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DIE FURCHE 02.03.2023

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DIE FURCHE · 9 18 Literatur 2. März 2023 Von Georg Dox Péter Nádas gilt neben Imre Kertész und Péter Esterházy als einer der meist beachteten Autoren des heutigen Ungarn. Vergangenen Oktober feierte er seinen 80. Geburtstag. Der Rowohlt Verlag hat zwei neue Bücher des Autors auf Deutsch veröffentlicht. Eines davon ist der schmale Essayband „Schreiben als Beruf“. Er enthält drei Texte, die sich mit seinem Verhältnis zu Péter Esterházy befassen, mit seinem erlernten Beruf, der Fotografie, und schließlich mit seinem literarischen Schaffen. In dem zweiten Buch, dem voluminösen Roman „Schauergeschichten“, versetzt uns Nádas zurück in das Ungarn der 1960er Jahre, und man kann sagen, der Roman trägt den Titel zurecht. Er spielt in ländlicher Gegend, die von „einfachen Leuten“ bewohnt wird. Sie arbeiten in der kollektiven Landwirtschaft, bestellen die Felder, versorgen die Weinberge und wissen natürlich immer noch sehr genau, wem einmal was gehört hat. Von den neuen Verhältnissen fühlen sie sich übervorteilt, das macht sie missgünstig und gelegentlich rabiat. Das, was einmal Sommerfrische hieß, verbindet dieses ländliche mit dem städtischen Milieu, im Roman vertreten durch Damen der besseren Gesellschaft, die, inzwischen praktisch mittellos, versuchen, ihren gewohnten Rhythmus zwischen Opernbesuchen und Sommerfrische weiter aufrecht zu erhalten. Im Sog eines mächtigen Erzählstroms Dutzende Gestalten aus dem Dorf haben ihren Auftritt. Der Geistliche, der rumänische Arzt, die Bauersleute und Hirten: Es ist ein Panoptikum grotesker Figuren. Die alte, ins Dorf zurückgekehrte Teres – sie hat in Budapest als Haushaltsgehilfin das Leben dieser „besseren Leute“ kennengelernt – kann als Hauptfigur gelten. Sie wird als selbstbezogen und verbittert charakterisiert, und doch spürt man bei ihr eine verzweifelte Stärke, einen unbedingten Überlebenswillen und Originalität, Züge also, die dem Leser schließlich so etwas wie Bewunderung abnötigen. Die Handlung, die auf einen (unkonventionell interpretierten) Liebestod hinsteuert, ist für Péter Nádas allerdings nicht mehr als eine Vorlage für seine komplexen poetischen Absichten. Wir folgen den Gedanken der einzelnen Protagonisten, wir lesen, was sie denken und hören, was sie sagen. Die Übergänge erfolgen scheint’s bruchlos, keine Einteilung in Kapitel erleichtert den Überblick, Absätze, die Halt böten, fehlen. So werden Leser und Leserin einem mächtigen Erzählstrom ausgeliefert, der offenbar nichts weniger als Totalität im Sinn hat. Das ist virtuos gemacht und bewundernswert, und erinnert in seiner Dimension ein wenig an die Rundgemälde des 19. Jahrhunderts, vor denen sich der Betrachter in Péter Nádas Im kommunistischen Ungarn hatte der 1942 geborene Literat mit Repressionen zu kämpfen. Seit Jahren wird er als Anwärter für den Literaturnobelpreis gehandelt. Der Roman „Schauergeschichten“ trägt seinen Titel zurecht und in seinem Band „Schreiben als Beruf“ zeigt der ungarische Autor Péter Nádas, was ein Essay leisten kann. Der Blick des Außenseiters Landschaften mit anekdotisch gestalteten Figurengruppen verlieren kann. Wie er es schon in seinem Hauptwerk, dem Roman „Parallelgeschichten“, bewiesen hat, ist Péter Nádas ein bürgerlicher Schriftsteller in einer nicht bürgerlichen Welt. Im kommunistischen Ungarn „ Wie er es schon in seinem Hauptwerk, dem Roman ‚Parallelgeschichten‘, bewiesen hat, ist Péter Nádas ein bürgerlicher Schriftsteller in einer nicht bürgerlichen Welt. “ hat ihm das, ohne dass dies erklärt oder begründet wurde, die Veröffentlichung seiner literarischen Arbeiten unmöglich gemacht. Aber auch wenn Nádas heute gedruckt und gelesen wird, vielleicht will er uns mit dem Sittenbild aus dem Jahre 1967 zu verstehen geben: Schon unter János Kádár haben die einfachen Leute so gedacht und geredet, wie heute in Ungarn Politik gemacht wird. Dann hätte das Buch auch eine aktuelle Pointe. Allerdings, die „Schauergeschichten“, so wie sie sich dem deutschsprachigen Leser darbieten, haben ein gravierendes Problem Foto: picturedesk.com / dpa / Carsten Koall und dieses Problem betrifft nicht den Autor selbst. Wie sich die Sache im ungarischen Original verhält, kann bei der deutschen Übersetzung keine Rolle spielen. Aber das Hochdeutsch des vorliegenden Textes, überreich versetzt mit den gröbsten Vulgarismen, vermittelt, vor allem auf den ersten Seiten keineswegs die Atmosphäre herber Bukolik (was vom Autor wahrscheinlich intendiert war), sondern erzeugt nichts als Verdruss und auch ein gewisses Unverständnis: So redet und denkt heute niemand, so redete und dachte man auch in den sechziger Jahren nicht. Unabhängig von Ort, Alter, Geschlecht und Herkunft. Hommage an einen Freund Es geht hier nicht um den Seelenfrieden zartbesaiteter Leser und Leserinnen, auch nicht um Etepetete. Eher darum, zu beklagen, dass für Nádas’ literarisches Monumentalgemälde kein adäquates Idiom gefunden wurde. In einem Gespräch mit der Zeit-Redakteurin Iris Radisch, der die „herbe Fäkal- und Genitalsprache“ ebenfalls übel aufgestoßen ist, meinte Nádas: Diese Volkssprache sei „im Ungarischen durchaus vital, schön und sinnlich und voller Widerstandselan gegen das Regime“. Für das Deutsch der Übersetzung von Heinrich Eisterer lässt sich das leider nicht behaupten. Völlig uneingeschränkt kann man hingegen das schmale Bändchen „Schreiben als Beruf“ empfehlen. Die hier abgedruckte Hommage an den verstorbenen Kollegen und Freund Péter Esterházy ist geradezu ein Musterbeispiel dafür, was ein Essay leisten kann. Geistreich zu sein, ist keine Schande. Das Quartett Péter Esterházy – Péter Nádas, Nikolaus Fürst Esterházy – Joseph Haydn bietet eine Spielvorlage, mit der Nádas die Allüren seines Freundes auf das Sympathischste unterläuft. Der Text berührt als Zeugnis einer Künstlerfreundschaft, die durch die Außenseiterstellung der beiden Autoren nur noch gefestigt wurde. Schauergeschichten Roman von Péter Nádas, Aus dem Ungarischen v. Heinrich Eisterer Rowohlt 2022 576 S., geb., € 30,90 Schreiben als Beruf Essays von Péter Nádas Aus dem Ungarischen v. Christina Viragh u. Heinrich Eisterer Rowohlt 2022 96 S., geb., € 18,50 LEKTORIX DES MONATS Gleiches Recht für alle? Buchpreis von FURCHE, Stube und Institut für Jugendliteratur Der erste Schritt Von Pija Lindenbaum, Aus dem Schwedischen von Jana Hemer Klett Kinderbuch 2023 48 S., geb., € 18,50 Von Verena Weigl Die renommierte schwedische Bilderbuchkünstlerin Pija Lindenbaum legt ein humorvolles und anregendes Buch vor, das große Fragen berührt, die uns alle von klein auf beschäftigen: Wer darf was entscheiden? Was ist gerecht? Und sie stellt darin erneut den „gesunden Menschenverstand“ von Kindern in den Vordergrund. In einer abgelegenen Siedlung umgeben von hohen Bergen und tiefen Wäldern wohnt eine große Schar Kinder. Vor einer farbprächtig gestalteten Alpinlandschaft wird gespielt und herumgelaufen – es herrscht vermeintliche Harmonie innerhalb des weitläufigen, aber durch einen Kreis begrenzten Areals. Tonangebend in diesem Gefüge ist eine kontrollsüchtige und ordnungsliebende Internatsleiterin, die aussieht wie eine Hündin und „Schäfin“ genannt wird. Jeden Mittwoch verpasst sie allen dieselbe Topffrisur („so muss sich niemand entscheiden“) – und doch werden nicht alle von ihr gleich behandelt. Denn während die Kinder der „Ringelblumen“-Gruppe Bilder malen oder Trampolin springen dürfen, müssen sich die „Primeln“ um den Abwasch kümmern oder Steine schleppen. „Das ist doch ungerecht“, konfrontiert die kindliche Erzählstimme (eine privilegierte „Ringelblume“) eines Tages die „Schäfin“. Die lapidare Antwort der Internatsleiterin: „Ich mag es, wenn es ungerecht ist.“ Was also tun? Gemeinsam unterwandern die Kinder das strikte Regime: Sie tauschen ihre Kutten und verstecken den Haarschneidetopf. Und so kehren nach und nach immer mehr Individualität und Zweifel an der Obrigkeit in die Kommune ein … Illustration: Pija Lindenbaum Unbeschwert und tiefgründig zugleich, in bewundernswert einfacher Sprache erzählt Lindenbaum eine Geschichte, die ein weites Feld an Deutungen aufmacht: So kann das Ganze als Anlehnung an eine Machtdemonstration am Spielplatz gesehen werden, in der ein großes Kind sich als Bestimmer aufspielt, bis alle anderen am Ende das Weite suchen. Aber genauso ist eine gesellschaftspolitische Deutung möglich: von der Beschreibung einer Diktatur über die Verführungskraft von Sekten, stille Rebellion bis hin zur Ungerechtigkeit der gesamten Weltordnung oder Bevorzugung durch Geburtsprivilegien. Potenzial für weiterführende philosophische Gespräche ist jedenfalls vorhanden. Am Ende bedarf es einer mutigen Grenzüberschreitung, um die Welt zum hoffentlich Guten zu verändern.

DIE FURCHE · 9 2. März 2023 Literatur 19 Die US-Schriftstellerin Honorée Fanonne Jeffers legt mit „Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois“ ein fulminantes Romandebüt vor. Eingebettet in eine bewegende Familiengeschichte, schildert sie mitreißend und vielschichtig die Geschichte der Schwarzen in Amerika. Amerikanisches Erbe Von Rainer Moritz Es gibt Bücher, deren Bedeutung sich nach wenigen Seiten erschließt, Bücher, die man nach vielen packenden Lektürestunden beiseitelegt, im Wissen, eine (Lese-)Erfahrung gemacht zu haben, wie sie einem nur alle paar Jahre begegnet. Die 1967 geborene Honorée Fanonne Jeffers hat ein solches Buch geschrieben, einen wahrhaft epochalen, fast tausend Seiten umfassenden Roman, der hilft, die amerikanische Geschichte besser zu verstehen und sie vor allem in neuer, in schwarzer und in weiblicher Perspektive zu sehen. Jeffers, die an der Universität von Oklahoma Kreatives Schreiben lehrt, ist als Lyrikerin bekannt geworden. Mit „Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois“ legt sie nun – was kaum zu glauben ist – ihren Debütroman vor, für den sie jahrelange Recherchen betrieb. Gewiss, man kennt die Romane Toni Morrisons oder Alice Walkers, und es ließen sich ohne längeres Nachdenken etliche Werke nennen, die sich nicht darauf beschränken, klassische „weiße“ amerikanische Familiengeschichten auszubreiten, sondern versuchen, schwarzes Alltagsleben schonungslos zu schildern. Colson Whitehead zum Beispiel hat in den letzten Jahren Romane dazu veröffentlicht. Familienepos auf höchstem Niveau Jeffers’ Roman entfaltet zwei auf den ersten Blick weit auseinanderliegende Erzählstränge, die am Ende raffiniert zusammengeführt werden. Mit der Protagonistin Ailey Pearl Garfield tauchen wir anfangs in die 1970er und 1980er Jahre ein. Sie wächst als junges Mädchen mit ihren Schwestern im Norden der USA auf, verbringt die Sommer in einem fiktiven Landstädtchen in Georgia, wo aus den ehemaligen Plantagen Farmen geworden sind und wo der Rassismus nicht nur unter der Oberfläche das Leben weiter beherrscht. Nach und nach begreift Ailey, wie sehr ihr Leben von dieser „schwarzen“ Vergangenheit beeinflusst ist, und als es darum geht, ein Studium zu ergreifen, entschließt sie sich – auf den Spuren ihres Großonkels Root –, Historikerin zu werden, um in den Archiven Erklärungen für das zu finden, was sie dauerhaft prägt. Der Roman bringt alles mit, was zu einem mustergültigen, gut geplotteten Familienepos gehört, und er hat gleichzeitig viel mehr zu bieten. Denn erzählt wird einerseits davon, wie Ailey ihre Ziele – unter anderem am vorwiegend von schwarzen Studierenden besuchten Routledge College – verfolgt, und andererseits vom latenten Rassismus, der so allgegenwärtig ist, dass die Schwarzen unbewusst die verächtliche Sicht der Weißen übernehmen und ungewollt in deren Kategorien denken. Da entsteht quasi ein Wettstreit darüber, wessen Haut dunkler ist, und da wird erbarmungslos auf die herabgesehen, die ihr „Schwarzsein“ nicht verleugnen und die Gebräuche der Südstaaten in den Norden tragen. Der Roman belässt es nicht dabei, das vielschichtige Leben von Ailey und ihrer faszinierenden Familie mit all ihren Geheimnissen und Abgründen über viele Jah- re zu verfolgen. Er versenkt sich – im zweiten, stilistisch deutlich unterschiedlichen Strang – in die bis ins 18. Jahrhundert reichende Vorgeschichte, als der Genozid an den Ureinwohnern begangen wurde und die Kolonisatoren aus Westafrika Sklaven nach Amerika brachten. Schritt für Schritt öffnet sich somit der Blick, versteht man, wie weit die Wurzeln jener Schwarzen reichen, die unter den Präsidentschaften der Reagans, Bushs und Clintons aufwachsen. Honorée F. Jeffers Foto: © Sydney A. Foster / Piper Verlag Nach fünf Lyrikbänden schuf die Autorin (*1967) mit ihrem ersten Roman ein imposantes, aufklärerisches Werk. „ Es wird wohl eine Weile dauern, bis man auch im deutschsprachigen Raum begreifen wird, was Honorée Fanonne Jeffers mit ihren ‚Liebesliedern‘ geglückt ist. “ Unterbrochen wird diese abwechselnd in Aileys Gegenwart und in der Vergangenheit ihrer Vorfahren angesiedelte Handlung durch – das erklärt den merkwürdigen Romantitel – Zitate aus den Werken des wirkmächtigen schwarzen Bürgerrechtlers, Historikers und Soziologen W.E.B. Du Bois (1868–1963). Dessen Schriften, die ihm, so die Redakteurin Veronica Chambers, den Ruf eines „elder statesman“ des afroamerikanischen Lebens einbrachten, dienen als Folie und als Reibungspunkt dessen, was virtuos an Erzählstoff ausgebreitet wird. 1903 veröffentlichte Du Bois, der, als Aileys Onkel Root ihm persönlich begegnet, zur Romannebenfigur wird, seinen so einflussreichen wie umstrittenen Essay „The Talented Tenth“, der davon ausging, dass von einer schwarzen Elite die entscheidenden Impulse für einen gesellschaftlichen Wandel auszugehen hätten. Ailey Garfield gehört zu diesem Zehntel und trägt Du Bois’ Gedanken in eine neue Zeit. Roman der Sprachvielfalt „Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois“ ist ein Roman, der seinen Übersetzerinnen Maria Hummitzsch und Gesine Schröder alles abverlangt hat. Denn sie mussten, wie sie in ihrem informativen Nachwort festhalten, Lösungen dafür finden, dass Jeffers zwischen Standardenglisch und dem fälschlicherweise für einen fehlerhaften Soziolekt gehaltenen African American Vernacular English hin und her wechselt. Dafür finden die Übersetzerinnen oft überzeugende deutsche Entsprechungen und spiegeln so annähernd, was dieser Roman im Original an Sprachvielfalt zu bieten hat. Es wird wohl eine Weile dauern, bis man auch im deutschsprachigen Raum begreifen wird, was Honorée Fanonne Jeffers mit ihren „Liebesliedern“ geglückt ist: ein imposantes, aufklärerisches Werk und ein bewegender, gut erzählter Roman. Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois Roman von Honorée Fanonne Jeffers Aus dem Engl. von M. Hummitzsch u. G. Schröder Piper 2022 982 S., geb, € 28,80 GEWALT Von Mundfeigen und anderen Verletzungen Von Maria Renhardt Tiefe Schnitte im gräulichen Karton, aus denen Hände dringen, und darüber der Titel in einem hellen Rot. Das Cover unterstreicht sehr eindringlich das aktuelle Thema „Übergriff“. Ursula Krechels gleichnamige Erzählung aus dem Jahr 2001 wurde jüngst neu bearbeitet und im Jung und Jung Verlag wieder aufgelegt. Obgleich sich seit damals bereits einiges getan hat, ist erschreckend, dass der Text auch heute noch nichts von seiner Brisanz eingebüßt hat. Da ist eine Stimme, die sich immer wieder „mit überlegener Klarheit“ erhebt und die namenlose Ich-Erzählerin mit den Worten „Halt‘s Maul!“ rüde zum Schweigen auffordert. Die stimmliche Belästigung fühlt sich wie eine Ohrfeige an und ist sofort zur Stelle, wenn sie den Mund aufmacht, um zur Widerrede anzusetzen. Der weibliche Mund hat schließlich völlig andere Funktionen wie Essen, Küssen oder Staunen. Als Grund für die Präsenz dieser inneren Stimme, die sie schwächt und lähmt, sieht die Ich-Erzählerin „Feigheit (Ohrfeige, Mundfeige sind vage Hinweise auf den Wortgebrauch)“, Ohnmacht oder „Willigkeit“. Die Protagonistin hat ihre Arbeit verloren. Auf einer Schiffsreise lernt sie einen Mann kennen, dem sie nach „einer kleinen Schamfrist“ in sein Heim folgt. Mit diesem Visitenkartenbesitzer diffundiert plötzlich auch Gas in ihr Leben. Denn er verhandelt in Moskau mit Gazprom, kämpft auf dem Markt um Anteile und kauft günstig ein. Gerade wird der gesamte Gasmarkt neu strukturiert. Abends bittet er die Ich-Erzählerin gerne mit einem ganz eigenen „flehentlichen Blick“, ihn mit ihrer Sil- berhalskette zu schlagen: „Der Schmerz, den er fühlte, war ein Garant [für ihre] Beschämung“ und bringt sie zum Weinen. Ihre Einschüchterung kanalisiert sich „unter Einfluss dieser Stimme“ im Schreiben. Krechel untersucht in ihrer Erzählung mit psychologischer Raffinesse mannigfaltige Dimensionen und Modalitäten von Gewalt auf der Metaebene. Und diese gibt es zuhauf. Zur Sprache kommen Mannwerdungsrituale in Form des Knabenpeitschens, ein getupftes Kleid im Kasten mit den Blutflecken einer Vorgängerin, Verletzungen, „Vernichtungsenergie“, Terror und Krieg oder die Demütigung der Nachbarmädchen, die vom Vater jeden Samstag geschlagen werden, während alle im Umfeld schweigen. Die Protagonistin duldet eine reglementierende Stimme, um sich dem Übergriff zu entziehen. Zugleich aber entlarvt Krechel mit einer sprachkritischen Annäherung an das Thema tradierte, bis heute sichtbare Prägungen in einem fein nuancierten Subtext. Im Nachwort betont Antje Rávik Strubel die Aktualität und Hellsichtigkeit dieser Erzählung mit dem Verweis auf den Konnex „zwischen der Ausbeutung fossiler Energien und der Sicherung autokratischer und diktatorischer Herrschaft“. Eine Möglichkeit sei die „Achse der Achtsamkeit“, die hier auch Bedeutung in der „Stille“ erlangt. Ursula Krechel setzt dem Übergriff den sublimierten Widerspruch entgegen und sieht eine Option im bewussten Raumgeben. Die „Beweglichkeit im Zuund Hinhören“ macht es möglich, der Stimme standzuhalten. Der Übergriff Erzählung von Ursula Krechel Bearbeitete Neuausgabe Jung und Jung 2022 192 S., geb., € 21,–

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