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DIE FURCHE 02.03.2023

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DIE

DIE FURCHE · 9 24 Theater 2. März 2023 Von Christine Ehardt Brillante Dialoge in aszendierenden Eskalationsstufen sind das Erfolgsrezept von Yasmina Reza. Die französische Autorin mit iranisch-ungarischen Wurzeln versteht es meisterhaft, Beziehungskrisen satirisch und schonungslos offenzulegen. Reza gilt als eine der erfolgreichsten Theaterautorinnen der Welt und ihre Romane erreichen Millionenauflagen. Ihr jüngstes Werk „Serge“ steht dem in nichts nach. Es ist eine tragisch-komische Familiengeschichte mit autobiografischen Zügen, die sich jüdischen Identitätsfragen ebenso stellt wie familiären Zwistigkeiten und mit viel kritischer Nonchalance den Erinnerungskulturtourismus in Auschwitz thematisiert. Roadtrip Ein Todesfall in der Familie führt zu einem Familienausflug nach Auschwitz, der Serge (Michael Maertens) und seinen Geschwistern einiges abverlangt. Durchwachsen präsentiert sich die Theateradaption von Yasmina Rezas Roman „Serge“ im Akademietheater. Das Familiendrama bleibt mau. Laues Gewitter Schwierige Familienverhältnisse Ihr Roman erschien erst letztes Jahr, ein deutschsprachiges Hörbuch sowie ein Hörspiel wurden bereits realisiert, die erste Theaterfassung bringt nun das Akademietheater heraus. Lily Sykes und Andreas Karlaganis haben daraus ein dahinplätscherndes Well-made-play mit verworrenem Handlungsverlauf gemacht, dem Regisseurin Sykes noch eine surreal-traumhafte Note verpasst. In einem sterilen Wartezimmer mit karger Möblage sitzt Jean (Michael Maertens) und sinniert über schäbige Inneneinrichtungen, Badehosen aus Stoff und tote Tauben, bis die wunderbare Inge Maux als extravagante Zita Feifer mit dem Lied „ A Yiddishe Mame“ aus einer der zahlreichen Türen im Hintergrund tritt. Sie betrauert den Tod von Jeans Mutter, das Begräbnis ist Anlass für ein erstes Aufeinandertreffen der engsten Familienmitglieder: Jeans Bruder Serge (Roland Koch), ein in die Jahre gekommener Playboy und notorischer Ungustl, dessen Tochter Joséphine (Lilith Häßle) und die kleine Schwester der beiden ungleichen Brüder, Nana (Alexandra Henkel). Maertens leitet durch den Abend, überzeugend gibt er den distanzierten aber gutmütigen Einzelgänger mit Hang zur Depression. Seinen beiden Kollegen fällt das Einfühlen in ihre facettenarmen Charaktere weitaus „ Maertens leitet durch den Abend, überzeugend gibt er den distanzierten aber gutmütigen Einzelgänger mit Hang zur Depression. “ schwerer. Henkel agiert meist unscheinbar und kann erst gegen Ende ihre kraftvolle Seite zeigen. Auch Koch nimmt man den Grantler mit Herz lange Zeit nicht ab. Überzeugend hingegen Martin Schwab als Onkel Maurice und seine resolute Pflegekraft Paulette (Maux). Er im lila Morgenmantel mit Pelzmütze am Kopf und kuscheligen Schlapfen an den Füßen, sie im schicken rosa Kostüm mit Lockenmähne, necken und bevormunden sich die beiden aufs Vortrefflichste. Um dem trauernden Enkelkind einen Gefallen zu tun, machen sich die drei Geschwister auf den Foto: © Matthias Horn Weg nach Auschwitz und Birkenau. Auf der Bühne teilt sich dazu die hintere Kulisse in zwei Hälften und ein riesiges dunkles Tor entsteht (Bühne: Márton Ágh). Während Joséphine völlig in die Gräuel des Vernichtungslagers eintaucht, in dem viele ihrer Verwandten getötet wurden („Was ist euch lieber? Zuerst die französische Ausstellung oder die ungarische Ausstellung? Aber zuerst müssen wir sowieso das Gefängnis besichtigen, Block 11, der Todesblock.“) können Jean und Serge der „eventisierten“ Gedenkkultur nur wenig abgewinnen. Dem unterschiedlichen Umgang mit Entsetzen, Trauer und Traumata folgt ein gewaltiges Beziehungsgewitter zwischen Nana und Serge, das mit Blitz- und Donnerklängen über dem Theaterplafond endet. Bevor die Geschichte in Fluss geraten kann und die Familie sich auf ihren problematischen Roadtrip begibt, ist der Schwung aber bereits aus dem Abend gewichen. Viel zu viele Zeit- und Erinnerungssprünge lassen den Handlungsfaden verloren gehen und auch die eskalierenden Dialogkaskaden, die in Rezas Theaterstücken zu den Glanzpunkten zählen, wollen nicht so recht zünden. Hier bleiben die Wortgefechte meist oberflächlich und ziellos. An die Scharfzüngigkeit des Romans kommt die Inszenierung nicht heran. Befremdlich auch die Sounds von Ventilatoren und Geräusche aus Radio- und Fernsehlautsprechern, die immer einen Tick zu laut sind, um den Dialogen akustisch folgen zu können. Traumhaft surreal Wirklich gelungen sind hingegen einige der surreal-traumhaften Zwischenepisoden, die dank des durchdachten Raumkonzepts atmosphärisch noch verstärkt werden. Durch Heraustreten aus den jeweiligen Türen entstehen immer wieder neue Erinnerungen an vergangene (Kindheits-)Erlebnisse, wie dem Besuch in Israel mit dem lebenslustigen Maurice. Am Ende führt Serges Spitalsaufenthalt die Geschwister wieder zueinander („Letztes Mal waren wir in Auschwitz zusammen und jetzt im Spital. Wir könnten uns wirklich mal was Lustigeres vornehmen“). Zumindest etwas kraftvoller hätte diese langatmige Familientragikomödie verlaufen dürfen, schwacher Premierenapplaus für eine schwächelnde Uraufführung. Serge Akademietheater, 3., 16., 23.3. LANDESTHEATER SALZBURG Phantastisches aus einem Schuhkarton Von Franz Mayrhofer Junge gerät beim Lesen einer Geschichte buchstäblich in „Ein die Geschichte hinein und findet nur schwer wieder heraus.“ Diesen Satz hatte der deutsche Autor Michael Ende auf einem Schmierzettel notiert und zog ihn 1977 aus einem Schuhkarton heraus, um mit seinem Verleger ein neues Buch zu besprechen. Dies war der Ursprung des weltweiten Erfolgs des Märchenromans „Die unendliche Geschichte“. Es folgten Adaptionen vom Hörspiel bis zum Film. John von Düffels Bühnenfassung, die einzige von den Erben Endes autorisierte, hatte nun am Landestheater Salzburg als österreichische Erstaufführung Premiere; mit den Möglichkeiten der neuen Bühnentechnik im renovierten Haus ein kleines Feuerwerk der Phantasie, wie es sich der Regisseur und Hausherr Carl Philip von Maldeghem nur wünschen konnte. Die Erzählung ist bekannt, im Theater gerät Bastian Balthasar Bux auf der Flucht vor seinen Mitschülern auf eine verlassene Theaterbühne, wo ein Souffleur (Georg Clementi) ein altes Regiebuch hütet. Die Neugier des Buben siegt, die Geschichte wird nun vor seinen und des Publikums Augen lebendig. Aaron Röll gibt den Bastian, zu dem sich im Reich Phantásien bald Freunde gesellen. Phantásien ist in Gefahr, weil die Kindliche Kaiserin (Lisa Fertner) krank ist, das Nichts droht das Land zu verschlingen. Der junge Atréju (Leyla Bischoff) wird von ihr mit ihrem Zeichen „Auryn“ ausgestattet, damit er sich auf die Suche nach einem Heilmittel begeben kann. Ihm zur Seite steht der Glücksdrache Fuchur (Martin Trippensee), aber ihre Suche ist vergeblich. Bastian wird nun selbst Teil Phantásiens und muss der Kaiserin einen neuen Namen geben. Durch seine Vorstellungskraft kann er eine neue Welt entstehen lassen und mit „Auryn“ kann er alles tun, was er will. Foto: Anna-Maria Löffelberger Gelungene Theateradaption: Leyla Bischoff (Atréju), Martin Trippensee (Fuchur) und Aaron Röll (Bastian) in „Die unendliche Geschichte“ im Salzburger Landestheater. Deshalb will er auch nicht mehr in seine Welt zurückkehren. Was er nicht weiß, ist, dass er mit jedem an das Amulett geäußerten Wunsch Erinnerung an sein Leben in der Menschenwelt verliert. Irrungen und Wirrungen gibt es genug, auch mit einem Werwolf (Maximilian Paier), Bastian fällt auf die Zauberin Xayide (Nicola Kripylo) herein, aber wie es im Märchen sein muss: Alles wird wieder gut. Man könnte noch philosophieren über das Innen und das Außen, die nicht ohne einander existieren können, über die Wirkkraft der Phantasie usw. Was bleibt, ist ein gelungener Theaterabend, der zum Nachdenken anregt. Denn Ende hat „für das Kind im Erwachsenen“ geschrieben. Das Ensemble hat das Regiekonzept exakt ausgeführt, der Applaus belohnte auch Bühne, Kostüme und Videos (Christian Floeren) sowie Musik (Katrin Schweiger). Die unendliche Geschichte Salzburger Landestheater, 3., 5., 7., 11., 29.3.

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