DIE FURCHE · 9 14 Diskurs 2. März 2023 ZEITBILD Umstrittene Wahl in Nigeria ALSO SPRACH „ Das ist der Anfang eines neuen Kapitels in unserer Beziehung. “ Sagt Rishi Sunak über das neue Nordirland-Protokoll zwischen Großbritannien und der EU. Der britische Premierminister präsentierte am Montag gemeinsam mit Ursula von der Leyen das „Windsor Protokoll“. Es sieht vor, dass zwischen Nordirland (UK) und der Republik Irland (EU) keine Grenzkontrollen stattfinden. Durch die Schaffung eines „Grünen Korridors“ sollen Zollauflagen für Lebensmittel und Medikamente wegfallen. Dafür übermittelt Großbritannien der EU in Echtzeit Daten zum Warenverkehr. Foto: APA / AFP / Michele Spatari Bola Tinubu hat die Präsidentschaftswahl in Afrikas bevölkerungsreichstem Land Nigeria gewonnen. Der Kandidat der Regierungspartei All Progressives Congress (APC) kam auf 36 Prozent der Stimmen, wie die nationale Wahlkommission mitteilte. Den zweiten Platz erhielt demnach der Kandidat der oppositionellen Demokratischen Volkspartei (PDP) mit 29 Prozent. Der Bewerber der Arbeiterpartei erhielt 25 Prozent Doch bereits vor Bekanntgabe des Wahlergebnisses sprachen die Oppositionsparteien, darunter auch die PDP und die Arbeiterpartei, von Betrug. Entgegen der gesetzlichen Vorschreibung sollen die Ergebnisse manuell ausgewertet und übermittelt worden sein. Auch Wahlbeobachter der EU beurteilten mangelnde Transparenz und eine schlechte Planung der Auswertung. Nigeria steht derzeit vor enormen Herausforderungen. Im Nordosten des Landes herrscht wegen dschihadistischer Unabhängigkeitskämpfe brutale Gewalt. Nach UN-Angaben wurden dort seit 2009 rund 40.000 Menschen getötet und zwei Millionen Menschen vertrieben. Die Inflation liegt derzeit im zweistelligen Bereich, Wasserversorgung und der öffentliche Wohnungsbau sind heruntergekommen. Bola Tinubu versprach im Wahlkampf, Nigerias öffentliche Infrastruktur zu modernisieren. (Jana Reininger) Neue Kolumne: „Erklär mir deine Welt“ Alter weißer Mann. Alter weiser Mensch? Wie kommen Menschen miteinander ins Gespräch? Wie finden sie Anknüpfungspunkte, wenn die Wahrnehmung dessen, was man „die Welt“ nennt, immer stärker auseinanderdriftet? Angesichts aktueller Krisen und „sozialer Netzwerke“ spitzt sich diese Frage zu. Mit der neuen Kolumne „Erklär mir deine Welt“ wagt DIE FURCHE den Versuch, zwei Menschen in einen Austausch zu bringen, die zwar nicht in Paralleluniversen zuhause sind (beide arbeiten u. a. für Ö1), die „die Welt“ aber schon ihres Alters wegen aus anderen Blickwinkeln betrachten: den Publizisten, FURCHE-Autor und Hörfunkpionier Hubert Gaisbauer, der bis 1989 die Abteilung Gesellschaft- Jugend-Familie sowie bis 1999 die Religion im ORF-Radio geleitet hat; und die bereits vielfach ausgezeichnete Journalistin Johanna Hirzberger, die als Redakteurin bei „Radio Radieschen“ (dem Ausbildungssender der FH Wien und der Wirtschaftskammer Wien) arbeitet und für ihre Ö1-Dokumentation „Darf’s ein bisserl weniger sein? Systemerhalterinnen: Viel Arbeit, wenig Lohn“ u. a. den Prälat-Leopold-Ungar Anerkennungspreis und den Radiopreis der Erwachsenenbildung erhalten hat. Im Wechsel werden die beiden von ihrer je eigenen Welt erzählen – und jene ihres Vis-à-Vis kennenlernen. (Doris Helmberger) Johanna Hirzberger Journalistin ERKLÄR MIR DEINE WELT Liebe Frau Hirzberger! Hubert Gaisbauer Publizist Manchmal möchte ich ein Tagebuch schreiben. Wenigstens mit einigen Aufzeichnungen dessen, was mein Leben oft so diffus bedrückt, sodass ich eine starke Neigung zum Rückzug in mir verspüre. Rückzug wohin? Ich möchte Klarheit darüber, was genau es ist, das mich so oft verstimmt. Darüber sollten mir die notierten Anlässe Auskunft geben. Gewiss: Der Krieg ist ein unfassbarer Schrecken, selbst in der entfernten täglichen Anschauung via TV. Doch das meine ich nicht. Ich meine die ganz alltägliche Sprache, die mich umgibt und die mich an den Rand der Fahrspur drängt. Mit ihrer Plapprigkeit, ihren neuen Wortschöpfungen, ihrem Abkürzungswahn. Ich gebe zu: Auch das als Nötigung empfundene übertriebene „Gendern“ gehört dazu. „ Empört euch in einem Land, in dem ein Politiker, jünger als ich, öffentlich eine ,senile Mumie‘ genannt wird. Ich wünsche mir, dass die Jungen aufstehen und sagen: So nicht und nimmermehr! “ Nichts mehr zu verlieren Aber ich werde das mit den Aufzeichnungen nicht machen. Ich möchte nicht zum Mis anthropen werden. War ich doch gerade ein „Boomer“, weil ich ohne mein Verschulden um die Vierzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts auf die Welt gekommen bin. Aber sonst bin ich mir keines Vergehens bewusst. Und dann wurde ich – wieder ohne mein Zutun – dem Verein der AWM zugeteilt, der „Alten Weißen Männer“. Alte weiße Männer kennzeichnet angeblich „das Gefühl der Überlegenheit gepaart mit der scheinbar völligen Blindheit für die eigenen Privilegien“, wie es in einem Sachbuch definiert wird. Mir erscheint es als eine subtile Form von Demütigung und Diskriminierung in Gestalt der unlauteren Verallgemeinerung, wohl wert, dass sich die Cancel Culture ihrer kritisch annehme. Oder hat George Bernard Shaw recht gehabt, wenn er vor „alten Männern“ warnte, denn „diese haben nichts mehr zu verlieren“? Böswillig hat man das Zitat auch so überliefert: „Denn ihnen ist die Zukunft egal.“ Aber nur den Alten? Ich habe einmal Unmut bei einer Veranstaltung ausgelöst, als ich meinte, dass wir auch als Junge – noch in den frühen Sechzigerjahren – ein recht unterentwickeltes Umweltbewusstsein gehabt hätten. Und wie wach sind wir heute? In wenigen Tagen gibt es wieder den Internationalen Frauentag. Seit dem Jahr 1975. Und zwar als „Tag der Vereinten Nationen für die Rechte der Frau und den Weltfrieden“. Ein unzerstörbares Zeichen dafür, dass Mut und Ausdauer zu Zielen führen. Außerdem globalisiert sich inzwischen ein neues invasives Wort – sprachlich gesehen ein Un-Wort, das mir dennoch sympathisch ist: der Wokeismus. Hat wahrscheinlich mit Wach sein zu tun. Aufgeweckt sein. Und meint auch hoffentlich genau das: Erhebt euch endlich aus dem Schlaf der Gleichgültigkeit. Vielleicht auch: Empört euch in einem Land, in dem ein Politiker, jünger als ich, öffentlich eine „senile Mumie“ genannt wird. Ich wünsche mir, dass – auch in so einem Fall – die Jungen aufstehen und sagen: So nicht und nimmermehr! Oh ja, wir Alten wären gern AWM, alte, weise Menschen – nicht nur Männer! Weise in des Wortes Bedeutung, wie es in Hölderlins schönem Gedicht an die geliebte Großmutter anklingt: „Es ist ruhig das Alter und fromm.“ Aber man lässt uns nicht. Ihr Hubert Gaisbauer Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Redaktion: Dr. Otto Friedrich (Stv. Chefredakteur), MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (Chefin vom Dienst), Jana Reininger BA MA, Victoria Schwendenwein BA, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Dr. Martin Tauss, Mag. 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DIE FURCHE · 9 2. März 2023 Diskurs 15 Was muss noch passieren, damit in der katholischen Kirche nach allem Missbrauch eine demütigselbstkritische und an der Realität orientierte Haltung zur Sexualität einkehrt? Ein Gastkommentar. Das kirchliche Kreuz mit der Sexualität Wieder einmal diskutierte man kürzlich in der katholischen Kirche die „Sündhaftigkeit“ der Homosexualität. Würdenträger einschließlich des Familienbischofs Hermann Glettler winden sich zwar etwas, wenn sie heute die Segnung homosexueller Paare befürworten – aber sie tun es, obwohl der Vatikan es ihnen im März 2021 per Dekret untersagt hatte. Unfolgsame Bischöfe? So erfrischend das wäre, so ist es für mich nur ein weiteres Beispiel der ratlosen und halbherzigen Reform kirchlicher Auffassungen zur Sexualmoral, auch wenn einzelne Länder diese im Rahmen des synodalen Prozesses vorantreiben (und prompt vatikanisch gemaßregelt werden wie die Deutschen). Beim Thema Sexualität versiegt stellenweise auch meine sonst sehr ausgeprägte Wertschätzung für Papst Franziskus. Zwar hat er sich zum Thema Homosexualität schon vor Jahren weit aus dem Fenster gelehnt, als er etwa 2013 am Rückflug vom Weltjugendtag in Rio sagte: „Wenn einer gay ist und den Herrn sucht und guten Willen hat – wer bin dann ich, ihn zu verurteilen?“ Nun aber redet auch er bei „ausgelebter“ Homosexualität wieder von „Sünde“, um gleich alles, was außerhalb der Ehe (die Homosexuellen ja nicht gewährt ist) passiert, als Sünde zu brandmarken. PORTRÄTIERT Italo-Amerikanerin als „Anti-Meloni“ Vergangenen Sonntag ist es bei der Wahl des neuen Vorsitzenden der italienischen Sozialdemokraten zu einer Überraschung gekommen. Bei dem Urnengang, an dem sich eine Million Mitte-Links-Wähler beteiligten, setzte sich die 37-jährige Abgeordnete und US-Italienerin Elly Schlein durch. Sie gewann mit 54 Prozent der Stimmen gegen den Favoriten, Stefano Bonaccini, Präsident der norditalienischen Region Emilia Romagna. Schlein will sich als „Anti-Meloni“ mit einer klaren linken Politik gegen die Rechtsregierung der seit Oktober amtierenden Premierministerin Giorgia Meloni profilieren. Zum ersten Mal in der Geschichte Italiens stehen nun zwei Frauen an der Spitze der beiden wichtigsten Parteien des Landes. Auf Elly Schlein blickt Italiens Mitte-Links-Wählerschaft mit großer Hoffnung. Als Teil der LGBTQ+-Community will sie sich für Geschlechter- und Bürgerrechtsfragen engagieren. Auch für Ökologie macht sie sich stark. wSolidarität mit Migranten, die Legalisierung leichter Drogen, ein Mindestlohn und eine Vermögenssteuer sind Schleins Prioritäten. Schlein wurde im Tessin, im italienischsprachigen Teil der Schweiz, als Tochter zweier Universitätsprofessoren geboren. Ihre Mutter, Maria Paola Viviani Schlein, ist Italienerin und lehrte Öffentliches Recht an der Universität Insubrien, ihr Vater, Melvin Schlein, stammt aus den Vereinigten Staaten und ist emeritierter Professor für Internationale Beziehungen. Die 37-jährige arbeitete Foto: Privat le zum Alphabet aller Human- und Sozialwissenschaften gehören. Ich selbst stehe radikalen Gendertheorien, wenn sie alles als rein sozial konstruiert und beliebig veränderbar postulieren, auch kritisch gegenüber. Aber die Bedeutung des sozialen Geschlechts – und auch des Unrechts an Frauen und an sexuellen Minderheiten, die es einschließt – ist doch eine lange erwiesene Tatsache. Das hat auch nichts mit „Anpassung an den Zeitgeist“ zu tun, die den deutschen Bischöfen angesichts ihrer reformfreudigen Dokumente von greisen Kurienkardinälen demütigend vorgehalten wird – als ob sie willfährige Marionetten desselben seien. DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Josef Christian Aigner „ Warum kann man nicht mit der Psychologie in Dialog treten, um toleranter und barmherziger zu werden? “ Es gibt einfach Menschen, die in kein binäres Geschlechterschema passen. Es gibt berechtigte Wünsche nach Wechsel des bei Geburt festgelegten Geschlechts; es gibt verschiedenste selbstempfundene Geschlechtsidentitäten – und ja: vieles davon wird „zeitgeistig“ durch soziale Medien zum Hype erklärt und muss auch kritisch beleuchtet werden; an der Existenz solcher Vorkommnisse ändert das aber nichts. Und es gibt einfach sexuelle Empfindungen von Heranwachsenden in ihren ersten Beziehungen, die unter „außerehelich“ fallen. Da fragt es sich: Will man jungen Leuten einen verantwortungsvollen Umgang damit vermitteln – oder eine „Ehemoral“, die einer über- Foto: APA / AFP / Alberto Pizzoli Nur eine neue Sprache? In welchem Jahrhundert leben die Herren? Der Wiener Dompfarrer Toni Faber, der auch homosexuelle Paare segnet, meinte gegenüber dem ORF, dass man um eine „andere Sprache ringen“ müsse, um solche Menschen besser zu begleiten. Ist es nur die – zum Thema Sexualität ja häufig auffallend konfabulierende – kirchliche Sprache? Oder sollte nicht auch einmal der Blick auf Fragen von Sexualität und Gender durch einen ernsthaften Dialog mit den Humanwissenschaften geschärft werden? Bekannterweise malen nicht nur die Anhänger des verstorbenen Papstes Benedikt XVI., sondern auch erzkonservative Kardinäle – und auffällig viele rechte und rechtsextreme Politiker(innen!) – gern den Teufel der „Gendertheorie“ an die Wand. Dabei wird völlig ignoriert, dass die Fragen eines sozial mit-geprägten Geschlechts, wofür Gender ja steht, mittlerweiwältigenden Mehrheit der Jugendlichen egal ist? Die Angst vor Zügellosigkeit, zu der junge Menschen „verführt“ werden könnten, ist alt, aber unrealistisch – wissen wir doch, dass die frühe Aufnahme sexueller Kontakte nach einer stürmischen Epoche der „Befreiung“ aus einer repressiven Verbotsmoral (eben!) mittlerweile zurückgeht. „Gottgegeben“ und dennoch dämonisiert Es ließen sich weitere Beispiele anführen, angesichts derer die kirchlich verordnete Sexualmoral als ein antiquiertes und oft auch menschenfeindliches Konstrukt erscheint. Die meisten Vorschriften – so auch der Zölibat – haben auch keine oder wackelige biblische Begründungen. Wenn die Sexualität „gottgegeben“ ist, warum muss sie dann derart dämonisiert werden, wie dies in der Kirchen- und Dogmengeschichte geschehen ist? Warum kann man nicht mit Anthropologie und Psychologie respektvoll in einen Dialog treten, um toleranter, minderheitenfreundlicher, ja: barmherziger zu werden? Damit die Angst vor Frauen als zweitrangige, der „Sünde“ offenbar näherstehende Wesen endlich über Bord geworfen wird; und damit Priester nicht zur Ehelosigkeit verdammt sind, sondern ihnen wie allen Menschen freigestellt wird, wie sie Sexualität verantwortungsvoll leben (doppelmoralischer Weise dürfen Einzelne das ja….). Man fragt sich – insbesondere nach mehr als einem Jahrzehnt des Auffliegens unwürdigster Missbrauchsfälle –, was noch passieren muss, damit zu Fragen der Sexualität endlich eine demütig-selbstkritische und auf die Realität gerichtete Reflexion einkehrt. Es wird doch nicht der schon von Freud benannte Grund sein, dass Menschen kaum besser zu beherrschen sind, als wenn einer ihrer zentralen Antriebe unterdrückt und durch Schuldgefühle belastet wird? Angesichts dessen, dass viele Menschen dieser Verbots- und Sündenmoral keinen Glauben mehr schenken, ja dass sie deshalb häufig die Kirche hinter sich lassen, könnte man endlich damit aufhören und zu einer offenen Form des Dialogs und der Weiterentwicklung gelangen. Der Autor ist Bildungswissenschafter und Psychoanalytiker in Innsbruck. Die 37-jährige Elly Schlein setzte sich bei der Vorsitz-Wahl der italienischen Sozialdemokraten überraschend durch. 2008 und 2012 im Wahlkampfteam des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama und wurde in den italienischen Medien mit der demokratischen US-Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez verglichen. Als Kandidatin bei den Regionalwahlen 2020 wurde sie in den Regionalrat gehievt und stieg zur Vizepräsidentin auf. Bei den Parlamentswahlen vergangenen September kandidierte sie für die Abgeordnetenkammer und schaffte den Sprung ins Parlament. Im Jänner bewarb sie sich für die PD-Führung und konnte sich durchsetzen. „Das sozialdemokratische Volk ist lebendig und bereit, sich zu erheben“, sagte Schlein nach ihrem Wahlsieg, „dies ist ein klares Mandat für einen echten Wandel“. (Manuela Tomic, APA) ZUGESPITZT QUINT- ESSENZ Von Brigitte Quint Es geht dir gut, aus Ich habe mit einer Mutter aus der Schule meines Kindes denselben Abholrhythmus. Grundsätzlich mag ich diese Frau. Doch jedes Mal, wenn ich sie frage, wie es ihr geht, beginnt sie über ihren Mann herzuziehen. Dieser scheint faul, gefühlskalt und kognitiv beschränkt zu sein. Das sagt sie nicht direkt, aber darauf läuft es hinaus. „Wie geht‘s dir?“ – „Gut und selbst?“ – „Ja, auch gut, danke.“ Unsere Konversation in der Schulaula sollte genau so verlaufen. Aus die Maus. Ich möchte höflich sein, aber ansonsten meine Ruhe haben. Mir ist es wurscht, ob sie einen Vollidioten zuhause sitzen hat. Also ihrer Meinung nach. Ich habe keine Meinung zu ihm. Mein Fall wäre er nicht. Aber ich habe auch keine Kinder von ihm ausgetragen. Was kann ich tun, damit diese Mutter checkt, dass mein „Wie geht’s dir?“ eine Phrase ist? Auf diese Frage antwortet man nicht ehrlich. Man macht gute Miene zum bösen Spiel, überspielt das Päckchen, das man zu tragen hat. Allen voran, wenn sie von einer Bekannten zwischen Tür und Angel gestellt wird. Das ist eine Handlungsmaxime, an die es sich zu halten gilt. Nur so funktioniert Gesellschaft. Das hat schon der Soziologe Émile Durkheim festgestellt. Unser Zusammenleben besteht aus Verhaltensmaßregeln, die wir von klein auf akzeptieren. Ansonsten würden wir alle durchdrehen. So lautet meine Interpretation. Wie ich auf die unerwünschte Offenheit reagiere? Indem ich kurz so tue, als würde ich die Mutter bemitleiden, um dann schnellstmöglich das Thema zu wechseln. Mein Mann rät mir ja, ihr zu raten, den Typen in den Wind zu schießen, abzuschießen. Was er natürlich nicht ernst meint. Er schätzt es, dass ich weiß, wann es angebracht ist, unaufrichtig zu sein. Eingefahren! Hypertonie, Hyperlipidämie, Adipositas, Apoplex- und Myokardinfarkt-Risiko: Mit solchen Fremdwörtern bombardieren mich meine Ärztinnen und Ärzte seit Jahren. Und dass ich mich– nebst einigen therapeutischen Segnungen, die mir die Pharmaindustrie angedeihen lässt – gefälligst ordentlich bewegen soll. So eine halbe, besser noch: eine Stunde pro Tag. Als Angehöriger eines sitzenden Berufs, der mit wenig freien Zeitressourcen ausgestattet ist, verbinde ich daher gleichfalls seit Jahren das Notwendige mit dem Gesunden und lege meine Wege in der Stadt weder mit dem Auto, noch mit dem Öffis, noch mit dem – Gott bewahre! – E-Scooter, sondern per Fahrrad zurück. Auf 40 bis 60 Minuten pro Tag komme ich da locker: Meine Ärztinnen und Ärzte (und seit Kurzem auch die Bewegungs-App auf dem Smartphone) bejubeln mich darob. Doch der Tiefschlag folgte dieser Tage: Einer Studie der Uni Cambridge nach reichen elf Minuten „gemäßigte“ Bewegung pro Tag und 75 pro Woche, um mein Krankheitsrisiko zu minimieren. Noch schlimmer: Mehr als 150 Minuten Bewegung pro Woche brächten rein gar nichts. Kann man mir sagen, wozu ich mich jahrelang für 300 Minuten und mehr pro Woche aufs Rad schwinge, wenn Gesundheit viel billiger zu haben ist? Otto Friedrich
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