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DIE FURCHE 02.11.2023

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DIE FURCHE · 44 10 Diskurs 2. November 2023 ERKLÄR MIR DEINE WELT Ich halte diese Katastrophen nicht mehr aus Den gesamten Briefwechsel zwischen Johanna Hirzberger und Hubert Gaisbauer können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Johanna Hirzberger ist Redakteurin von „Radio Radieschen“ und freie Mitarbeiterin von Ö1. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast Auf welcher Seite wird Ihnen denn diese Werbung eingeblendet? Und spielen Sie denn überhaupt Videospiele? Vielleicht ist das ein bisschen vorurteilsbehaftet von mir, aber ich hätte Sie jetzt nicht als Gamer eingeschätzt. Jetzt musste ich kurz auflachen. Ich stellte mir gerade vor, wie Sie in einem schwarzen Hoodie in einem blau beleuchteten Raum vor einem PC sitzen und World of Warcraft zocken. Echte Gameonik(inn)en raunzen jetzt sicher auf bei meiner Vorstellung von ihrem Sport. Meine Phantasie geht mit mir durch. Vielleicht liegt das an meiner Langeweile. Seit Tagen liege ich krank im Bett. Eigentlich ist es nur eine Erkältung, aber kaum bewege ich mich, bin ich gleich wieder müde und breche erschöpft auf der nächstgelegenen Liegefläche zusammen. Es sei mir also verziehen, falls mein heutiger Brief an Sie keine Glanzleistung ist. Bitte einfach nur Unterhaltung „ Momentan bin ich medial weitestgehend abstinent. Gleichzeitig flüstert etwas in mir, dass ich fun, fun, fun brauche. Wie bei Fast Food. Kennen Sie das? “ Momentan, also seit 24 Stunden, bin ich weitestgehend medial abstinent. Es fühlt sich falsch an (warum eigentlich?), aber ich kann gerade keine Nachrichten konsumieren. Oder genauer gesagt, ich halte all diese Katastrophen nicht aus. Deshalb schaue ich nur ein Mal am Tag die Nachrichten. Dass ich mich gerade nicht so gut abgrenzen kann, liegt sicher auch an meiner Kraftlosigkeit. Gleichzeitig flüstert etwas in mir, dass ich fun, fun, fun brauche, also zieht es mich zur Unterhaltung. Wie ausgeprägt mein Verlangen danach ist, habe ich an Tag eins meiner Erkältung bemerkt. Eine ganze Netflix Serie habe ich durchgebinged – und zusätzlich noch stundenweise Comedy-Podcasts gehört. Bis ich einschlief. Am nächsten Morgen fühlte ich mich leer. Komisch, ich sollte doch nach dem Konsum gesättigt sein. Es fühlte sich aber so an, wie wenn man hungrig in die Fast-Food-Kette seines Vertrauen geht, ein ganzes Menü verschlingt, sich so voll fühlt, dass man am Tisch abstützen muss, um vom Sessel aufzustehen – und kaum ist man zuhause, knurrt schon wieder der Magen. Kennen Sie das Phänomen? Aber zurück zum Thema: Medienkonsum, der einsam macht. Dazu ist mir ein Gedanke gekommen, den ich mit Ihnen teilen möchte. Für mich sind Laber-Podcasts und Serien eine gute Substitution für echte zwischenmenschliche Gesellschaft. Ich gerate dann in einen Rausch und will nicht, dass die „Begegnung“ endet. Es ist auch so viel einfacher, weil ich selbst nichts geben muss. Aber irgendwann ist der Akku leer oder die Serie zu Ende, und ich komme zurück in mein reales Umfeld. Das ist der Moment, in dem ich mich dann einsam fühle. Dann ärgere ich mich, dass ich meine Lebenszeit mit so einem Quatsch verschwende. Ich frage mich, ob Personen, die zum Beispiel unter einer Angststörung leiden, sich vielleicht auch gerne in fiktive Welten flüchten, um sich abzulenken oder Gesellschaft zu kompensieren. Und ich frage mich, wie es ihnen damit geht, wenn sie dann doch mit der Realität konfrontiert werden. Irgendwie sehe ich da einen Teufelskreis, aber vielleicht bin ich gerade auch nur wehleidig. Naja, vielleicht liest das ja gerade eine Hirnforscherin mit und kann die Mechanismen erklären, es würde mich interessieren. Lieber Herr Gaisbauer, ich muss mich jetzt wieder hinlegen. Haben Sie noch eine schöne Woche. Von Martin Tauss Schneekanonen sind für den Skitourismus nicht mehr In FURCHE Nr. 2 wegzudenken. Aber mit dem Klimawandel rücken die 3800 14. Jänner 2016 Schattenseiten des Kunstschnees in den Vordergrund. Vergangenen Samstag ist in Sölden der Alpinski-Weltcup gestartet. Zuvor hat es aber von Regierungsseite heftige Kritik gegeben: „Wir haben im Oktober die heißesten Oktober- Tage gehabt, die bisher gemessen wurden. Da ist es für mich unverständlich, warum man auf Biegen und Brechen an einem Skistart im Oktober festhalten muss“, sagte etwa Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne). Der Weltcup-Auftakt in Sölden sei für die gesamte Branche ein „riesengroßer Wirtschaftsmotor“, der „schon lange geplant“ sei, erwiderte Landesrat Mario Gerber (ÖVP). FURCHE-Wissen-Redakteur Martin Tauss hat sich die Entwicklungen rund um den fehlenden Schnee im Skitourismus schon 2016 angesehen. Skivergnügen mit Ablaufdatum Die Alpen zählen zu den sensibelsten Ökosystemen der Erde. Gerade hier hinterlässt der Klimawandel deutliche Spuren: Nicht nur die Gletscher und der Permafrost schmelzen; auch Wintersportgebiete unter 1500 Meter sind in den letzten Jahrzehnten immer weniger mit Schnee gesegnet. Sollte der Verlauf der Treibhausgasemissionen über die nächsten 20 Jahre weitgehend ungebremst sein, werden Skifahren und Snowboarden bis zu einer mittleren Höhe nur noch spärlich möglich sein. Bis zum Jahr 2050 könnte die Schneesicherheit aufgrund der globalen Erwärmung stark zurückgehen – von derzeit 90 Prozent der alpenländischen Skigebiete auf nur noch knapp die Hälfte. Und an den Anblick weißer Pistenbahnen, umrahmt von grünen Almwiesen und braun-matschigem Gelände, hat man sich schon jetzt zu gewöhnen. „Kunstschnee ist heute das einzige Mittel, das die Skiindustrie in Österreich noch am Laufen hält“, sagt der Ökologe Christian Newesely von der Universität Innsbruck. [...] Bei geringer Naturschneehöhe etwa schützt die Kunstschneedecke den Boden vor den Schäden durch Skikanten und Pistenpräparierung. „Wenn zu wenig Schnee da ist, greifen die Ketten der Schneefahrgeräte bis in den Erdboden hinein“, erläutert der Tiroler Ökologe: „Der Boden sieht dann aus, wie wenn man ein Netz von einem Rollbraten abgezogen hätte: aufgeschnitten in Streifen, in die das Schmelzwasser gut eindringen kann.“ Das bedeutet ein erhöhtes Erosionsrisiko, bleibt aber oft unbemerkt, da es dann auftritt, wenn die Skifahrer nicht mehr und die Wanderer noch nicht unterwegs sind. „Skifahren wird nur noch an wenigen Orten stattfinden, und es wird so teuer sein, dass dafür ohnehin nur eine kleine Zielgruppe in Betracht kommt“, glaubt der deutsche Alpenforscher Werner Bätzing. Im Hinblick auf die kurzen Wintertage plädiert er für die Kombination von Winterwanderungen mit einem abendlichen Wellness-Programm: „Das könnte ein wichtiges Kriterium für einen neuen Wintertourismus sein, der nicht auf Foto: APA / dpa / Angelika Warmuth große technische Infrastrukturen in der Landschaft angewiesen ist.“ [...] Der Ökologe Newesely sieht künftig vor allem die „explodierenden Kosten“ für den Kunstschnee: „Wir müssen uns überlegen, ob manche Gebiete weiter für den Skisport nutzbar sein sollen oder ob man über den Schatten springt und sagt: Sonnige Talabfahrten werden dann halt nicht mehr möglich sein.“ AUSGABEN DIGITALISIERT VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. 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DIE FURCHE · 44 2. November 2023 Diskurs 11 Das Ringen um Schwangerschaftsabbruch in Vorarlberg hat vorerst ein Ende. Einmal mehr offenbarte sich dieses Thema als Brandbeschleuniger für fundamentalistische Tendenzen. Ein Gastkommentar. Schutz des Lebens um jeden Preis? Neuerdings erfahren weit rechtsstehende oder nach rechts gerückte Positionen und parallel dazu restaurativ-fundamentalistische religiöse Kräfte neuen Aufwind – u. a. bei den sogenannten „Märschen für das Leben“ mit dem Hauptthema der Abtreibung. Auch gemäßigte katholische Kreise setzen offenbar auf dieses Pferd, als hätte es eine Akzeptanz der Fristenlösung nie gegeben. So hat in Vorarlberg auch der eher liberale Bischof Benno Elbs den Plan von ÖVP-Landesrätin Martina Rüscher, im Ländle eine offizielle Stelle für Schwangerschaftsabbrüche im Landeskrankenhaus Bregenz einzurichten, zu verhindern versucht. In Deutschland und Österreich finden diese Märsche auch unter Beteiligung politisch recht fragwürdiger Gruppen statt, die am rechten politischen oder konservativ-kirchlichen Rand zu verorten sind – etwa Leute, die auch schon bei Corona wüst gegen die medizinische Fachwelt und den Staat insgesamt demonstriert haben. In Deutschland ist neben religiösen Fundamentalisten auch die rechtsextreme AfD regelmäßig mit von der Partie. Über Europa hinaus sind es in den USA erzkonservative, Papst Franziskus feindlich gegenüberstehende Kardinäle sowie evangelikale Sektenführer, denen die Abtreibungsfrage genügt, um gegen den Demokraten Joe Biden und für den republikanischen Sexisten und Antidemokraten Donald Trump Stimmung zu machen. In Europa selbst wiederum hört man dazu auch antisemitismus-nahe Sprüche – so etwa gegen den Milliardär George Soros, der die Welt zum Abtreibungsparadies mache, ebenso wie Beschuldigungen der Fachgesellschaft „International Planned Parenthood Federation“ (IPPF), die – angeblich auch aus dunklen Quellen finanziert – für massenhafte Abtreibungen sorge. Das riecht sehr nach Verschwörungstheorie. Foto: Privat DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Josef Christian Aigner „ Den Erzkonservativen genügt die Abtreibungsfrage, um für den Sexisten und Antidemokraten Trump zu sein. “ zen distanzieren. Die Betonung der Sorge um in Not geratene Frauen wirkt zudem auch doppelbödig, wenn diesen zugleich mit Begriffen wie „Mord“ oder „Verstoß gegen die Menschenrechte“ recht undifferenziert massive Schuldgefühle gemacht werden. Oder wenn man zeitgleich gegen liberale Sexualerziehung in Schulen auftritt, obwohl diese nachweislich die Teenagerschwangerschafts- und -Abbruchraten senkt. Man muss ja nicht explizit für „die Abtreibung“ sein, kann dem Ganzen aber dennoch mit einem differenzierten Blick begegnen. Ich selbst fühle mich etwa als „Abtreibungsbedauerer“ und erinnere mich an einen wichtigen Universitätslehrer, der meinte, die Abtreibung sei „gewiss ein Übel“, aber in bestimmten Fällen „das geringere“. Ich erachte andererseits auch den Slogan „Mein Bauch gehört mir“ als zu kurz und zu individualistisch gedacht, wenngleich die Frau im Vergleich zum Mann unvergleichbar mehr betroffen ist. Es gibt aber auch in der Kirche einzelne Würdenträger, die eine verständnisvollere Haltung pflegen, so der deutsche Erzbischof Heiner Koch, der kein Befürworter ist, aber zugesteht, dass in einer Demokratie die eigenen Überzeugungen nie zu hundert Prozent eingelöst wür- Wo bleibt die Distanzierung? Was mich daran stört, ist nicht, dass solche Überzeugungen öffentlich bekundet werden (in einer Demokratie selbstverständlich), sondern dass sich christliche Kirchenzugehörige, die eigentlich nicht zu diesem politischen Spektrum zählen, nicht deutlich von diesen Tendenden – sodass man im Interesse der Mehrheit auch „schmerzhafte Kompromisse eingehen muss“. Koch hat sich übrigens als Beteiligter an diesen „Märschen“ (das Wort missfällt ihm) von AfD-TeilnehmerInnen distanziert. Geht doch! Einseitig biologistische Haltung Ethischen Bedenken zum Schwangerschaftsabbruch stehen aber auch anthropologische Überlegungen gegenüber: So haftet der Behauptung eines „vollwertigen Lebens“ ab der Zeugung durchaus eine einseitig biologistische Haltung an: Ist es nicht in anderen Fragen gerade die Kirche, die für eine ganzheitliche Sicht des Menschseins mit allem, was dazugehört, eintritt? Gehört zu diesem „vollwertigen“ Leben nicht auch dessen sichere Annahme, die Chance einer würdevollen Zukunft und die Verantwortung, die man übernehmen muss (oder eben nicht zu können meint)? Ist diese Sicht strikter Abtreibungs- oder gar schon Verhütungsgegner demnach nicht eine zu enge Auffassung von „Leben“? Und verschwinden durch diese Fixierung auf ein Leben vom ersten Augenblick an nicht andere Bedrohungen, etwa des geborenen Lebens, z. B. tausende täglich verhungernde Kinder weltweit u.a.m. – die allesamt bei den „Märschen für das Leben“ nicht annähernd die Aufgeregtheit erzielen wie der Schwangerschaftsabbruch? Mein Vater war ein oberösterreichischer Landarzt, der aus Gewissensgründen keine Abbrüche vornahm, obwohl er sich – wie er sagte – bei den reichen Bauern mit ihren häufig geschwängerten Frauen und Mägden in den 1970ern „eine goldene Nase verdienen“ hätte können. Aber weil er um die Not von verschiedenen Frauen (nicht allen), um die Sterbenden bei „Engelmacherinnen“, um das „Übel“, das Geborene unter solchen Vorzeichen oft erleiden müssen, wusste, begrüßte er die Fristenlösung unter Kreisky. Wäre nicht auch für Katholik(inn)en eine differenziertere Haltung dazu angemessen, wie sie schlussendlich auch Vorarlbergs Landeshauptmann Markus Wallner (ÖVP) einnahm, der Frauen in solchen Krisensituationen nicht im Regen stehen lassen will? Der Autor ist Psychoanalytiker und Bildungswissenschafter in Innsbruck. ZUGESPITZT Von der KI und den eigenen Ideen Der ÖVP-Staatssekretär für Digitalisierung, Florian Tursky, lässt mit einem Vorstoß aufhorchen: Zukünftig sollen alle Menschen in unserem Land transparent erfahren, wann sie mit Künstlicher Intelligenz (KI) interagieren. „Wie die Nährstoffangabe bei Lebensmitteln üblich ist, soll jede Österreicherin und jeder Österreich in Zukunft wissen, wann sie mit künstlicher Intelligenz interagieren“, sagt Tursky, der gleichzeitig „KI-Lösungen im Sinn einer digitalen Verantwortungsgesellschaft und europäischer Werte einsetzen will“. Klingt wie für den Einsatz in der Politik gemacht. Und das wirft Fragen auf: Wird durch die KI-Kennzeichnungspflicht unsere Politik am Ende gar transparent? Gibt es dann den Hashtag „#PoliticalIntellect: Hebe die Bedeutung der menschlichen Intelligenz in politischen Entscheidungsprozessen hervor“? Ich sehe schon die Schlagzeilen vor mir: „Gefährlicher TikTok-Trend: Natürliche Intelligenz in der politischen Debatte immer beliebter“, „So gefährlich ist selbstständiges Denken“ oder „KI wird immer öfter durch eigenständige Ideen ersetzt“. Nein, es wäre undenkbar, würde die Politik tatsächlich von einer natürlichen Intelligenz unterwandert. Immerhin gibt es für sie keine Kennzeichnungspflicht. Schade eigentlich. Von Victoria Schwendenwein NACHRUF Anti-Münchhausen, der sich nach oben irrte Am Friedhof von Alpbach liegt Physik-Nobelpreisträger Erwin Schrödinger begraben. Von Schrödingers Grab aus sieht man über der Friedhofsmauer den Böglerhof, in dem auch Hans Albert während seiner Alpbacher Sommerfrische, besser Denkerfrische, wohnte. Auf der anderen Seite der Friedhofsmauer beschreibt Alberts Philosophie. Sein Denken stand für Transparenz statt Transzendenz. So wie Schrödinger führte den deutschen Philosophen Albert das Europäische Forum Alpbach ins Tiroler Bergdorf – und ließ ihn zeit seines Lebens nicht mehr los. Vom heutigen Komfort eines Böglerhofs war 1955, als Albert das erste Mal zum Forum kam, keine Rede. Man wohnte in Bauernhäusern ohne fließendes Wasser, die Seminare fanden in Gaststuben statt, erinnerte sich Albert in einem FURCHE-Artikel an seine ersten Sommer in Alpbach: „Aber die Primitivität der äußeren Umstände wurde ausgeglichen durch eine Intensität des geistigen Austauschs, wie ich sie später nirgends mehr erlebt habe.“ Das soll was heißen, denn Alberts lebenslanges Philosophieren steht für lebenslanges Streiten um das bessere Argument, für Klarheit, Kritikfähigkeit und die Akzeptanz alternativer Denkansätze. Das Forum Alpbach war für ihn „das Paradebeispiel der Entfaltung einer offenen Gesellschaft im Sinne Karl Poppers, ein ‚freier Marktplatz der Ideen‘ und ein Experimentierfeld für das Popper‘sche Modell“. Albert lernte Popper in Alpbach kennen, sein Denken schätzen und wurde in seinem Gefolge zum Wortführer und Verteidiger des Kritischen Rationalismus. Der Rest ist Philosophiegeschichte: angefangen vom „Positivismusstreit“ in den 1960ern mit den Vertretern der Kritischen Theorie – Theodor W. Adorno (auch er Alpbach Gast) und Jürgen Habermas. Mit Zweiterem gerät Albert im „Historikerstreit“ noch einmal aneinander, wie auch mit anderen Philosophie-Größen wie Hans-Georg Gadamer oder Karl-Otto Apel. Ging es um die Theologie, schaffte es Albert, die Positionen von zwei so unterschiedlichen Polen wie Hans Küng und Benedikt XVI. gleichermaßen zu kritisieren. Berühmt wie umstritten ist Alberts „Münchhausen-Trilemma“: Mit menschlicher Vernunft können wir uns nie aus dem Sumpf der Fehlbarkeit in allen Bereichen der Erkenntnis herausziehen. Was der Mensch aber kann und als ethische Verpflichtung auch soll, ist, sich in offenen, vorurteilsfreien und realitätsbezogenen Diskussionen weiter zu denken, nach oben zu irren. Am 24. Oktober ist Hans Albert im 103. Lebensjahr gestorben. (Wolfgang Machreich) Foto: © Evelin Frerk / Giordano-Bruno-Stiftung Hans Albert am 14.8.2003: „Der Geist von Alpbach“, nachzulesen auf furche.at. Hans Albert verstarb am 24. Oktober im Alter von 102 Jahren. Der Philosoph war jahrzehntelang Spiritus rector des Forum Alpbach.

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