DIE FURCHE · 31 14 Literatur 1. August 2024 In seinem neuen Buch „Eine Arbeiterin“ porträtiert der französische Soziologe Didier Eribon das Leben seiner Mutter und thematisiert die gesellschaftliche Rolle alter Menschen. Die Unerbittlichkeit des Alterns FORTSETZUNG VON SEITE 13 Es ist Nacht, Marlow erzählt im Dunkeln von einer Finsternis, die im krassen Gegensatz zur proklamierten Aufklärung, dem enlightenment, steht. Die Erzählung von Fortschritt und dem ständigen Mehr an Zivilisation verkehrt sich in ihr Gegenteil. Conrad dreht der Aufklärung das Licht ab, oder besser: Er zeigt, sie hat keines. Das, was die Europäer für Aufklärung halten, führt de facto in die Barbarei. Das schreibt Conrad am Anfang des 20. Jahrhunderts. Heute wissen wir, wie die Reise weiterging. Auskunft in der Literatur „Es gibt keine Rechtfertigung des Rassewahnes, weder eine theoretische noch eine politische“, schreibt Hannah Arendt sechs Jahre nach der Schoa 1951 in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, „will man daher das Entsetzen begreifen, aus dem er entstand, so wird man sich Auskunft weder bei den Gelehrten der Völkerkunde holen dürfen, da sie ja von dem Entsetzen gerade frei sein mußten, um mit der Forschung überhaupt beginnen zu können, noch bei den Rassefanatikern, die vorgeben, über das Entsetzen erhaben zu sein, noch schließlich bei denen, die in ihrem berechtigten Kampf gegen Rassevorstellungen aller Art die verständliche Tendenz haben, ihnen jegliche reale Erfahrungsgrundlage überhaupt abzusprechen. Joseph Conrads Erzählung ‚Das Herz der Finsternis‘ ist jedenfalls geeigneter, diesen Erfahrungshintergrund zu erhellen, als die einschlägige geschichtliche oder politische oder ethnologische Literatur.“ LITERATURTIPPS: Herz der Finsternis. Jugend. Das Ende vom Lied Erzählungen von Joseph Conrad. Aus dem Englischen von Manfred Allié S. Fischer 2007 Fahrt ins Geheimnis Joseph Conrad Eine Biografie. Von Elmar Schenkel Fischer Taschenbuch 2015 Die Ringe des Saturn Eine englische Wallfahrt Von W. S. Sebald Fischer Taschenbuch 1997 Ein Bild von Afrika Essays von Chinua Achebe Alexander Verlag 2000 Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft Von Hannah Arendt Piper 2023 Mehr zu Conrads Lebensgeschichte lesen Sie in der nächsten FURCHE von Manuela Tomic. Zudem gestaltet sie von 5. bis 10. August auf Ö1 zu Conrads Denken, Lesen und Schreiben die „Gedanken für den Tag“. Von Ingeborg Waldinger FEDERSPIEL Didier Eribon Mit seinem Werk „Rückkehr nach Reims“ wurde der Soziologe, Autor und Philosoph (*1953) auch im deutschsprachigen Raum bekannt. Auf Du und Du Früher war es nur das „unmögliche Möbelhaus“: Das Ikea-Du war unkonventionell, irgendwie schräg und jedenfalls sehr skandinavisch, das Versprechen einer großen Familie, ein Hauch nordischer Exotik, mit der man sich anfreunden konnte. Inzwischen unterliegt das Duzen einem regelrechten Gruppenzwang. In öffentlichen Anreden ist das höfliche Sie, Resultat bürgerlicher Emanzipation im 19. Jahrhundert, einem infantilen Du gewichen, das offenbar für jugendlich, flott und antihierarchisch gehalten wird. Mit dem Bürger, dem Fahrgast kommuniziert man so aber nicht auf Augenhöhe, sondern von oben herab, mit dem pädagogischen Zeigefinger. Die Wiener Linien tun sich hier besonders hervor: Verhaltensregeln für den öffentlichen Raum sind im Ton der Verkehrserziehung für Kinder gehalten. Vielleicht liegt es ja an mir, dass solche Belehrungen meine Kooperationsbereitschaft unverzüglich gegen null sinken lassen. Vielleicht bin ich einfach allergisch gegen diese Art hemdsärmelig-munterer Bevormundung. Da ist zum Beispiel der sympathische Innsbrucker Haymon Letztendlich sei er nur zweimal in Fismes gewesen: beim Umzug seiner Mutter ins dortige Pflegeheim und am Tag danach. Mit diesem Bekenntnis eröffnet der französische Schriftsteller und Soziologe Didier Eribon das Buch über seine Mutter: „Eine Arbeiterin. Leben, Alter, Sterben“. Madame Eribon war längst verwitwet, als Alter und Gebrechlichkeit ihrer Selbstständigkeit ein Ende setzten. Optionen gab es wenige, denn aus Reims wollte sie nicht fort. Vier Söhne suchten eine Lösung. Sie fanden sie in Fismes, einem Städtchen nahe Reims. Oft werde er sie besuchen, versprach Didier der Mutter. „Tu verras, tu seras bien“ – „Du wirst sehen, es wird dir gut gehen“, waren seine Abschiedsworte gewesen. Hilflose Floskeln des Trosts und der „gegenseitigen Täuschung“, er musste an Jean Ferrats gleichnamiges, bitterironisches Chanson denken. Denn nichts wird gut, man zieht nicht vorübergehend ins Altersheim. Didier Eribon sah seine Mutter nicht wieder. Sie starb wenige Wochen danach. Wie in seinem Werk „Rückkehr nach Reims“ verschränkt der Autor auch diesmal soziologische Analyse und (auto)biografische Erzählung. Und auch diesmal dockt er in seinem Herkunftsmilieu, der Arbeiterklasse, an. Jahrzehntelang war er auf Distanz zu dieser Welt gegangen. Erst nach dem Tod des Vaters nahm er den Faden zur Mutter neu auf. Wer war diese Frau, die nie über Gefühle und Wünsche sprach, und nur selten über ihr Leben? Kindheit im Waisenhaus, mit vier- zehn Schulabbruch; Dienstmädchen, Putzfrau, dann zwanzig Jahre am Fließband einer Glasfabrik. Schließlich Entlassung in den Vorruhestand, aus wirtschaftlichen Gründen. Und darüber hinaus? Ihr politisches Abdriften nach rechts, Verlag, der sich vor einiger Zeit eine neue Kommunikationslinie zugelegt hat, inklusive Genderstern, Triggerwarnung und intim zupackender Ansprache des Publikums. Auf seiner Website verspricht der Verlag „Geschichten, die dir unter die Haut gehen, und solche, die dich wie ein Faustschlag treffen“: „Du wirst in das Innenleben von Autor*innen eindringen. Du wirst deinen Träumen und Alpträumen begegnen. Du wirst dich selbst dabei neu kennenlernen, dich erden und neu erfahren …“ Da möchte man doch gleich mit sich selber per Sie werden! So zartfühlend die Haymon-Leute sonst sind, der Gedanke, dass man exzessives Duzen als Respektlosigkeit, ja als Übergriff empfinden könnte, kommt ihnen offensichtlich nicht. Oder vielleicht doch: In der persönlichen Korrespondenz bleiben sie sicherheitshalber beim Sie. Die Autorin ist Germanistin und Literaturkritikerin. Foto: Getty Images / AFP / dpa / Arne Dedert zugleich ihr romantischer Stolz auf den – nie gesehenen – Gitano-Vater; ihre Aufopferungsbereitschaft, um den Söhnen eine Bildung zu ermöglichen; eine unglückliche Ehe und, nach dem Tod des herrischen Ehemanns, das Strohfeuer einer späten Liebe. Der Fokus dieses Mutterbuches liegt auf der Unerbittlichkeit des Alterns. Was bedeutet es, „ins Altersheim zu ,müssen‘“? Empathisch und zugleich schonungslos fächert Eribon die psychosozialen Aspekte dieser brutalen Zäsur auf. Das schließt die Dilemmata der Kinder und deren Entscheiderrolle mit ein. Viel schwerer wiegen freilich die Seelennöte der Heimkandidaten (und -insassen). Vernünftig zu sein, sich mit dem „Moment der Unausweichlichkeit“ arrangieren zu müssen, bedarf enormer Stärke. Eribons Mutter schöpfte diese Kraft aus besagter Romanze, doch nach deren Ende ging es rapide bergab: körperlicher Verfall, Gefangenschaft im Pflegebett, Selbstaufgabe, Erlöschen des Lebenswillens. Alter als Manko „ Die grausame Abhängigkeit von einer unterfinanzierten ‚totalen Institution‘, der allmähliche Verlust der Würde und der einsame Tod – all diese Dramen schildert Eribon mit viel Empathie. “ Von Daniela Strigl Die grausame Abhängigkeit von einer unterfinanzierten „totalen Institution“, der allmähliche Verlust der Würde und der einsame Tod – all diese Dramen schildert Eribon mit viel Empathie und verankert das Schicksal der Mutter im soziokulturellen Kontext. Wie gehen wir mit der Hilfsbedürftigkeit alter Menschen, mit dem Sterben um? Den Jungen fehle es an Einfühlungsvermögen, den Alten an Kraft zum Lobbyieren und der Politik an Moral. Auch die Philosophie denke das Alter zu wenig mit, was deren Gültigkeit relativiere. Der Autor untermauert seine Systemkritik mit einer Art weiterführender Leseliste. Ganz oben firmieren, neben seinen eigenen Werken und jenen Pierre Bourdieus, etwa Simone de Beauvoirs „Das Alter“ oder Norbert Elias’ „Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen“. Eribons persönliche Erfahrungen und soziologische Reflexionen rütteln auf. Schade nur, dass sein Mutterbild mitunter stark durch sein Selbstbild überblendet wird. Insbesondere da, wo es um die kulturelle Entfremdung des „Klassenwechslers“ geht: Brauchte es tatsächlich den Hinweis auf die gegensätzlichen Lektüren von Mutter und Sohn? Hier der Supermarktlesestoff der Arbeiterin, da der hehre Kanon des Akademikers? „Meine Mutter hatte ein feines Gespür für die kulturelle Illegitimität dessen, was sie las […].“ Brauchte es tatsächlich die Erklärung, dass ihr „die ,Dispositionen‘ und ,Kompetenzen‘“ fehlten, um die Bände von Marx und Engels, den Roman von Camus oder die Autobiografie von Sartre aufzuschlagen, die sich im Regal des studierenden Sohns aneinanderreihten? Der Leser begreift auch so, dass Aufstieg durch Bildung – ein schon von Annie Ernaux genau sezierter Prozess – für Eribons Mutter nie vorgesehen war. Eine Arbeiterin Leben, Alter und Sterben Von Didier Eribon Aus dem Französischen von Sonja Finck Suhrkamp 2024 272 S., geb., € 25,70
DIE FURCHE · 31 1. August 2024 Ausstellung & Literatur 15 Die Ausstellung „Über Tourismus“ im Architekturzentrum Wien stellt sich beherzt der Komplexität eines globalen Phänomens. Die Daten lage lässt kaum Illusionen zu, dankenswerterweise werden auch Alternativen zum touristischen Raubbau aufgezeigt. Vom Reisen und seinen Folgen Von Isabella Marboe Tourismus ist ein wachsender Wirtschaftszweig. Angebot erzeugt Nachfrage, ständig werden neue Wünsche geweckt. Der Preis dafür ist hoch und reicht über die allerorts diskutierte Flugscham weit hinaus. Unerschrocken stellt sich die Ausstellung „Über Tourismus“ im Architekturzentrum Wien (AzW) der komplexen Thematik. Die beiden Kuratorinnen Karoline Mayer und Katharina Ritter untersuchen das globale Phänomen in acht Kapiteln und beginnen beim Reisetrend „Öfter, weiter, kürzer“. Der Städtetrip übers Wochenende gehört längst zum westlichen Lebensstil. Tourismus verursacht acht Prozent des weltweiten CO₂-Ausstoßes, davon entfallen 40 Prozent auf den Flugverkehr. Die Zahl der Flugbewegungen stieg von 41.612 im Jahr 1970 auf 319.945 im Jahr 2019. Doch die Ausstellung verharrt nicht in Schockstarre, sie zeigt auch alternative Strategien. Man könnte ohne Auto in den Alpen urlauben, zielführender sind politische Maßnahmen. Frankreich hat im Mai 2023 Inlandsflüge für alle Strecken, die per Zug in 2,5 Stunden zurückzulegen sind, verboten. „Reise“, „Hotel“, „Stadt“, „Dorf“, „Sonne“, „Natur“, „Alm“, „Plan“: Groß stehen diese Wörter auf bunten Bannern in Leitfarben über den Kojen der Ausstellung. Die Gestaltung durch das Büro ASAP (Pitro Sammer) nimmt Anleihe an Ferienmessen, wo sich Urlaubswütige quer über alle Kontinente durch ein breites, zielgruppengerecht aufbereitetes Angebot wühlen können. Sie sind didaktisch bestückt: Eine Seite zeigt Entwicklung und Folgen, die andere alternative Möglichkeiten, die als „gute Reisen“ gekennzeichnet sind. Die raumbildenden Stellwände aus Holz lassen sich leicht auseinanderschrauben und woanders wieder aufbauen. „Über Tourismus“ ist als Wanderausstellung konzipiert, das Interesse schon jetzt sehr groß. Elefant im Raum Den Folgen des Klimawandels sah die Branche bis dato kaum ins Auge. „Es ist der Elefant im Raum“, sagt Angelika Fitz, die Direktorin des AzW. Die Ausstellung tut es: Im gleichnamigen Kapitel sind KI-generierte Visualisierungen bekannter Urlaubsorte im Jahre 2100 in simulierten Szenarien fiktionaler Forschung zu sehen. Obergurgl in Tirol wird dank seiner Höhenlage über Foto: Steve Varni 2000 Metern und der Anlage neuer Hotels auf 2700 Metern mit viel Kunstschnee weiter zum Skifahren geeignet sein und noch dazu Gletscherseen haben. Der Neusiedler See könnte bis auf ein paar Lacken und Moore einfach verlanden oder landwirtschaftlich genutzt werden; wahrscheinlich für Süßkartoffeln und Oliven. Die Endzeitstimmung der ausgetrockneten Seelandschaft könnte auch „Dark Tourism“ boomen lassen. Der mächtige Grenzzaun zu Ungarn, der vor Klimaflüchtlingen schützen soll, macht den Steppensee für diese Zielgruppe noch interessanter. Lignano ist im Jahr 2100 eine Insel im Mittelmeer, Jesolo und Caorle sind unter dem Meeresspiegel verschwunden, Paris hat rechtzeitig vorgesorgt und den Boulevard Périphérique schrittweise zu einer grünen Promenade gemacht. „Wie können wir einen Tourismus imaginieren, der nicht zerstört, wovon er lebt?“ ist eine entscheidende Frage: Die Ausstellung zeigt, an welchen Stellschrauben sich drehen lässt, um den ökologischen Fußabdruck beim Urlaub zu minimieren. Dabei stellt sie auch so manches Vorurteil richtig und das eigene Selbstbild infrage. So werden exemplarisch Alltag und Urlaubsgewohnheiten zweier Klischeefamilien und eines Pensionistenpaares auf ihren ökologischen Fußabdruck hin untersucht und verglichen. Familie Gruber – Eltern Mitte vierzig, zwei Volksschulkinder, eine Hündin aus dem Tierheim – wohnt autofrei im Altbau in Wien-Neubau, fährt mit dem Rad, heizt mit Fernwärme, isst vegan und kauft bei einer Food-Cooperative ein. Im Urlaub fliegt man für zwei Wochen nach Costa Rica, um dort Meeresschildkröten zu retten. Familie Huber – die Eltern Ende dreißig, die Kinder im Teenageralter – lebt im Zu viel Einige der am schlimmsten von Kreuzfahrtschiffen betroffenen Städte haben schon reagiert. Bilder wie dieses gehören der Vergangenheit an. Seit August 2021 dürfen Kreuzfahrtschiffe einer bestimmten Größe nicht mehr durch Venedig fahren. „ Die Ausstellung stellt kritische Fragen, gibt faktenbasierte Antworten und bringt vor allem vermeintliche Sicherheiten, Feind- und Freundbilder ordentlich ins Wanken. “ geerbten Einfamilienhaus mit Öltank aus den 1970er Jahren. Der öffentliche Verkehr ist im niederösterreichischen Speckgürtel längst versiegt, man braucht zwei Autos und kauft günstig im Supermarkt ein. Mit dem größeren Auto fährt die Familie auf Urlaub nach Jesolo, vierzehn Tage lang, all-inclusive. Trotz politisch unkorrekter Lebensweise steigt sie summa summarum in der CO₂-Gesamtbilanz besser aus, weil ihr Urlaub mit 0,84 Tonnen CO₂ pro Person zu Buche schlägt, während die Reise nach Costa Rica mit 8,16 Tonnen CO₂ bilanziert. „Über Tourismus“ stellt kritische Fragen, gibt faktenbasierte Antworten und bringt vor allem vermeintliche Sicherheiten, Feind- und Freundbilder ordentlich ins Wanken. Etwas Besseres lässt sich zu einer Ausstellung kaum sagen. Über Tourismus Architekturzentrum Wien Bis 9. September 2024 Museumsplatz 1, 1070 Wien www.azw.at Lesen Sie auch „Massentourismus: Einheimische steigen auf die Barrikaden“ von Manuel Meyer (10.7.2024) auf furche.at. LEKTORIX DES MONATS Freundschaft unter widrigen Umständen Buchpreis von FURCHE, Stube und Institut für Jugendliteratur Code Name Verity Von Elizabeth Wein Aus dem Engl. v. Petra Koob-Pawis dtv 2024 464 S., geb., € 17,50 Von Kathrin Wexberg Teil der Gestaltung von Texten kann sein, aus welcher (meist fiktiven) Situation heraus sie erzählt werden: beschaulich im Lehnsessel am Ende eines erfüllten Lebens, an die Nachkommen gerichtet, oder auch mitten im Geschehen in Form von Briefen. Diese Erzählhaltung ist im ersten Teil des US-amerikanischen Jugendromans ebenso ungewöhnlich wie drastisch. Denn seine Erzählerin „Verity“, so der Codename einer jungen britischen Spionin, sitzt im von den Nazis besetzten Frankreich in Gestapo- Haft und wird unter Folter gezwungen, aufzuschreiben, was sie weiß. Damit werden die Lesenden mit einer raffinierten Form des unzuverlässigen Erzählens konfrontiert. Denn natürlich wird in einem solchen Text auf falsche Fährten geführt, werden Dinge in einem bestimmten Licht dargestellt und Geheimnisse verraten, die ja vielleicht gar keine sind. Die Erzählstimme hat dabei einen ebenso trockenen wie treffenden Tonfall, mit dem sie auch die Grausamkeiten der Haft kommentiert. Und jenes Schicksal vorwegnimmt, das ihr bewusst ist, denn als Spionin kann nicht einmal die Genfer Konvention sie retten: „Vielleicht sterbe ich in aller Ruhe an einer Blutvergiftung und komme so um die Kerosinbehandlung herum.“ Ergänzt wird ihr subjektiver Bericht durch andere Textsorten wie Telegramme oder Briefe. Der zweite Teil des Romans wird schließlich von „Kittyhawk“ erzählt, der Pilotin des Flugzeuges, mit dem die beiden Freundinnen abgeschossen wurden. Sie hat ebenfalls überlebt und wird von der Résistance versteckt; nach und nach erfährt sie, was mit „Verity“ passiert ist. Die Raffinesse der Komposition des im Original bereits 2012 erschienenen Textes liegt nun darin, dass lange offenbleibt, Foto: Wikepdie/Bundesarchiv, Bild 101I-751-0067-34 / Kropf (cc-by-sa) wie sich die beiden Teile zeitlich zueinander verhalten. Erst nach und nach werden sie zueinander- beziehungsweise eigentlich ineinandergeführt, als schließlich „Kitty hawk“, eigentlich Maddie, „Veritys“ Aufzeichnungen zu lesen bekommt. Im Nachwort legt die Autorin, selbst Pilotin, offen, was ihr beim Schreiben wichtig war: Bei aller historischen Recherche ging es nicht darum, eine gute geschichtliche Darstellung zu schaffen, sondern vielmehr „eine gute Geschichte“. Das ist ihr in vielerlei Hinsicht gelungen: Während die beiden Hauptfiguren durch ihre Resilienz überzeugen, changieren viele der anderen Figuren zwischen gut und böse. Seinen atemberaubenden Höhepunkt findet der Text schließlich in einer letzten Begegnung der beiden Freundinnen und einer Entscheidung, die ein Leben beendet.
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