DIE FURCHE · 9 8 International 2. März 2023 Kampf der Diktatur Einst kämpfte Dora María Téllez als „Comandante Dos“ gegen Nicaraguas Diktator Anastasio Somoza, dann gegen Daniel Ortega. Am 9. Februar kam sie nach 605 Tagen Isolationshaft frei. Von Ralf Leonhard Die Stimme am Telefon klingt fest, die Aussagen kohärent und reflektiert. Niemand würde denken, dass Dora María Téllez gerade 605 Tage Isolationshaft in einer dunklen Zelle hinter sich hat. Am 9. Februar wurde sie gemeinsam mit weiteren 221 Gewissensgefangenen aus Nicaragua nach Washington ausgeflogen. Téllez war eine der beliebtesten Comandantes der Sandinistischen Revolution, die vor 40 Jahren das rückständige Agrarland Nicaragua modernisieren und demokratisieren wollte. Schon vor bald 45 Jahren wurde Dora María Téllez mit einer Gruppe politischer Gefangener ausgeflogen. Damals tobte ein Befreiungskrieg gegen die dynastische Diktatur der Somozas. Der Tyrann musste seine Gefangenen herausgeben, als im August 1978 ein Kommando von Guerilleros der Sandinistschen Befreiungsfront (FSLN) den Nationalpalast stürmte und die Parlamentsabgeordneten als Geiseln nahm. Unter den maskierten Rebellen fiel eine junge Frau auf, die sich „Comandante Dos“ nannte. Später erfuhr man, dass sich hinter dem Gesichtstuch die 22-jährige Medizinstudentin Dora María Téllez verbarg, trotz ihrer Jugend schon die Dritte in der militärischen Hierarchie der erfolgreichen Kommandoaktion. Gesundheitsministerin unter Ortega Ein Jahr nach der spektakulären Aktion, die die Diktatur erschütterte, regierte in Nicaragua eine revolutionäre Junta, angeführt vom 33-jährigen Daniel Ortega. Dora María Téllez interessierte sich nicht für militärische Aufgaben, fand vielmehr in der Koordination der international beachteten Alphabetisierungskampagne eine neue Aufgabe und wurde später zur Gesundheitsministerin ernannt. Die Revolution sollte nicht viel länger als zehn Jahre dauern. Unter dem militärischen Druck einer von den USA gesponserten Konterrevolution und dem wirtschaftlichen Druck aus Washington schlitterte Nicaragua in die Lesen Sie dazu von Ralf Leonhard auch die Analyse „Nicaragua: Die Willkür der einstigen Befreier“ (31.8.2022) auf furche.at. Einst galt Dora María Téllez in Nicaragua als Nationalheldin – dann wurde sie zur politischen Gefangenen. Nun, nach ihrer Freilassung, kämpft sie weiter für die Demokratie. Aus der Dunkelhaft Abhängigkeit der Sowjetunion und fand im Fall der Berliner Mauer ein Menetekel. International überwachte Wahlen brachten eine breite Oppositionskoalition an die Macht. Ortega musste die Regierung übergeben, verteidigte aber in der zur Partei gewandelten Guerillabewegung FSLN seinen Vorsitz. Bis heute. Kritiker seines autoritären Stils gründeten 1994 die sozialdemokratisch orientierte Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS). Unter ihnen der Schriftsteller Sergio Ramírez – und Dora María Téllez. Als Daniel Ortega 2007 dank erfolgreicher Intrigenspiele an die Macht zurückkehrte, begann er, andere Parteien systematisch auszuschalten und alle Staatsgewalten unter seine Kontrolle zu bringen. Der autoritäre Durchmarsch gipfelte vor zwei Jahren in einer Verhaftungsorgie, der alle Oppositionellen, die noch nicht ins Exil geflüchtet waren, zum Opfer fielen. Darunter auch Dora María Téllez, die zum zweiten Mal gegen eine Diktatur ankämpfte. Diesmal gewaltlos. „ Ich habe ihnen gesagt: Ihr könnt mich hier 15 oder 20 Jahre einsperren und ich werde immer noch der Meinung sein, dass Nicaragua eine Demokratie braucht. “ Die Schule der Guerilla war aber hilfreich, als sie psychologischer Folter in den Kerkern Daniel Ortegas ausgesetzt war. Man habe damals zwar keine Tipps für allfällige Haft bekommen: „Wir wurden aber auf die Verhöre vorbereitet“, erzählt Téllez. „Das war nützlich. Die ersten Monate wurden wir ja dreimal täglich zum Verhör aus der Zelle geholt: am Morgen, am Nachmittag und um Mitternacht. Da wollten sie Auskunft über bestimmte Personen, über die Kirche, über unsere Partei, über NGOs, die Medien, einzelne Journalisten, die Frauenbewegung, die Bauernbewegung.“ Sie sei absurde Dinge gefragt worden, etwa wie sie es geschafft habe, von bestimmten Medien interviewt zu werden. Die Häscher wollten wissen, „wie viele Kurse zur Ausbildung von Führungskräften ich gegeben habe. Sie waren überzeugt, dass aus diesen Kursen die Jugendlichen hervorgegangen sind, die den zivilen Aufstand 2018 angeführt haben.“ Im April 2018 war gegen das autoritäre Regime von Daniel Ortega eine zunächst friedliche Protestwelle losgebrochen, die schnell auf brutale Repression stieß. Über 300 Tote zählten die Demonstranten nach drei Monaten. Die meisten starben, wie Amnesty International belegte, durch gezielte Schüsse in Kopf, Hals oder Brust. Anführer gab es, anders als das Ortega-Regime glauben will, keine. Foto: APA / AFP / MIGUEL ALVAREZ Für Daniel Ortega, der sich vom einstigen Revolutionskommandanten zu einem paranoiden Diktator gewandelt hatte, handelte es sich um einen Putschversuch, orchestriert von den USA, der katholischen Kirche und politischen Kräften wie der MRS. Dora María Téllez galt immer noch als gefährlich. In einem Schauprozess wurde sie zu acht Jahren Haft verurteilt. „Das war sehr unterhaltsam“, erzählt sie. Die „Beweise“ waren drei Tweets, eigentlich Postings, die sie kommentarlos weitergeleitet habe. Das wichtigste bezog sich auf den Senat in Washington, der damals erwog, Nicaragua aus dem Freihandelsabkommen auszuschließen, wenn die Wahlen vom November 2021 nicht sauber wären. Es reichte für eine Verurteilung wegen „Schädigung der nationalen Souveränität“, einem eigens geschaffenen Gummiparagraphen. Vor dem Prozess hatte Téllez zwei Minuten Zeit, mit ihrer Anwältin zu sprechen, echte Möglichkeiten zur Verteidigung habe es keine gegeben: „Diese Prozesse waren wie ein politisches Erschießungskommando“, sagt sie. Nur nicht den Verstand verlieren! Das Schlimmste an der Dunkelhaft sei der Verlust des Zeitgefühls gewesen und die Unsicherheit, wie lange diese Tortur dauern würde: „Es war wie in einer Gruft.“ Mit eiserner Disziplin stand sie jeden Tag um 4 Uhr auf, machte eine Stunde Gymnastik und ging dann weitere zwei Stunden im Kreis, um weder den Verstand, noch die Muskelkraft zu verlieren: „In der Dunkelheit habe ich mir dabei das Knie und die Füße verletzt. Ich hatte ja keine Schuhe, nur Flip-Flops.“ Die Nachmittage hätten sich endlos gezogen: „Wir durften ja weder lesen noch schreiben, mit niemandem reden, keine Mitgefangenen sehen, keinen Sport betreiben, absolut nichts. Das Einzige was wir machen konnten, war essen, schlafen, die Notdurft verrichten und Bewegung machen.“ Die überraschende Freilassung sieht Téllez als Eingeständnis seiner Niederlage durch Daniel Ortega, weil kein einziger der politischen Gefangenen eingeknickt sei. „Bei den Verhören wurden wir immer wieder gefragt, ob wir nicht nachgedacht und unsere Meinung über die Regierung und die Regierungspartei geändert hätten. Uns wurden sogar Posten im Staatsapparat angeboten. Ich habe ihnen gesagt, ihr könnt mich hier 15 oder 20 Jahre einsperren und ich werde immer noch der Meinung sein, dass Nicaragua eine Demokratie braucht.“ Zur Strafe für ihren Starrsinn wurden die Gefangenen in die Verbannung geschickt und ihrer Staatsbürgerschaft entkleidet. Ihre Daten wurden aus den Archiven der Standesämter getilgt, als hätten sie nie existiert. Bischof Rolando Álvarez, der seit August im Hausarrest interniert war, verweigerte die Ausreise. Tags darauf folgte Ortegas Rache. Der Bischof von Matagalpa wurde zu 26 Jahren und vier Monaten Haft verurteilt und vom Hausarrest in eine finstere Zelle verlegt. Dora María Téllez erklärt sich diesen Hass auf die Kirche damit, dass mutige Priester die Letzten seien, die noch öffentlich Kritik am Regime übten. Zuletzt wurden sogar kirchliche Prozessionen und religiöse Feste verboten. In den letzten Jahren sind praktisch alle bekannten Regimekritiker ins Exil geflüchtet, über 4000 NGOs wurden aufgelöst. Wovon sie im Exil leben wird, weiß die 67-jährige studierte Historikerin noch nicht. Die Pension, die Téllez als ehemalige Staatsfunktionärin zustünde, wurde schon mit der Verhaftung vor bald zwei Jahren gestrichen.
DIE FURCHE · 9 2. März 2023 Religion 9 Die Wiedereröffnung der Uni Wien 1945 ist mit seinem Namen ebenso verbunden wie die Etablierung des Faches Judaistik und des christlich-jüdischen Dialogs. Am 4. März hätte Kurt Schubert den 100. Geburtstag gefeiert. Kurt Schubert Geb. 4.3.1923, 1945 promoviert in Altorientalistik, 1948 Habilitation, 1959 Lehrstuhl für Judaistik in Wien, 1993 Emeritierung, gestorben am 4.2.2007 in Wien. Judentum als Thema des Lebens Von Otto Friedrich Den Spitznamen „Moses“ holte sich Kurt Schubert Anfang der 1940er Jahre. Der Student der Altorientalistik, wegen Asthma vom Wehrdienst befreit, engagierte sich da in Wien in der konspirativen, aus dem Bund Neuland erwachsenen Studentengruppe rund um die Seelsorger Karl Strobl und Otto Mauer. Und weil er Hebräisch lernte und sich mit dem Judentum auseinandersetzte – und das mitten in der Schoa! –, verpassten ihm die Kommilitonen den Namen des biblischen Ur-Propheten. Vieles an der geistigen Landschaft des späteren Nachkriegsösterreich wurde in diesen Vorläufer der Katholischen Hochschulgemeinde grundgelegt – und dennoch musste der Student Kurt Schubert auch die Gleichgesinnten überzeugen. Im FURCHE-Gespräch erzählte er 2003: „Ich erinnere mich, dass ich 1943 einmal bei Karl Strobl saß und zu ihm sagte: ‚Herr Doktor, die Juden sind das erwählte Volk Gottes.‘ Da schüttelte er ein wenig den Kopf und meinte nach etwa einer Minute: ‚Dass der liebe Gott ausgerechnet die Juden erwählt hat ...‘“ Schubert gelang es auch, die Bibliothek des Wiener Rabbinerseminars vor der Vernichtung durch die Nazis zu retten. Er selber promovierte 1945 mit einer Dissertation in altorientalischer Philologie über den babylonischen König Hammurabi. Am 4. März jährt sich der Geburtstag von Kurt Schubert zum hundertsten Mal. Die Leidenschaft des Studenten wurde nach 1945 zur Profession. Wobei im April 1945, im Deutschen Reich tobte noch der Krieg, Kurt Schubert zu den „Neugründern“ der Universität Wien zählte, indem er von den Kommandanten der Roten Armee das Einverständnis erwirkte, mit Vorlesungen beginnen zu können. Nicht nur solche Pionierarbeit ist ihm zu verdanken, sondern auch die beim Aufbau seiner Wissenschaftsdisziplin: Denn Kurt Schubert ist ein Begründer der Judaistik als akademisches Fach. Enorme Widerstände Im FURCHE-Interview erzählte Schubert von den enormen Widerständen, die auf der Universität dagegen herrschten: „Es hieß, Judaistik sei kein eigenes Fach, keine Wissenschaft, ich solle auf der Altorientalistik bleiben ...: Wen interessiere das? Aber ich habe nicht nachgelassen und habe zwei „ Weil er Hebräisch lernte und sich mit dem Judentum auseinandersetzte – mitten in der Schoa! – bekam er den Spitznamen ‚Moses‘. “ große Helfer gehabt: den Akademikerseelsorger Otto Mauer und den damaligen Unterrichtsminister Heinrich Drimmel.“ Heute mutet es eigenartig an, dass eine Wissenschaft, die sich mit dem Judentum beschäftigt, auch nach der Schoa so schwer Foto: APA zu etablieren war. Aber man wird wohl nicht fehlgehen, dass der antisemitische Geist, der an Österreichs hohen Schulen nach 1945 noch lang nicht verschwunden war, auch für die Steine, welche die Universität Schubert in den Weg gelegt hat, verantwortlich war. 1948 habilitierte sich Schubert, der Lehrstuhl für Judaistik wurde 1959 eingerichtet, das Universitätsinstitut konnte dann 1966 gegründet werden. Bis zu seiner Emeritierung 1993 wurde es von Schubert geleitet. Kurt Schubert war auch der erste im deutschen Sprachraum, der GLAUBENSFRAGE Ja zur Religion? über die Funde von Qumran publizierte. Sein erster Artikel in der FURCHE dazu datiert vom 28. März 1953. Christlich-jüdisches Gespräch Lesen Sie auch das Interview mit Kurt Schubert in der FURCHE 13.3.2003, nachzulesen unter „Ausgerechnet die Juden“ auf furche.at. Die Pioniertaten, die Kurt Schubert zu verdanken sind, beziehen sich aber auch auf Entwicklungen in der katholischen Kirche. Der Beginn des christlich-jüdischen Gesprächs hierzulande ist untrennbar mit seinem Namen verbunden. 1956 gründete er den – heute noch aktiven – „Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit“. Auf der Wiener Diözesansynode 1969/71 gehörte Schubert federführend zu den Autoren einer heute noch beeindruckenden Absage an den christlichen Antijudaismus. Bis zu seinem Tod am 4. Februar 2007 mühte sich Schubert, in Österreich das Verständnis fürs Judentum zu wecken (1992 gründete er das Österreichische Jüdische Museum in Eisenstadt), die Jahrhunderte alte christliche Judenfeindschaft zu bekämpfen und ein Verständnis des Judentums als Wurzelreligion des Christentums zu etablieren. Für Schubert gehörte das Gespräch mit dem Judentum daher auch zur christlichen Ökumene: „Wir haben eine gemeinsame Heilige Schrift, wir haben gemeinsame Grundsatzvorstellungen, und unser zentrales Gebet, das Vaterunser, ist ein Gebet, das jeder Jude mitsprechen kann.“ Allerdings hat Kurt Schubert immer die unterschiedlichen Zugänge der beiden Religionen zum Gespräch betont. Das Bemühen um ein Verständnis des Judentums, das Kurt Schubert zeitlebens umgetrieben hat, wird auch in seinem letzten Beitrag für die FURCHE deutlich, der 25. April 2002 erschienen ist und der mit der Beobachtung endet: „Jüdische Existenz war gefährdet und blieb gefährdet, aber gerade durch die Gefährdung erweist sich ihre Stärke. Was die Antisemiten mit dem ‚Ewigen Juden‘ meinten, verstehen die Juden als ‚Am olam‘, als ewiges Volk bis hin zur messianischen Erfüllung.“ Am 28. März, 18 Uhr, feiert die Universität Wien den 100. Geburtstag von Kurt Schubert. Infos: judaistik.univie.at Nach dem Freitagsgebet in einer Moschee stand ein sichtlich aufgeregter Mann auf und bat die anwesenden Väter, ihre Kinder nicht mehr zum Freitagsgebet mitzunehmen: „Die Kinder haben während des Gebets laut miteinander geredet und haben uns dadurch vom Gebet abgelenkt, bitte bringt eure Kinder nicht mehr mit in die Moschee!“ Er reichte daraufhin dem Imam das Mikrofon: „Bitte verehrter Imam, sag ihnen, dass Kinder nichts beim Freitagsgebet verloren haben.“ Der Imam antwortete: „Schaut uns an, es sind kaum mehr Kinder oder Jugendliche, die in die Moschee kommen, und wenn, dann meist nur am Samstag, um mit anderen Kindern zu spielen, aber nicht, weil sie wirklich Interesse daran haben, etwas über ihre Religion zu lernen. Ich bin daher froh, wenn überhaupt Kinder mit ihren Vätern zum Freitagsgebet kommen. Mir ist es lieber, sie kommen und sind etwas laut, als dass sie überhaupt nicht in die Moschee kommen.“ Die empirische Forschung bestätigt diese Beobachtung des Imams. Religiöse Institutionen werden für Jugendliche immer weniger attraktiv. Auch im Theologiestudium beobachten wir ähnliche Entwicklungen. Wir beklagen sinkende Studierendenzahlen. Betroffen ist allerdings nicht nur die islamische Theologie, sondern auch die katholische und evangelische. Die Fragen „Wozu noch Religion? Wozu noch Theologie?“ drängen nach plausiblen Antworten. Sie fordern Muslime wie Christen heraus. Mir scheint, dass sich nur wenige dieser Herausforderung ernsthaft stellen. Ja, es gibt Erklärungen für das abnehmende Interesse an Religion. Was wir allerdings benötigen, sind Antworten auf die Frage: Was müssen Vertreter(innen) von Religionen tun, um die Potenziale in ihren Religionen für ein heute erfülltes Leben sichtbarer zu machen? Manche würden kritisch hinterfragen: Haben Religionen überhaupt Potenziale für ein erfülltes Leben? Diejenigen, die dies bejahen, sind herausgefordert, ihr „Ja“ plausibel darzulegen. Der Autor leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Uni Münster. Von Mouhanad Khorchide
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