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DIE FURCHE 01.08.2024

DIE

DIE FURCHE · 31 12 Diskurs 1. August 2024 ZEITBILD Unruhen in Venezuela Foto: AFP / Juan Barreto IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Vom Antisemiten zum „Judenknecht“ Von Niklas Perzi Nr. 29, Seite 2 Der Juliputsch 1934 der Nationalsozialisten wird von Niklas Perzi auf die Bundesländer Salzburg, Steiermark, Oberösterreich und Kärnten reduziert und mit deren „traditionell deutschnationaler und protestantischer Einfärbung“ begründet. Dazu möchte ich eine Ergänzung zum Selbstverständnis des „katholischen Ständestaates“ anbringen, dessen Abwehrkampf gegen den Nationalsozialismus in dem Artikel eingehend gewürdigt GLAUBENSFRAGE wird. Gegen die 1918 von nahezu allen Parteien angestrebte Angliederung von Restösterreich an das Deutsche Reich entfaltete Dollfuß ein Gegenmodell und zelebrierte ein neues „Österreich-Bewusstsein“, das gezielt bei der „Gegenreformation“ anknüpfte, der „größten Leistung“ der Habsburger. Die Gegenreformation figurierte als Metapher für den Anti-Hitler-Kurs des Ständestaates. Mit deren Vollender Ferdinand II. wurde Dollfuß, der „Märtyrer“ jenes Abwehrkampfes, verglichen. Die katholische Konfessionalisierung des öffentlichen Lebens bestärkte unter den Protestanten ein antikatholisches Elitebewusstsein, das dazu führte, dass einzelne Pfarrämter Propaganda für den Anschluss an Hitlerdeutschland betrieben und als „Trutzprotestanten“ (so Kurt Schuschnigg) den Abwehrkampf des Ständestaates torpedierten. Es gab freilich auch andere Protestanten, die (Ant)Wort für diesen Sommer In Venezuela halten die landesweiten Proteste nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl vom vergangenen Sonntag unvermindert an. Seitdem strömen täglich tausende Menschen auf die Straßen, um mit Märschen und wehenden Fahnen von Präsident Nicolás Maduro die Anerkennung seiner Wahlniederlage zu fordern. „Was wir hier bekämpfen, ist ein Betrug des Regimes“, sagte Oppositionsführerin María Corina Machado und rief zu friedlichen Protesten auf. Ihr Kandidat Edmundo González habe mehr als doppelt so viele Stimmen wie Maduro erhalten, so Machado, die sich auf 90 Prozent der zugänglichen Wahlergebnisse stützt. Die Regierung bezeichnet die Demonstrationen dagegen als Putschversuch. Maduro warf der Opposition vor, Gewalt zu schüren. Die Proteste begannen vergangenen Montag, nachdem die Wahlbehörde des südamerikanischen Landes bekanntgegeben hatte, dass Maduro mit 51 Prozent der Stimmen eine dritte Amtszeit antritt. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation „Foro Penal“ wurden seither mindestens elf Menschen bei Zwischenfällen im Zusammenhang mit der Wahl oder den Protesten getötet. Die internationale Gemeinschaft reagiert besorgt. Viele Länder haben Venezuela aufgefordert, die Auszählung der Stimmen öffentlich zu machen. Die USA erwägen laut Insidern aufgrund mangelnder Transparenz sogar Sanktionen. (Manuela Tomic/apa) sich mit dem Ständestaat arrangierten und den von diesem geforderten Beitritt zur „Vaterländischen Front“ leisteten. Dieses Bekenntnis zu einem „christlichen Staat katholischer Prägung“, der wichtige Früchte der liberalen Verfassungsbewegung missachtete, ist den Protestanten aber grundsätzlich schwergefallen und belastete deren Integration. Prof. Karl W. Schwarz, Villach/Wien wie oben Besten Dank für diesen Artikel über Engelbert Dollfuß. Offensichtlich werden sein Einsatz und der seines Nachfolgers, Dr. Kurt Schuschnigg, für die Unabhängigkeit Österreichs so gut wie nie erwähnt. Gerade deswegen will ich auf eine wertvolle, aber leider vergriffene Publikation hinweisen: Hans von Hammersteins „Im Anfang war der Mord. Erlebnisse als Bezirkshauptmann von Braunau am Inn und Von Ines Charlotte Knoll als Sicherheitsdirektor von Oberösterreich in den Jahren 1933 und 1934“ (Hg. Harry Slapnicka; Verlag für Geschichte und Politik, Wien 1981). Die Aufzeichnungen dieses Beamten und späteren Justizministers werfen ebenfalls ein interessantes Licht auf die Ereignisse des Jahres 1934 in Österreich. Gottfried Kühnelt-Leddihn, 6072 Lans „Frag nichts. Sag nichts. Geh mit.“ Von Oliver vom Hove, Nr. 29, S. 13 Bereits 2018 hat Herbert Lackner in seinem Buch „Die Flucht der Dichter und Denker“ die Verdienste von Varian Fry gewürdigt. Natürlich ist zu begrüßen, dass dies im Buch von Uwe Wittstock wieder geschieht. Herbert Pauli (nicht verwandt mit der im Text erwähnten Hertha Pauli) 3352 St. Peter in der Au Kostenwahrheit als Zukunftsmodell. Von Christian Reiner Nr. 30, Seite 19 Was ist das für eine Logik! Wenn der Planet überleben will, muss endlich global (ökologisch!) in Sonnenstrom aus der Wüste investiert werden, anstatt sich weiter dem Irrweg der (Kobalt-)Batterien zu verschreiben. Ing. Rudolf Belyus, via Mail Kirschen, Diamanten, Sterne, etc., und natürlich die Sieben – bekannte Slotgame-Symbole bilden das Herzstück des neuen Rubbelloses der Österreichischen Lotterien. Bis zu 100.000 Euro warten bei „Lucky 7“ Die Sieben – sie ist eine magische Zahl, deren Bedeutung zwar je nach Kontext variiert, die jedoch eine starke Faszination ausübt und in vielen Kulturen mit Glück und positiven Ereignissen in Verbindung gebracht wird. Daher ist sie auch namensgebend für das neue Rubbellos der Österreichischen Lotterien: „Lucky 7“. Das Rubbellos „Lucky 7“ bietet sechs einzelne Spiele mit der Chance auf Gewinne von bis zu 100.000 Euro sowie ein Bonus- Spiel mit „Glücksbooster“. Findet man im Bonus-Spiel dreimal das „Glücksbooster“-Symbol, hat man drei Möglichkeiten, die Chance auf einen von 137.600 Sofortgewinnen zu nutzen: Entweder über Scan des QR- Codes, oder über eine manuelle Eingabe auf win2day.at/rl, oder aber traditionell-klassisch in der Annahmestelle. Man kann mit einem Los bis zu dreimal gewinnen. Das Rubbellos „Lucky 7“ wurde mit einer Auflage von 1,2 Mio. Losen produziert und ist zum Preis von 5 Euro in den Annahmestellen erhältlich. Die Ausschüttungsquote beträgt 58,0%. Die Chance auf einen Gewinn beträgt 1:2,64. Das neue Rubbellos „Lucky 7“ mit „Glücksbooster“ und Gewinnen bis zu 100.000 Euro. Foto: Österreichische Lotterien Gloria sei Dir gesungen, Du Wort aus der Tiefhöhe, die uns im Denken und im lebendigen Herzen erreicht. Du Wort für diesen Sommer und für die anderen auch. Sei bejubelt für die Stunde im Februar oder im August 1924, da der Wundersaal der Buchstaben neu eröffnet wurde für ein Mädchen, das starb an ihrer Zeit: Selma Meerbaum-Eisinger. In der ewig währenden Olympiade der Schrecken fand sie Worte für ihr Sehnen: „Ich möchte leben. Ich möchte lachen und Lasten heben und möchte kämpfen und lieben und hassen und möchte den Himmel mit Händen fassen und möchte frei sein und atmen und schrein. Ich will nicht sterben. Nein.“ 18 Jahre jung wurde sie dem Leben entrissen als der lebendigste Beweis für das Unglück all der Existenzen, die maßgeschneiderte Tötungsmaschinen sind: Gewalt- Beseelte, die ihre Sehnsucht leben als die totale Inversion der vollkommenen Liebe. Die Fratze des Bösen verbirgt den eigentlichen Schmerz im Innersten der handelnden Person. Das Böse, so die Theologin Petra Bahr, sei der „Hinterhalt der Freiheit, der gerade da lauert, wo die Entscheidung gefragt“ sei. Ist das nicht die Hauptaufgabe der christlichen Theologien und Kirchen, sich dieser Frage anzunehmen und alles hinter sich zu lassen: Amt, Gebäude, jedwede Macht? Leben wir nicht in der Stunde der Entscheidung? Wir besitzen das zarteste, mittelbare Wissen: Die Liebe rechnet das Böse nicht zu! Eine Theologie der Hoffnung ginge, so Jürgen Moltmann, nicht vom Scheitern aus, „nicht vom Ende aller Dinge […], vom Atomtod der menschlichen Welt oder von der ökologischen Naturkatastrophe, sondern vom Anfang: vom Anfang des Lebens der zukünftigen Welt Gottes“. So werden wir wahr und werden, „den Himmel mit Händen fassen“, und Liebende werden wir sein. Gloria sei Dir gesungen, Du Antwort für diesen Sommer! Die Autorin ist evangelische Pfarrerin i. R. MUSIK IN KÜRZE ■ Wolfgang Rihm (1952–2024) Er war nicht nur einer der wichtigsten Komponisten der Gegenwart, sondern auch ausdrucksstarker Denker, Essayist und Gesprächspartner: der 1952 in Karlsruhe geborene Wolfgang Rihm. „Ich bin oft erschöpft“, meinte der Stockhausen- Schüler 2007 in einem bemerkenswerten FURCHE-Interview mit Ursula Strohal (siehe rechts). „Aber da gibt es auch diesen unerklärlichen Begriff der Gnade. Es ist immer etwas da, und es lässt sich daraus immer etwas gewinnen, was ich noch nicht kenne.“ Am 27. Juli ist er im deutschen Ettlingen verstorben. „Sein Tod reißt einen Krater in unsere Welt“, schrieb die FAZ. Foto: APA / Barbara Gindl Unter „Verstehen heißt beantworten können“ (25.10. 2007) finden Sie auf furche.at das Interview von Ursula Strohal mit Wolfgang Rihm.

DIE FURCHE · 31 1. August 2024 Literatur 13 Von Brigitte Schwens-Harrant Nellie, eine Hochseejacht, schaukelte an ihrem Anker ohne „Die das leiseste Flattern der Segel. Die Flut lief ein und es war fast windstill, und da wir flussabwärts wollten, blieb uns nichts anderes als beizudrehen und auf den Wechsel der Gezeiten zu warten.“ Was für ein Beginn. Diese Stimmung. Diese Stille. Und doch, wie sich in den nächsten Sätzen herausstellen wird, befinden wir uns nicht irgendwo inmitten unberührter Natur, sondern auf der Themse, nahe der „größten, großartigsten Stadt auf Erden“. Die ersten Sätze in Joseph Conrads berühmter Erzählung „Herz der Finsternis“ stellen sofort eine Atmosphäre her, nehmen die Lesenden mit auf die Hochseejacht, in der die Seeleute sitzen und zum Warten gezwungen sind. Das ist in der Literatur von jeher eine Situation, bei der das Erzählen einsetzt. Man denke nur an Giovanni Boccaccios „Decamerone“, der die in ein Landhaus Geflohenen einander erzählen lässt, während in Florenz die Pest wütet. So auch hier, auf dem Schiff. Denn mit einem Mal wird die Stille durch Worte unterbrochen: „‚Und auch das‘, sagte Marlow unvermittelt, ‚ist einmal einer der finsteren Orte der Erde gewesen.‘“ Ausbeutung und Brutalität Damit spricht Marlow eine Geschichtstheorie an – die im Lauf des Buches noch eine wesentliche Rolle spielen, allerdings infrage gestellt werden wird (der Glaube an die beständige Entwicklung hin zum Zivilisierten) –, aber er beginnt vor allem zu erzählen: von seiner Reise als Kapitän eines Flussdampfers in Zentralafrika, beauftragt, die Handelsstationen zu verbinden und Menschen und Güter zu transportieren. Dort wurde er Zeuge extremster Brutalitäten gegenüber den dort Ansässigen. Vor allem ein gewisser Kurtz, der offenbar ebenso charismatische wie grausame Leiter einer äußerst entfernt liegenden Station am Oberlauf des Flusses, erzwingt die Abgabe unglaublicher Mengen an Elfenbein. Marlow benennt im Lauf dieser Nacht die Ausbeutung und Plünderung der Natur ebenso deutlich wie die Brutalität gegenüber Menschen. So ein Blick auf ein menschenverachtendes und naturausbeutendes System wäre 2024 vielleicht nicht weiter erstaunlich, wobei nicht einmal das mit Sicherheit gesagt werden kann. Doch „Herz der Finsternis“ („ Heart of Darkness“) wurde erstmals 1899 im Blackwood’s Magazine in drei Teilausgaben abgedruckt und erschien 1902 als Buch. Briten und Belgier sind wie andere Länder zu dieser Zeit weltweit mit kolonialen Geschäften beschäftigt. Vor allem der belgische König Leopold II. hat, wie Urs Widmer schreibt, „den Kongo in ein Konzentrationslager verwandelt, in dem kein Recht oder nur das des skrupellosesten Freibeutertums herrschte. Die Eingeborenen wurden zu Zwangsarbeit gezwungen, gequält, gefoltert, ermordet. Tausenden wurden lebendigen Leibs die Hände abgehackt, allein weil die Compagnie ihren Beamten für jeden getöteten Rebellen eine Prämie zahlte und die Hände als Beweis forderte. Es galt nur der Profit, auf jeder Stufe der Beteiligung, und natürlich machte der skrupellose Monarch, der den Kongo zeit seines Lebens nie betrat, den größten Gewinn.“ Zwischen 1890 und 1910 starben zwischen vier und zehn Millionen Menschen im Kongo „durch Sklaverei, Mißhandlung, Aushungern oder Erschöpfung und dadurch verursachte Krankheiten“, so Conrad-Biograf Elmar Schenkel, „sie wurden erschossen, erhängt oder anders umgebracht, sie wurden verstümmelt oder verbrannt“. Vorwand Zivilisation In dieser Zeit erscheint Conrads Erzählung. Während des unvorstellbaren Wütens des belgischen Königs im Kongo thematisiert Conrad (ohne einen konkreten Ort zu nennen) diese Brutalitäten, er erzählt, wie man unter dem Vorwand, man brächte Aufklärung und Zivilisation, aus Profitgier die abscheulichsten Taten beging. 1890 hatte der amerikanische Journalist George Washington Williams einen offenen Brief an Leopold verfasst, in dem er ihm Grausamkeit vorwarf und mit dem Vor hundert Jahren starb Joseph Conrad. Mit „Herz der Finsternis“, einer seiner bekanntesten Erzählungen, thematisierte er 1899 als einer der Ersten die belgischen Gräueltaten im Kongo. Reise ins Grauen Als Józef Teodor Nałęcz Konrad Korzeniowski am 3. Dezember 1857 in Berdytschiw geboren, gilt Joseph Conrad als ein wichtiger Schriftsteller der englischsprachigen Literatur. Er starb am 3. August 1924 in Bishopsbourne. er einen Skandal auslöste. Ein Jahr später starb er 41-jährig. Ihm und Conrad folgten weitere Kritiker: 1905 Mark Twain, 1909 Arthur Conan Doyle (der Erfinder von Sherlock Holmes), vor allem aber Roger David Casement. Ihn hatte Conrad auf seiner Fahrt als Angestellter der Compagnie du Congo pour le Commerce et l’Industrie kennengelernt. Er verstand sich gut mit dem 26-jährigen Iren, der beim Bau der Eisenbahn mitwirkte und entsetzt war über die Gräueltaten, die an der Bevölkerung begangen wurden. Als britischer Konsul kam Casement später wieder und sammelte Fakten. 1904 veröffentlichte er einen Bericht, der als Anfang vom Ende des Freistaates Kongo gilt. W. G. Sebald hat ihm und Józef Teodor Nałęcz Konrad Korzeniowski, wie der 1857 in der heutigen Ukraine geborene Conrad ursprünglich hieß, in „Die Ringe des Saturn“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Zwei Jahre vor Casements Bericht erschien Conrads Erzählung; dieser war inzwischen vom Reisenden zum Schreibenden geworden. Conrad-Biograf Elmar Schenkel bezeichnet „Herz der Finsternis“ als „die erste vernichtende Kritik an der europäischen Gier nach Afrika“ und meint, dass die Vorgänge im Kongo vor allem auch deswegen in Erinnerung geblieben sind, weil Conrad über sie geschrieben hat. 1975 erscheint ein Text des nigerianischen Schriftstellers Chinua Achebe, der sich empört darüber äußert, dass ein Text wie Conrads Erzählung Eingang in den Kanon der englischen Literatur gefunden hat. Afrika diene in „Herz der Foto: Getty Images / Bettmann Lesen Sie dazu auch „Auf offener See mit Joseph Conrad“ von Anton Thuswaldner, 5.11.2020, furche.at. „ Wer hier der Barbar ist, ist sonnenklar. Es sind, anders als die damals üblichen Erzählungen einem weismachen wollen, die Kolonialherren. “ Finsternis“ als „Kulisse und Hintergrund, der den Afrikaner als menschlichen Faktor eliminiert“. Achebe hält Conrad für durch und durch rassistisch, er belegt das mit konkreten Stereotypen im Text. Die verwendeten Stereo type zeigen Conrad tatsächlich als Kind seiner Zeit, als Teil seiner Gesellschaft und des damaligen Diskurses – sie kritisch aufzuzeigen, ist für spätere Generationen in der jeweiligen Gegenwart unverzichtbar und wichtig. Sie zu sehen, hilft bei der ständig nötigen Obacht vor strukturellem Rassismus – und dieser steckt ja im Diskurs, in der Art und Weise, wie man redet, welche Bilder man verwendet, welche Zu- und welche Abwertungen man vornimmt. Die Frage, die immer neu gestellt werden muss, kann auch anhand dieser Erzählung diskutiert werden und der eigenen Selbstbefragung dienen: Wie gegen den Rassismus reden, ohne selbst rassistische Bilder zu iterieren? Toni Morrison bietet übrigens zur Auseinandersetzung mit dieser Frage mit ihrer Erzählung „Rezitativ“ einen herausragenden literarischen Text, der gerade durch das Nichtverwenden zeigt, wie sehr Stereotype prägen, und der andeutet, wie ein solches Auf- und Ausbrechen sprachlich vielleicht gelingen kann. Zweifel am System Doch Conrad hat im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen etwas gemerkt, gegen das er anschreibt. Das macht er zum Beispiel auch deutlich in der Erzählkonstruktion, er thematisiert die aufkommenden Zweifel des Erzählers am System, aus dem er kommt. Conrad führt, gängige Denk- und Sprechweisen und Bilder aufgreifend, gerade die entsetzlichen Auswirkungen des Rassismus vor Augen. Wer hier der Barbar ist, ist in seinem Text sonnenklar: Es sind, anders als die damals üblichen Erzählungen einem weismachen wollen, eindeutig die Kolonialherren. Das wird mit vielen Details berichtet. Das Grauen des Erzählers nimmt zu. Das der Lesenden auch. Conrads Erzählung ist aufgeladen mit Symbolen, diese lassen viel sehen. Um nur ein Bild aufzugreifen: die titelgebende Finsternis. Die Reise ist eine, wie es am Ende heißt, „in das Herz einer gewaltigen Finsternis“. Nun ist damit aber gerade nicht das „dunkle Afrika“ gemeint – auch das eine Umkehrung gängiger, vor allem aus Abenteuerromanen bekannter Stereotype –, sondern das Erkennen der Haltungen und Handlungen vermeintlich zivilisierter europäischer Länder. Aber die Reise führt noch weiter und tiefer. Denn gerade der Einsatz so vieler Bilder und Symbole macht aus der Reise durch ein Gelände, in dem Entsetzliches geschieht, eine Reise in die Seele: Die Reise, von der Marlow erzählt, entpuppt sich mehr und mehr als Reise ins Innere, ins eigene Grauen. Wem wird die Geschichte erzählt? Und wann? Marlow redet zu jenen, die als Seeleute mit den dargestellten kolonialen Machenschaften verwickelt sind, er hält ihnen also auch einen Spiegel vor, für wen sie da arbeiten; er spricht aber zugleich zu uns, den Lesenden. Wir sitzen im selben Boot und lauschen. Der Spiegel gilt auch uns. FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE

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