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DIE FURCHE 02.02.2023

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DIE FURCHE · 5 10 Gesellschaft 2. Februar 2023 Am 3. August 2022 schrieb Martin Tauss in „Brutal bestrahlt“ über Erkennungsmerkmale von Hauptkrebs, auf furche.at. Foto: iStock / Patarapol Prasit Von Alexander Greiner Franz* ist Skifahrer, Fußballer, Tennisspieler und Trainer. Er kennt viele Menschen – und sie kennen ihn. 2018, als er die Diagnose „Prostatakrebs“ erhält, entscheidet sich der sonst so offene und mitteilsame 70-Jährige freilich zu schweigen. „Ich wollte mich vor Gerüchten schützen“, erzählt er. Zu groß war die Sorge vor einem vorschnellen „Todesurteil“ durch Außenstehende. So wie Franz geht es vielen krebserkrankten Menschen. Gerade unter Männern ist das Tabu groß. Dabei gilt Prostatakrebs mit 26,7 Prozent bei ihnen als häufigste Krebserkrankung. Zudem erkranken Männer generell häufiger an Krebs als Frauen: Insgesamt 41.775 Menschen haben 2019 eine Krebsdiagnose erhalten, 54,4 Prozent aller Neuerkrankungen entfielen dabei auf das „starke Geschlecht“. Gleichzeitig sprechen Männer deutlich seltener darüber: Von den etwa 4000 Patient(inn)en und Angehörigen, die von der Österreichischen Krebshilfe jedes Jahr beraten werden, sind nur 22 Prozent männlich. Zu Prostatakrebs haben sich 2021 österreichweit gar nur 263 Menschen beraten lassen, obwohl die Zahl der Neuerkrankungen 22 Mal so hoch liegt. Streben nach Arbeit Dabei bringe ein offener Umgang im nahen Umfeld meist Erleichterung, weiß Sonja Hrad, klinische Psychologin und Psycho-Onkologin in der vom Wiener Gesundheitsverbund betriebenen Klinik Favoriten. Doch oft benötigten Patient(inn)en eine gewisse Zeit, um geeignete Kommunikationswege für sich festzulegen. Auch während Franz’ Erkrankung wissen vorerst nur seine Frau und sein Bruder Bescheid. Die Neuigkeiten sind auch für die beiden Angehörigen belastend, aber beide stehen ihm bei: Seine Frau begleitet ihn zu ärztlichen Gesprächen – und sein Gedankenverloren 25 Prozent der Österreicher(innen) haben noch nie eine Krebsvorsorgeuntersuchung wahrgenommen, so eine Studie des IMAS International. Die Bevölkerung wünsche sich externe Erinnerungen und Anreize. Über Krebs zu sprechen, fällt schwer. Dabei ist die Krankheit längst nicht mehr so tödlich wie einst. Eine Analyse zum Weltkrebstag am 4. Februar. Worte für das Undenkbare früher selbst an Krebs erkrankter Bruder weiß meist das Richtige zu sagen. Wie sehr sich das Sprechen über Krebs im Laufe der Zeit verändert hat – und wie sich zuvor als privat klassifizierte Themen ins Öffentliche verschieben können, hat Bettina Hitzer erforscht. Die Medizinhistorikerin an der freien Universität Berlin schrieb 2020 im Buch „Vom Lob der Offenheit“ über den Kontrollverlust, der mit der Krebsdiagnose einhergeht. „Offenheit kann auch eine Demonstration der Stärke sein“, so Hitzer. An den Anspruch, souverän über die eigene Erkrankung zu sprechen, sei freilich oft das Streben nach „ Die herabgesetzte Arbeitsfähigkeit steht im Konflikt zu den Ansprüchen der Leistungsgesellschaft, die nur wenig Raum für Schwächen und Pausen lässt. “ möglichst unterbrechungsfreiem Weiterarbeiten geknüpft. „Leistungsfähigkeit ist ein großes Thema bei Krebs“, weiß auch Sonja Hrad. Viele Patient(inn)en würden durch die Neben- und Folgewirkungen von Krebstherapien belastet, besonders durch Fatigue, eine anhaltende Erschöpfung und Antriebslosigkeit. Die Arbeitsfähigkeit sei deutlich herabgesetzt. Das steht freilich im Konflikt zu den Ansprüchen einer Leistungsgesellschaft, die nur wenig Raum für Schwäche, Krankheit und unproduktive Pausen lässt, ergänzt Medizinhistorikerin Hitzer. Auch das grundsätzliche Verhältnis zum Tod spiele hier herein: Während dieser vor 150 Jahren noch allgegenwärtig war, wurde er ab dem späten 19. Jahrhundert zunehmend verdrängt. In ärztlichen Ratgebern sei bis weit ins 20. Jahrhundert empfohlen worden, Patient(inn)en tödliche Diagnosen zu verschweigen. Begründet wurde dies durch den Anspruch, die Erkrankten vor Angst, Hoffnungslosigkeit und damit einem qualvollen Sterbeprozess zu schützen. Um Hoffnung zu bewahren, wurde notfalls gelogen. Offen Tacheles geredet wurde meist nur, wenn die Erkrankten besondere wirtschaftliche Verantwortung trugen und ein Nachlass geregelt werden musste. Im Nationalsozialismus wurde tödlich kranken Menschen überhaupt jeder Lebenswert abgesprochen. Die Angst vor dem Sterben wurde als Prüfung für den „mutigen deutschen Menschen“ angesehen, so Hitzer. Nach 1945 galt Angst weiterhin als irrational und potenziell tödlich. Erst in den 1960er-Jahren änderte sich diese Sichtweise hin zu einem neuen Anspruch auf Offenheit gegenüber den eigenen Gefühlen. Angst zu verdrängen, wurde fortan eher als unehrlich und schädlich betrachtet, Gespräche hingegen als hilfreich. Doch die reale Praxis hinkt diesem Wertewandel hinterher. Das große Schweigen hält sich bei vielen bis heute. „Krebs ist eine Erkrankung, die jahrtausendelang meist tödlich verlief“, sagt Sonja Hrad, „aber in den vergangenen Jahrzehnten haben wir massive Fortschritte erzielt, nicht nur medizinisch, sondern auch interdisziplinär.“ Therapiemöglichkeiten haben sich verbessert, die Überlebenswahrscheinlichkeiten sind gestiegen. Die neuesten Zahlen hat Monika Hackl, Leiterin des Nationalen Krebsregisters, bei der Präsentation des Österreichischen Krebsreports im Jänner 2023 bekannt gemacht: Bei Hoden-, Schilddrüsen-, Prostata- und Brustkrebs mit guter Prognose liegt die Überlebenswahrscheinlichkeit drei Jahre nach Diagnosestellung mittlerweile zwischen 90,6 und 96,6 Prozent. „Ist Krebs überhaupt noch ein Tabu?“, fragt Psycho-Onkologin Hrad vor diesem Hintergrund. Das Tabu schwindet Die Praxis zeigt: ja. Wie speziell krebserkrankte Männer zur Annahme psychologischer Beratung motiviert werden können, hat Oliver Bayer, Epidemiologe und Versorgungsforscher an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, im Rahmen einer Studie unter dem Titel „WAG-ES!“ von Juni 2021 bis Mai 2022 untersucht. Zum Einsatz kamen Flyer, Infofilme und -material, Freizeitveranstaltungen und die Webseite „Gut gegen Kopfkino“. Beschäftigte der Krebsberatungsstellen haben im Rahmen der Studie zudem mit Ärzt(inn)en in Kliniken gesprochen, um sie über die Angebote der Krebsberatung zu informieren und zur Zuweisung zu bewegen. Sein Fazit: Die Erst- und Folgegespräche bei der Beratung sind deutlich häufiger geworden, auch der Männeranteil ist gestiegen. Bayer erhofft sich durch diese und ähnliche Maßnahmen einen Wandel im männlichen Umgang mit Krebs. Er ist überzeugt: Psychologische Begleitung und Selbsthilfegruppen können krebserkrankte Personen dabei unterstützen, passende Ausdrucksweisen für das zu finden, wofür es oft keine Worte gibt. Wie entlastend gerade in diesen Situationen der Austausch ist, weiß auch August Thalhammer von der Prostatakrebs-Selbsthilfegruppe am Ordensklinikum Linz der Elisabethinen – und selbst Betroffener. „Die Teilnehmer sind froh über den offenen Umgang in der Gruppe, vor allem vor einer Operation“, erzählt er der FURCHE. Auch der leidenschaftliche Sportler Franz* hat sich innerhalb eines Jahres nach seiner Diagnose gegenüber seinem weiteren Umfeld geöffnet – und dabei immer wieder erlebt, wie schwer das Sprechen anderen Männern fällt. Durch das Brechen des Tabus sei es ihm selbst aber leichter gefallen, seine Erkrankung anzunehmen, erzählt er. Umso mehr rät er auch anderen, sich nicht nur umfassend zu informieren und ärztliche Zweitmeinungen einzuholen, sondern auch die eigenen Sorgen und Ängste mit anderen zu teilen. *Name von der Redaktion geändert Der Autor ist Buchautor, „Patient Empowerer“ und moderiert das „Herrenzimmer“ für krebserkrankte Männer der Österreichischen Krebshilfe.

DIE FURCHE · 5 2. Februar 2023 Bildung 11 Der akute Arbeitskräftemangel macht die langjährige Forderung nach einer attraktiveren Berufsbildung bzw. Lehre noch dringlicher. Bloße Imagemaßnahmen werden aber nicht reichen. Nötig ist auch ein kritischer Blick auf (Bildungs-)Hierarchien. Ein Gastkommentar. Höherbildung als „Wahn“? Von Lorenz Lassnigg Bereits seit einigen Jahren erhält die berufliche Bildung mehr Aufmerksamkeit – in Europa wie auch im internationalen Raum (OECD). Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen – Stichwort Digitalisierung und Wissensökonomie – erfordern eben auch einen Zuwachs an Kompetenzen. Von einem „Wettrennen zwischen Bildung und Technologie“ ist vielerorts die Rede – ein Rennen, in dem die Technologie gewinnt und die Bildung hinterherläuft. Dabei zeigen Analysen zur ökonomischen und sozialen Polarisierung und Spaltung (etwa in den USA) seit langem, dass sich junge Hochgebildete besser anpassen – und folglich gewinnen. Die notwendige Steigerung der Kompetenz sollte jedoch nicht (allein) mit der Notwendigkeit weiterer „Akademisierung“ verwechselt werden (vgl. dazu die Kolumne von FURCHE-Herausgeber Wilfried Stadler – „Berufsbildung muss neu gedacht werden“ –, in FURCHE Nr. 3). Auch nach Ansicht der OECD kann diese Kompetenzerweiterung nicht bloß durch mehr Hochschulabschlüsse erreicht werden, sondern nur durch einen „richtigen Mix“ an Qualifikationen. Alle Qualifikationsebenen – auch die in der gesellschaftlichen Hierarchie niedriger angesiedelte Berufsbildung – müssen folglich zur allgemein erforderlichen Kompetenzerweiterung beitragen. Die schwierige Frage ist, welche Kompetenzen in welchem Ausmaß für diesen Mix notwendig sind. Dabei erweist sich die Berufsbildung, die zwischen der Pflichtschule und der Hochschule angesiedelt ist, in ihren nationalen Ausprägungen als extrem vielgestaltig: Sie reicht von einem Sammelbecken von Dropouts am „unteren Ende“ über respektierte „mittlere“ Abschlüsse bis zu hochqualifizierten Bildungsgängen an der Grenze zur Hochschulbildung am „oberen Ende“. Das erschwert die internationale Diskussion und Forschung. Paradigmatisch ist hier der jahrzehntelange leidenschaftliche „ Die Lehrlingsausbildung ist in Österreich am unteren Ende der Hierarchie angesiedelt. Es ist daher völlig rational, im Zweifel die höheren Schulen zu wählen. “ Kampf Deutschlands für das „Duale System“ zu nennen – gegen die angelsächsische Abwertung der Berufsbildung (noch dazu mit Teilzeit-Schule). Sein publizistisches Echo findet dieser Kampf in Begrifflichkeiten wie „Akademisierungswahn“ oder „Akademisierungsfalle“. Doch mittlerweile ist die Kombination von Arbeitspraxis mit formaler schulischer Ausbildung auf allen Ebenen des Bildungswesens international und europaweit anerkannt. Kanada ist etwa gerade dabei, ein Lehrlingssystem neu aufzubauen, das im Hochschulwesen angesiedelt ist. Bevor wir näher auf Österreich blicken, ist freilich ein Grundgedanke wichtig: Es ist heute unbestritten, dass Bildung in die Strukturen der sozialen Differenzierung (Hierarchien, Ungleichheiten etc.) eingebunden ist. Die Universitäten sind mit den gesellschaftlichen Eliten verbunden – und tragen immer noch zur Bildung und Vereinheitlichung einer globalen Elite bei. Entsprechend der Gesellschaft sind die Bildungssysteme sozial zwischen oben und unten abgestuft, wie schon in den Bezeichnungen „hoch“ und „höhere“ zum Ausdruck kommt. Diese Hierarchie und die damit gebotenen sozialen und ökonomischen Vorteils-Nachteils-Differenziale können stärker oder schwächer ausgeprägt sein. Als Faustregel gilt: je größer die Differenziale, desto stärker der Drang in die höheren Bereiche. Dieser Drang „von unten“ wird (von den bestehenden Eliten) gerne als „fehlgeleitete Bewertung“ apostrophiert, aber er ist vollkommen rational und wird versuchen, sich auch gegen Widerstände durchzusetzen. Alle verfügbaren Indikatoren zeigen auch Vorteile der Hochschulen gegenüber der Berufsbildung – wenngleich auch die Hochschulen nicht ohne Probleme sind. Der langen Rede kurzer Sinn: Die österreichische Struktur ist besonders hierarchisch ausgeprägt. Als hiesige Besonderheit wurde in der Berufsbildung der sekundären Oberstufe die Differenz zwischen den Höheren Schulen und der Lehrlingsausbildung aufrecht erhalten; damit Foto: iStock/pablo_rodriguez1 ist die Lehrlingsausbildung besonders deutlich am unteren Ende der Hierarchie angesiedelt. Es ist daher kein „Wahn“, sondern vollkommen rational, im Zweifel die höheren Schulen zu wählen. Wer hat, dem wird gegeben Neben der ungleichen Chancenverteilung ist auch die bestehende Kompetenzentwicklung problematisch. In der Forschung ist belegt, dass das Beherrschen der in internationalen Vergleichserhebungen (etwa PISA) gemessenen Grundkompetenzen wichtig ist. Nach diesen Messungen sind die Kompetenzen in Österreich aber klar nach der Bildungshierarchie abgestuft – mit sehr schlechten Werten für die Lehrlingsausbildung. Das ist weniger ein „Selektionsproblem“ (wie gerne behauptet wird), sondern das Ergebnis der differenziellen Bildungsangebote, was auch als „Qualifikations-Paradox“ bezeichnet wird: Je mehr Kompetenzen schon vorhanden sind, desto mehr wird in die zusätzliche Kompetenzentwicklung investiert. Beginnend im frühkindlichen Bereich, wird das in der Oberstufe vollends deutlich, wo die Kompetenzen der 15/16-Jährigen durch Die Kolumne „Berufsbildung muss neu gedacht werden“ (19.1.23) von FURCHE- Herausgeber Wilfried Stadler können Sie unter diesem QR-Code bzw. auf furche.at nachlesen: Lehre ohne Reform „Zwar wird über die staatliche Reformresistenz geredet, aber die Reformresistenz in der von der Wirtschaftskammer dominierten Lehrlingsausbildung ist noch viel größer“, meint Bildungsforscher Lorenz Lassnigg. PISA erfasst sind. Im weiteren Verlauf beginnt die „Matthäus-Logik“ neu: Wer schon hat, dem wird gegeben. Zwar wird allenthalben über die Reformresistenz des staatlichen Sektors geredet, aber die Reformresistenz in der von der Wirtschaftskammer dominierten Lehrlingsausbildung ist noch viel größer. Der Unterschied zeigt sich auch im Vergleich zu Deutschland und der Schweiz: Während in Österreich der Kompetenz-Zuwachs in den letzten Jahren durch die Zunahme der Höheren Schulen erfolgte, musste dies in den beiden anderen Systemen innerhalb der Lehrlingsausbildung stattfinden, indem sich ein großer höherqualifizierter Sektor herausbildete, der auf der Matura aufbaut, bzw. als Unterbau der Fachhochschulen fungiert. Letzteres war auch ein Thema bei der Gründung unserer Fachhochschulen, wurde aber als „irreal“ abgeschmettert. Auf diese Weise wurde die Bildungshierarchie aufrechterhalten – und die Lehrlingsausbildung ganz klar am unteren Ende fixiert. Durch bloße Image-Kampagnen lässt sich dies nicht ändern. Der Autor ist Experte für berufliche Bildung am Institut für Höhere Studien (IHS). Die innere Stimme stärken In der neuen FURCHE-Feature-Interviewreihe geht es um das Thema Identität. Im vermeintlichen Zeitalter des Individualismus wird die innere Stimme immer wichtiger. Aber was ist das innere Ich und wie lernen wir, darauf zu hören? Der Psychologe Tobias Glück erklärt im Gespräch mit FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic, wie man die innere Stimme stärkt. furche.at/chancen

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