DIE FURCHE · 5 18 Literatur 2. Februar 2023 „ Virginia Woolf schrieb ihren Essay 1928, FORTSETZUNG VON SEITE 17 den Jungen – all das wurde nicht berücksichtigt, es gab keine Ausschreibung mit dem Zusatz: „Pro geborenem Kind werden Ihnen jeweils 6 Jahre angerechnet, so dass sich die ausgeschriebene Altersgrenze für Sie entsprechend verschiebt.“ In meinem leeren Nest und im Besitz meiner zurückgewonnenen Zeit begegne ich immer noch den gesetzten Altersgrenzen: Ausschreibungen für Preise für junge Autorinnen und Autoren, Stipendien für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – Höchstalter 35, Höchstalter 28, Höchstalter 40. Die Jahre, die mit den Kindern verloren gingen, werden noch immer nicht angerechnet, von den Jahren, die ich brauchte, um Deutsch zu lernen, ganz zu schweigen. Sicher, die jungen Menschen brauchen ihre Chancen, auch meine Kinder sollen sich bewerben, und alte Migrantinnen sollen ihre Chancen nicht mindern, denke ich dann, ausgesöhnt mit der Wirklichkeit. Close, but no cigar. Bettina Balàka, die Herausgeberin von „Wechselhafte Jahre. Schriftstellerinnen übers Älterwerden“ lebt dann auch zu Hause ... “ als „ Ich war eines von nur zwei Kindern meiner Mutter, ich lernte mit vier lesen und verschlang Bilderbücher in der örtlichen Bibliothek, Virginia Woolf schrieb ihren Essay 1928, in jenem Jahr, in dem mein Vater auf einem Bauernhof in Dalmatien als das vierte der elf Kinder geboren wurde, die seine Mutter hintereinander zur Welt brachte. Als sie mit meinem Vater schwanger war, erkrankte sie an Malaria, die in jenen Jahren in den Sumpfgebieten im Hinterland der Adriaküste wütete. Diese Gegend war zuvor eine entlegene österreichische Provinz gewesen, später wurde sie zu einer entlegenen Provinz des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, dann zu einer vernachlässigten Provinz im sozialistischen Jugoslawien und heute ist sie eine vergessene Provinz der Republik Kroatien. Der alte Bauernhof meiner Großeltern wurde 1992 im Krieg zerstört, so dass nur noch Ruinen und rauschende hohe Pappeln entlang des Flusses, an dem einst meine Vorfahren eine Mühle betrieben, an sie erinnern. Und die Namen am Friedhof, zu dem man über die wiederaufgebaute Brücke gelangt. Zum Glück sind die Malariamücken in der Gegend ausgerottet worden. Wie weit entfernt doch England war! Virginia Woolf beginnt das 5. Kapitel ihres Essays mit der Feststellung, dass „jetzt von Frauen fast ebenso viele Bücher geschrieben (werden) wie von Männern“. Hätte meine Großmutter – Virginias Zeitgenossin – diese Zeilen damals lesen können, hätte sie vermutlich geglaubt, dass die Autorin in einer anderen Galaxie und ganz Foto: Christopher Mavrič in jenem Jahr, in dem mein Vater auf einem Bauernhof in Dalmatien als das vierte der elf Kinder geboren wurde ... “ freie Schriftstellerin in Wien. Zuletzt erschien ihr Kinderbuch „Dicke Biber“ (Leykam 2021). gewiss in einer anderen Zeitdimension lebte. Virginia Woolf konnte auf George Eliot, Jane Austen oder die Schwestern Brontë zurückblicken, auch wenn sie „Shakespeares Schwester“, die sie Judith nannte, nachtrauerte: „Sie starb jung – leider schrieb sie nie ein Wort.“ Doch das war im Elisabethanischen Zeitalter, während anderswo in der Welt noch heute, vier Jahrhunderte später, junge Frauen sterben, ohne die Möglichkeit zu bekommen, ein Wort aufzuschreiben. Meine Großmutter starb auch bald, nachdem sie ihrem elften Kind das Leben geschenkt hatte. „ Meine Herkunft wurde zunehmend zum Thema, als in meiner Heimat der Krieg begann. Bald wussten alle in meiner Umgebung über diesen Krieg Bescheid ... “ Aber auch in dieser gottvergessenen Gegend machte man Sprünge in der Zeit. Ich war eines von nur zwei Kindern meiner Mutter, ich lernte mit vier lesen und verschlang Bilderbücher in der örtlichen Bibliothek (damals waren überall Bibliotheken entstanden, dem jugoslawischen Sozialismus sei Dank), dann auch zu Hause, da meine Eltern angefangen hatten, „über die Gewerkschaft“ Bücher zu kaufen. Ihr gemeinsames Leben begann in einem baufälligen Haus, in dem es nicht einmal fließendes Wasser und natürlich keine Bücher gab, doch die neue politische Gesellschaftsordnung ermöglichte es der Arbeiterklasse, einmal im Monat Bücher zu kaufen: Enzyklopädien und Memoiren, Gedichte russischer Dichter und Andersens Märchen, die Romane der Nobelpreisträger, Piratengeschichten (die Reihe „Der Pirat von Dubrovnik“ war besonders wunderbar), britische Krimis, um Italienisch zu üben I promessi sposi und obendrein Erzählungen über Partisanen. Meine Eltern schenkten diese Schätze ihrer wissbegierigen Tochter, verwundert über ihre Leselust. Es versteht sich von selbst, dass es Bücher von Männern waren, in denen Frauen nur bestimmte Rollen zugeschrieben wurden, was in mir – das muss ich zugeben – Unbehagen erzeugte, aber mich nicht am Lesen hinderte. Meine Eltern förderten auf ihre unbeholfene Art meinen Wissensdrang, waren stolz auf meine guten Noten, ermöglichten mir das Erlernen von Fremdsprachen und schließlich das Studium der Literaturwissenschaft. Sehr lange glaubte ich deshalb, dass ich mich ausschließlich durch meine Bildung definieren könne. Die größte Überraschung erlebte ich dann in Deutschland. Obwohl ich erst mit 26 begonnen hatte, Deutsch zu lernen, schrieb ich in der neu erlernten Sprache – es war meine fünfte Fremdsprache – meine Doktorarbeit bereits mit vierunddreißig, dazwischen bekam ich ein Kind. Doch in Deutschland definierte mich plötzlich meine Herkunft, die gepaart mit meinem Geschlecht die Schnittstelle „Personal“ ergab. Ich erlebte es immer wieder, dass nach dem Kennenlernen in einer gehobeneren deutschen Gesellschaft mein Gegenüber entgegnete: „Ach, Sie sind aus Kroatien! Wie schön! Unsere Putzfrau/ unsere Kinderfrau/ unsere Haushälterin/ unsere Köchin/ unsere Zlata, ein reines Goldstück/ unsere Perle usw. – you name it – stammt auch aus Kroatien!“ Meine Herkunft wurde zunehmend zum Thema, als in meiner Heimat der Krieg begann. Bald wussten alle in meiner Umgebung über diesen Krieg Bescheid, ähnlich wie die männlichen Gelehrten in „Ein eigenes Zimmer“ alles über Frauen wussten. Jahrelang wunderte ich mich vergeblich, wieso niemand in mir eine Gelehrte sah, die in ihren Träumen durch Harvard oder Oxford schlendert und über die Poetik von Wystan Hugh Auden oder über die Semiotik in den Krimis von Agatha Christie forscht, sondern mich alle immer unfehlbar den Stichworten „Jugoslawien, Balkan, Krieg, Gastarbeiter, Personal“ zuordneten. Wieso mir außerdem so wenige zutrauten, dass ich über den Krieg möglicherweise etwas besser Bescheid wusste als sie. Auch das ist eine Wohltat des Alters: Inzwischen wundere und ärgere ich mich nicht mehr. Der Hase aus der Fabel Close, but no cigar. In einer meiner feministischen Phasen hatte ich einen Essay über die Konstruktion des Geschlechts auf dem Jahrmarkt verfasst. Die Jahrmärkte hatten sich als eine thematische Fundgrube erwiesen: Schlangenfrauen, Wahrsagerinnen, Bauchtänzerinnen, Tarzane und Frankensteine tummelten sich dort zwischen Zuckerwatte und gebratenen Mandeln, während man an den Schießbuden pinke und hellblaue Plüschhasen gewinnen konnte. Inzwischen weiß ich, dass der Feminismus dem Hasen aus der Fabel ähnelt: Er kann noch so viele Kapriolen schlagen und Kunststücke vollführen, hin- und herrennen und allen zurufen, sie mögen seine Geschwindigkeit bewundern und diese anerkennen, die langsam kriechende Misogynie mit ihrem Panzer aus Machtanspruch und ihrer Beständigkeit wird dennoch immer als Erste durchs Ziel gehen. Das bedeutet nicht, dass der Feminismus aufgeben sollte. Er sollte die Fabel wechseln und zur Krähe werden, die so lange Steinchen in den hohen Wasserkrug wirft, bis das Wasser so weit aufsteigt, dass sie es mit ihrem Schnabel durch die schmale Öffnung des Kruges aufsaugen kann. Woraus sollen die Steinchen bestehen? Aus den aktuellen verbitterten Debatten darüber, welche Minderheit benachteiligter ist? Frauen sind keine Minderheit. Aus den neu formulierten Antworten auf die uralte Frage, was eine Frau zur Frau macht? Bestimmt nicht. Im Essay von Virginia Woolf gelten die Abhandlungen über das Wesen des Frauseins zu den Beispielen einer auf Macht ausgerichteten Wissenschaft, die zur Bestätigung der Überlegenheit jener Forscher diente: „Sie waren im roten Licht der Emotion geschrieben worden und nicht im weißen Licht der Wahrheit.“ Ähnlich emotional verlaufen die Diskussionen auch heute – und dienen vermutlich ebenfalls persönlichen Bestätigungen, auch wenn sie heute nicht nur von Männern ausgetragen werden, sondern im Wirbel des „Unbehagens der Geschlechter“. „Ist Ihnen bewußt, daß Sie vielleicht das am häufigsten abgehandelte Tier des Universums sind?“, fragte Virginia Woolf ihre imaginären Leserinnen im Jahr 1928, nachdem sie im Katalog des Britischen Museums die von Männern verfassten Titel über Frauen durchgesehen hatte. Zu den ihr wichtigen Themen „Frauen und Armut“ und „Frauen und Literatur“ fand sie jedoch nichts Aufschlussreiches. Nichts ist schwieriger abzustreifen als eine von außen übergestülpte Identität. Die Diskrepanz, die zwischen der jugoslawischen patriarchalischen Gesellschaft und meinem jugendhaften Streben nach Bildung klaffte, war weniger bedrückend als die Diskrepanz zu meinem späteren Dasein als Frau, Mutter, Literaturwissenschaftlerin und Autorin in Deutschland, wo die Etiketten „Ausländerin“ und „Migrantin“ meine Individualität zu ersticken drohten. Diese aufgezwungene Identitätszuschreibung, die ich noch immer mit mir herumschleppe, abzuwerfen, betrachte ich als eine wichtige Altersaufgabe. Ich möchte mit dem Enthusiasmus meiner Jugend, aber mit dem Wissen von heute, ganz ungehindert und undefiniert nur noch ich sein, guten Wein trinken und ab und zu eine Zigarre paffen. Wechselhafte Jahre Schriftstellerinnen übers Älterwerden. Hg. von Bettina Balàka. Leykam 2023 192 S., geb., € 24,50 Erscheint am 27. Februar
DIE FURCHE · 5 2. Februar 2023 Literatur 19 Der Roman „Die Schwestern Vatard“ von Joris-Karl Huysmans erschien 1879. Der Schriftsteller erzählt darin die Geschichte zweier Schwestern im Arbeitermilieu von Paris. Allen Widerständen zum Trotz kämpfen sie um Selbstbestimmtheit und Lebensglück. Die tiefen Schichten von Paris Von Ingeborg Waldinger In den späten 1870er Jahren, noch während der Arbeit am Roman „Die Schwestern Vatard“, schrieb Joris-Karl Huysmans: „Wenn ich für dieses Buch nicht ins Gefängnis komme, gibt es keinen Gott!“ Die Einschätzung fußte wohl auf der eben gemachten Erfahrung mit seinem Debütroman „Marthe. Geschichte einer Dirne“. Der Autor hatte das Buch auf eigene Kosten in Brüssel veröffentlicht, in Frankreich war es wegen „Verletzung der öffentlichen Moral“ zunächst beschlagnahmt worden. 20 Jahre zuvor hatten Baudelaires „Blumen des Bösen“ und Flauberts „Madame Bovary“ die Gerichte beschäftigt; die Grande Nation pochte auf Sittenstrenge. Huysmans‘ Folgeroman, „Die Schwestern Vatard“ (1879), spielt im Arbeitermilieu und lässt die Welt der Dirnen und Ehebrecher ebenso aufblitzen wie jene der nicht „Salon“-fähigen Kunst; auf dem Index landete das Buch indes nicht. Nun liegt der Roman in der sorgfältigen, stimmigen Neuübersetzung von Gernot Krämer auf Deutsch vor. Der Band schließt mit einem Selbstporträt von Huysmans ‒ als fingiertes Interview mit sich selbst, in dem er den Part eines Kritikers übernimmt. Eng mit Émile Zola und seinem Kreis Joris-Karl Huysmans (1848-1907) wurde als Sohn eines holländischen Künstlers und einer französischen Lehrerin in Paris geboren. Der Vater starb früh, die Mutter heiratete ein zweites Mal. Nach abgebrochenem Jusstudium arbeitete Huysmans über 30 Jahre im Innenministerium. Seine literarischen Anfänge standen im Zeichen des Naturalismus. Die Phase in der Médan-Gruppe um Émile Zola währte nicht lange. Schon bald wandte Huysmans die pseudowissenschaftliche Dokumentation des Naturalismus auf die Sphären des Artifiziellen an, etwa auf die künstlichen Paradiese von „Gegen den Strich“. Doch auch der überreizte Ästhetizismus dieses Kultbuchs der Décadence oder der Okkultismus des Romans „Tief unten“ blieben Etappe. Huysmans Weg führte schlussendlich zum Katholizismus – und zeitweise ins Kloster. Er wurde Laienbruder bei den Benediktinern. Für den Roman „Die Schwestern Vatard“ (gewidmet seinem Mentor Zola) konnte Huysmans aus vertrautem Milieu schöpfen. Foto: imago / Photo12 Wie dem Nachwort des Übersetzers zu entnehmen, wuchs der Autor über der Buchbinderei des Stiefvaters auf. Nach dem Tod der Mutter erbte er den Betrieb, verkaufte seine Anteile aber später. Der Lärm der Maschinen hatte ihn ebenso begleitet wie die Gesänge der Belegschaft während der Nachtschicht. Mit einer solchen Szene eröffnet auch der Roman: Es geht hoch her, in der Pariser Buchbinderei Débonnaire & Cie. Die Arbeiterinnen und Arbeiter halten sich mit Scherzen und Liedern vom Vaterland oder der Liebe wach. Am frühen Morgen klingelt endlich der Lohnbeutel, auch für die Schwestern Vatard: Désirée, die emsige 15-jährige Spitzbübin, und die ältere Céline, fidel und ausschweifend. Beide wohnen bei den Eltern. Der Vater huldigt einem genügsamen Müßiggang, die Mutter dämmert als Pflegefall dahin. Désirée kümmert sich um den Haushalt, Céline um ihre Amouren. Das wahre Liebesglück bleibt für beide Chimäre, die Pragmatik trägt einen schalen Sieg davon. Joris-Karl Huysmans Kompromisslos in seinem Schaffen wandelte der Pariser Schriftsteller (1848‒1907) mit seinen Werken oft am Rande der Sittenwidrigkeit. Eine naturalistische Detailversessenheit war ihm eigen . „ Seine Stärke sind die Schilderungen der populären Vergnügungsstätten, der großen Boulevards und Läden – und die atmosphärisch dichten Skizzen des Arbeiteralltags. “ Das ist im Grunde die Handlung. Auf ihr liegt, wie von Huysmans‘ Zeitgenossen teils bemängelt, nicht der Fokus dieses Romans. Seine Stärke sind die synästhetischen Schilderungen der populären Vergnügungsstätten, der großen Boulevards und Läden – und die atmosphärisch dichten Skizzen des Arbeiteralltags, der wunden Herzen, der Gewalt an Frauen, der von Alkoholismus und Krankheit geprägten Tristesse der Vorstädte. Die Kritik würdigte zwar das Talent des Autors, zeigte sich aber verstört ob der derben Ausdrücke bzw. der Komposition und Drastik mancher Bilder, etwa des Westbahnhofs (alter Name des Bahnhofs Montparnasse): „Der Himmel dehnte sich wie ein riesiges ekzemisches Chorhemd, dessen Zipfel da und dort von Feuernägeln gehalten wurden. Ein Geruch von verbrannter Kohle, glühendem Eisenguss, Qualm und Ruß, Wasserdampf und Schmieröl wehte herauf. (…) Zwei Lokomotiven rangierten, fauchten, pfiffen, suchten ihren Weg. Die eine spazierte gemächlich umher, rülpste Funkengarben aus dem Schornstein, pisste kleine Spritzer, ließ tropfenweise Kohlenglut aus ihrem geöffneten Unterleib fallen. Dann hüllte roter Dampf sie (…) ein, ihr klaffender Mund glühte, und vor dem gleißend hellen Kessel bewegte sich ein Schatten, bückte sich, richtete sich wieder auf, stopfte das Maul des Tieres mit Schaufeln voller Torf. Es knurrte und brüllte lauter, der runde Bauch schwitzte, und das Klackern der Schaufel im stählernen Mund tönte heller durch das Grunzen seiner Flanken.“ Die Technik als wildes Tier – dieser Metaphorik bediente sich später Émile Zola in seinem Roman „La bête humaine“. Am Puls der Zeit Huysmans beschäftigte sich zeitlebens auch mit der Kunst (seine Ahnengalerie weist einige Maler auf). Er verfasste Kritiken zu den jährlichen „Salons“, den offiziellen Pariser Kunstausstellungen – zusammengefasst im Buch „L’Art moderne“. Die Kunst ist auch in seinem literarischen Werk präsent. Der Autor plädierte für einen unakademischen, zeitgemäßen Stil und ein kompromissloses Künstlertum. Im Roman „Die Schwestern Vatard“ verkörpert Célines Geliebter, der Maler Cyprien Tibaille, dieses Ideal. Seine Passion für die lasterhafte, mitunter morbide Sinnlichkeit der Dirnen ließe sich als Hommage an den von Huysmans verehrten Dichter Charles Baudelaire lesen. Mit den „Schwestern Vatard“ setzte Joris-Karl Huysmans einen frühen Meilenstein in seinem höchst ambivalenten Werk, das naturalistische Detailversessenheit, rauschhafte Décadence und Spiritualität meisterhaft verbindet. Und das mit den Romanen „Der Oblate“ und „Lourdes“ seinen Abschluss findet. Die Schwestern Vatard Roman von Joris-Karl Huysmans Aus dem Franz. von Gernot Krämer Friedenauer Presse 2021 272 S., kart., € 20,60 GANZ DICHT VON SEMIER INSAYIF Poetische Porträts und lyrische Erforschungen Geflecht aus Porträts“ nennt Luca Manuel Kieser sein Manuskript, in dem er mit seinen Gedichten poetisch-dokumentarische Porträtskiz- „Ein zen von Menschen zeichnet, denen er, im Rahmen eines spartenübergreifenden Kunst- und Kulturprojektes, in der Stadt St. Pölten begegnet ist. Es sind Gedichte, die Menschen spürbar machen, die aus Ländern wie zum Beispiel Tschetschenien, der Ukraine oder Syrien kommend, in einer für sie fremden Stadt gelandet sind. Frauen und Männer, Junge und Alte, Väter, Mütter und Kinder werden an verschiedenen Orten, wie am Spielplatz oder auf einer Parkbank, gezeigt. Eine Art Beschreibungspoesie, die wir zu lesen oder zu hören bekommen. An einer Stelle heißt es: „die Hose der Gürtel das Top selbst die Haarklammer und die Perlen / am Handgelenk alles schwarz und nur das Logo der Nikes / die mal weiß-violett waren glitzert und um ihren Mittelfinger / windet sich eine Schlange aus Gold.“ Es sind Ausschnitte aus 17 Leben in ebenso vielen Gedichten; allesamt ungereimt und ungebunden, nahe an Prosagedichten. Immer wieder gelingt es mit einer unvorhersehbaren poetischen Wendung zu überraschen: „und passend zur blauen Leine treten ihr / an den Händen die Adern hervor / als wären es über die Ufer tretende Ströme.“ Streng im Außen bleibende Beobachterperspektiven, kombiniert mit direkten Stimmerfahrungen (auch Dialektales kommt vor), kreieren ein poetisches Kaleidoskop vom Menschsein in der Fremde. Der Begriff „Begegnung“ scheint im Gedichtband „darhöhung. elmsfeuer – wir zwischen du und ich“ im Zentrum zu stehen. Mechthild Podzeit-Lütjen unternimmt abstrahierte kollektive Untersuchungen in Form von Betrachtungen, Kontemplationen und Reflexionen mit variierenden ästhetischen Grundmustern, etwa Fragestellungen: „glaubst du dass du das non plus ultra / der wahrheit gesichtet hast – …“ oder poetische Beschreibungen: „viele bruchstellen bilden eine decke oder / narbenlandschaft täglich tasten füsse / schnittstellen ab …“ Oder beschwörende Erkenntnisse: „alles wird ein zuhause wenn man genügend oft / daran denkt …“ Es sind 133 Gedichte, allesamt ungebunden und ungereimt, in 22 Kapiteln versammelt. Begegnungen von einem Ich zu einem Du und vom Menschen an sich zu den Phänomenen und Dingen der diesseitigen Welt, verbunden mit der Erfahrbarkeit eines dadurch entstehenden Dazwischen und eines erahnten Darüberhinaus. Namen aus der Literatur und Kunst tauchen in Form von Zitaten oder Nennungen auf. Eine zentrale und auch materiell konkrete Begegnung stellen die abgebildeten Kunstwerke dar. Ein Stickbild der Mutter und 31 Gemälde des Vaters korrespondieren mit den Gedichten und bezeugen eine intensive Beziehungsgeschichte. In den Verszeilen begegnet man immer wieder äußerst anregenden und geheimnisvollen sprachlichen Wendungen, die das eigene Denken zu öffnen vermögen. Im Gedicht mit dem Titel „du, ein letztes mal“ heißt es: „du belichtest / was die zeit auffrisst“. „ganz dicht“ stellt Lyrik jeweils vor einem Dicht-Fest in der Alten Schmiede vor (nächster Termin: 14.2.2023). darhöhung. elmsfeuer – wir zwischen du und ich Gedichte von Mechthild Podzeit-Lütjen edition lex liszt 2022. 236 S., kart., € 22,00
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