader Stadion vor Tito aufgetreten ist. Jedes Jahr kamen zehntausende Menschen am 25. Mai zusammen und sangen „Tito ist unsere Sonne, Tito ist unser Herz“. Auf dem Feld tummelten sich tanzende Körper, die mal ein Herz, mal einen Kommunistenstern auf dem Grund des Stadions formten. Mitten unter ihnen – meine Großmutter. Nach dem großen Fest, an dem auch Titos Geburtstag gefeiert wurde, ging sie nach Hause, schloss sich in ihr Zimmer ein, legte die Füße aufs Bett und betete. Die großen Messen sah sie sich gerne im Fernsehen an. Vor allem als wenige Jahre vor Titos Tod Papst Johannes Paul II., der „Papst der Herzen“, die Weltbühne betrat. Nach dem Krieg lag sie in ihrem Steinhäuschen in Bosnien auf dem Bettsofa eingewickelt in eine Decke wie eine Raupe, drehte den Ton laut und beobachtete zwischendurch die Nachbarn. Sie erzählte, wer gestern spät nach Hause gegangen war, wer zu viel getrunken hatte. Als Johannes Paul II. starb und sein Nachfolger Benedikt XVI. vor die Gläubigen trat, rief meine Großmutter entsetzt: „Der ist aber hässlich!“ Nach Rom hatte sie es nie geschafft. Vom Tanz im Belgrader Stadion erzählte sie hingegen oft. Wie sich später herausstellte, war Titos Geburtstag aber gar nicht am 25. Mai. Doch Großmutter, die Herz und Stern in sich vereinte, feierte an diesem Tag sich selbst. Der 25. Mai war ihr Geburtstag. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet.
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