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DIE FURCHE 02.03.2023

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DIE FURCHE · 9 4 Das Thema der Woche Uni im Ausverkauf? 2. März 2023 Von Jana Reininger Hinter den Scheiben des Busses ziehen trockene Felder vorbei, Pferde kauen Heu und aus den Schornsteinen der Fabrikgebäude steigen weiße Wolken empor. Es ruckelt im Bus und neben mir schläft ein Mann, sein Kopf ist in den Nacken gefallen. „Endstation Alberner Hafen“, spricht die Frauenstimme aus dem Lautsprecher und ich drücke den Knopf zum Aussteigen. Der Friedhof der Namenlosen liegt in einem kleinen Graben, umzäunt von einer Hecke, auf einem Fleck Wiese, zwischen einem weitläufigen Fabrikgelände und einem Industriehafen. Inmitten dieser weiten Betonlandschaft ist der Friedhof ein kleines, übriggebliebenes Stück natürlicher Lebensraum. Für dieses Stück Natur bin ich heute hier. „Biodiversität am Friedhof“, heißt das Citizen Science Projekt, das mich hergeführt hat. Der Begriff Citizen Science umfasst wissenschaftliche Projekte, die unter Mithilfe von Laien stattfinden. An sie werden Messungen und Beobachtungen ausgelagert, in einigen Fällen formulieren die Laien Forschungsfragen, werten Daten aus oder verfassen gar Publikationen. Der Begriff wurde Mitte der 1990er Jahre von zwei „Gerade als ich den Heimweg antreten möchte, entdecke ich hinten im Gestrüpp etwas Weißes. Die Pilze sind riesig, viel größer als meine Hände. “ Tiere, Pflanzen und Pilze sind Fundstücke, die für das Forschungsprojekt interessant sind. Citizen Science-Projekte laden die breite Bevölkerung in die Wissenschaft ein. DIE FURCHE hat am Projekt „Biodiversität am Friedhof“ der Universität Wien teilgenommen. Ein Selbstexperiment. Auf dem Boden geblieben Wissenschaftlern, unabhängig voneinander, geprägt. Einer davon ist der britische Soziologe Alan Irwin, der die Forschung gegenüber der breiten Bevölkerung öffnen und somit einen vermehrten Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ermöglichen wollte. Heute dient die Öffnung auch der Unterstützung von Forschungsteams, die zu wenig Mitarbeitende umfassen, wie Thomas Filek, der Leiter des Projektes, erzählt (siehe Interview rechts). Ich stelle gerade meinen Rucksack auf dem Friedhof ab, da grüßt mich eine Frau mit Hund. „Ich komme seit vielen Jahren her“, erzählt sie mir. „Der Ort berührt mich. Aber früher war es hier nicht so laut. Heute werden die Toten hier in ihrer Ruhe gestört.“ Sie deutet auf die gelben Container der Fabrik. Der Lärm des Betriebs wird immer wieder von unverständlichen Lautsprecherdurchsagen übertönt. Die Wiener Friedhöfe seien aufgrund ihrer Lage, Größe und Naturflächen ein vielfältiger Lebensraum, steht auf der Webseite des Forschungsprojekts, die ich vor meinem Aufbruch nochmals überflogen habe. „Wir sind an Tieren aller Art, aber auch an Pflanzen und Pilzen interessiert“, heißt es weiter. Fotos können per E-Mail oder über eine App eingeschickt werden. Suche nach Leben Also stapfe ich an diesem grauen Frühlingstag über den Friedhof. Um meine linke Schulter hängt der Gurt meiner Kamera. Ich betrachte kurz die Gräber mit den zierlichen Kreuzen und die Schilder, die an ihnen befestigt sind. Auf den meisten steht kein Name, weil die Begrabenen nach ihrem Tod in der Donau nie identifiziert wurden. Ein beunruhigender Gedanke. Ich drehe mich weg und beginne nach dem zu suchen, wofür ich hier bin: Pflanzen, Tiere, Pilze. Mit gesenktem Kopf gehe ich die Wiese ab, schaue vor allem zu den Rändern und in die Ecken der Hecken hinein. Ich sehe kleine Blätter und vereinzelte Knospen. Ich weiß nicht, welche Pflanzen interessant sind und zögere erst bei der Auswahl meiner Motive. Foto: Jana Reininger Dann beschließe ich, auf Nummer sicher zu gehen, und fotografiere einfach alles. Zwischen zwei Gräbern entdecke ich Schneeglöckchen. Ein Frühlingsbote, freue ich mich, und als ich mich hinunterbeuge entdecke ich einen Marienkäfer, der über die Erde krabbelt. Überall auf dem Friedhof wachsen vereinzelte Efeustränge und kleine Pflanzen, die Kleeblättern ähneln. Ich entdecke Moos, vertrocknete Eichenblätter und etwas, das aussieht, wie ein Mäuseloch. Über mir zwitschert ein Vogel, ich blicke nach oben. Er sitzt auf einem Ast, viele Meter über mir, erkennen kann ich ihn von hier aus nicht. Der Baum muss alt sein, er ist riesig. Die Bilder auf meiner Kamera mehren sich. Eine letzte Runde, sage ich mir, als ich beginne, den Friedhof am äußersten Rand abzugehen. Ich entdecke einen Komposthaufen, doch darin wächst nichts Bemerkenswertes. Ich nehme den Kameragurt von meiner Schulter und packe das Gerät in meinen Rucksack ein. Gerade, als ich den Heimweg antreten möchte, entdecke ich hinten im Gestrüpp etwas Weißes. Ich schiebe Äste beiseite und steige über Wurzeln, bleibe erst vor einem abgesägten Baumstamm stehen und dann vor einem zweiten. Die Pilze sind riesig, viel größer, als meine Hände. Ich staune und blicke durch den Sucher meiner Kamera. Der Auslöser klickt. Zuhause angekommen, sende ich die Bilder per E-Mail ein. Ich weiß nicht, welche Fotos für die Wissenschaftler(innen) interessant sind oder wie die Namen der Pflanzen und Pilze lauten, die ich an meinem Vormittag als Citizen Scientist gefunden habe. Die Entscheidung liegt nun bei den Forschenden. Eine Fotoreportage zu diesem Selbstexperiment finden Sie auf furche.at. „Gemeinsam Lebensraum von Natur und Mensch schützen“ Das Gespräch führte Jana Reininger Das mit dem Citizen Science Award ausgezeichnete Forschungsprojekt „Biodiversität am Friedhof“ der Universität Wien lädt Laien ein, mitzumachen. Ein Gespräch mit Projektleiter Thomas Filek über Qualitätssicherung und Forschungsöffnung als Maßnahme gegen Personalmangel. DIE FURCHE: Was ist das Ziel hinter dem Forschungsprojekt „Biodiversität am Friedhof“? Thomas Filek: Im Zuge der Biodiversitäts- und Klimakrisen richten wir den Blick oft in andere Regionen der Erde. Wir versuchen gemeinsam mit anderen Organisationen, die Regenwälder oder die Arktis zu schützen. Aber wir sollten den Fokus auch auf die heimische Umwelt richten. Vielen ist gar nicht bekannt, welche Vielfalt wir haben, wie gut Österreich geografisch und geologisch gelegen ist, welche Tier- und Pflanzenarten existieren. Die Stadt lebt und blüht voller Vielfalt. Um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, brauchen wir Datenbanken. Friedhöfe sind die besten Anlaufstellen, um zu prüfen, was in unseren Städten eigentlich existiert. Durch die kontinuierliche Dokumentation unseres Projektes, das seit 2021 läuft, können wir jetzt z. B. schon auf dem Zentralfriedhof vorhersagen, wann welche Pflanzen blühen und wann Waldohreulen auftauchen müssten. Dadurch sehen wir Veränderungen in der Biodiversität und dadurch wiederum auch im Klima. „ Im Zuge der Klimakrise richten wir den Blick oft in andere Regionen der Erde. Aber wir sollten den Fokus auch auf die heimische Umwelt richten. “ DIE FURCHE: Aber wofür setzen Sie Laien ein? Könnten Sie selbst vor Ort nicht viel besser bewerten, welche Beobachtungen relevant sind? Filek: Ganz einfach: Wir sind zu wenige, um gut 50 Friedhöfe in der Stadt Wien dokumentieren zu können. Je mehr Einträge wir bekommen, desto besser können wir die Datenbänke aufbauen und füllen. DIE FURCHE: Für Laien ist es aber oft schwierig, einzuschätzen, welche Fundstücke relevant sind und welche nicht. Was sollten Citizen Scientists denn einsenden? Filek: Wir sind dankbar über alle Spuren, Fotos, Knochen, Fellreste, Federspuren, Eierschalen und Pflanzenteile. Auch Bäume und Pilze sehen wir sehr gerne. Wenn Sie sich bei einer Beobachtung die Frage stellen, ob es wirklich notwendig ist, sie nun einzusenden, dann ist die Antwort eigentlich immer: Ja. Nächste Woche im Fokus: DIE FURCHE: Nun kann aber jeder alles einsenden, ohne wissenschaftliche Kriterien zu berücksichtigen. Wie sichern Sie die Qualität der Daten? Filek: Ein Kernteam an Studierenden im Masterstudium dokumentiert neben den Citizen Scientists ausgewählte Friedhöfe und kontrolliert alle Einsendungen. Von vielen Vögeln, Säugetieren und Pflanzen kennen wir mittlerweile die Biorhythmen, wodurch wir die Einsendungen schnell bestimmen können. Im Zweifel fragen wir bei den Citizen Scientists nach und helfen ihnen dann auch gerne bei der Bestimmung ihrer Funde, bevor wir sie in unsere Datenbank aufnehmen. DIE FURCHE: Die Datenerhebung Ihrer Forschung findet auf den Wiener Friedhöfen statt. Das stößt oftmals auf Erstaunen … Filek: Natürlich ist auf Friedhöfen auch immer das Thema Trauer und Ruhe präsent und das respektieren wir absolut. Wir platzen nicht in Bestattungen hinein und arbeiten gezielt mit den Friedhöfen zusammen. Gerade gibt es etwa eine neue Studie, welche Särge besser für Natur und Boden sind, als Holzsärge. Gemeinsam mit den Friedhöfen entwickeln wir nachhaltige Strategien, um den gemeinsamen Lebensraum von Mensch und Natur zu schützen. DIE FURCHE: Wie viele Laien haben sich denn bisher an Ihrem Projekt beteiligt? Filek: Über die letzten Jahre haben wir rund 1500 Einsendungen erhalten, vor allem auch von Schulklassen und Lehrpersonen. Viele der Citizen Scientists sind geblieben, arbeiten ehrenamtlich mit und unterstützen uns weiterhin. Weil das Projekt jetzt schon seit zwei Jahren läuft, können wir nun schon Langzeitstudien machen. Wir haben z. B. mitbekommen, dass auf Friedhöfen, auf denen viele Haussperlinge wohnen, weniger Stieglitze sind und umgekehrt. Das war bisher noch nicht bekannt. Jetzt untersuchen wir diese Erkenntnisse weiter: Verdrängt die eine Art die andere? Kann man beide Arten schützen und weiterleben lassen? Unsere neuen Forschungsfragen entwickeln wir oft basierend auf den Einsendungen der Citizen Scientists. Wer das Geheimnis des Gehirns lüften will, stößt auf Gesellschaft: Welche sozialen Folgen bei den Fortschritten in der Hirnforschung zu bedenken sind, beleuchtet das „Symposion Dürnstein“ von 23. bis 25. März. Über neue Menschenbilder zwischen Biopolitik, Neurotheologie und Künstlicher Intelligenz. Foto: Privat Thomas Filek forscht am Institut für Paläontologie und leitet das Citizen Science- Projekt „Biodiversität am Friedhof“.

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